Die ewige Tafel
Kommen Sie im Frühjahr nach Campodimele, frühmorgens, wenn es noch kühl ist, obwohl sich die Sonne schon über die Aurunker Gipfel ergießt.
Sie finden das Dorf am Ende der Bergstraße, die sich schlangenlinienförmig an bewaldeten Felswänden entlang und durch frisch ergrünte Baumtunnel windet.
Parken Sie am Dorfeingang bei der Statue des Padre Pio, und wenn Sie einen Moment lang auf die Anfahrtsstrecke zurückblicken, können Sie im Talgrund die letzten Dunstschwaden abziehen sehen.
Nun nimmt man die hinter dem Dorf bergauf führende Abzweigung der Straße – der entlang die steinernen Hühnerställe stehen. Gut möglich, dass Sie dort einigen der Leute begegnen, die in diesem Buch eine Rolle spielen.
Gerardo vielleicht, der auf seinem altersschwachen Motorroller vorbeiflitzt, auf dem er nun schon so viele seiner neunundsiebzig Lebensjahre unterwegs ist. Maria, die auf ihren dreiundachtzigjährigen Beinen ihre Hennen den Hang hinaufscheucht. Oder Archimede, der seinen Ruhestand mit regelmäßigen Sieben-Kilometer-Läufen auf Bergpfaden verbringt.
Ein Stück weiter oben stößt man dann auf die Stadtmauer aus dem 11. Jahrhundert, die Campodimeles mittelalterlichen Kern, den borgo, umschließt. Direkt vor einem liegt eine überdachte Gasse, die durch diese Befestigungsmauer hindurchführt, und wenn man in die jahrhundertealten Schatten hinein- und dann irgendwann wieder daraus auftaucht, wird man schließlich auf die alte Piazza hinaustreten. Hier stehen über steinerne Treppen erreichbar mehrgeschossige Häuser, geschmückt mit roten Geranien, die kaskadenartig aus Terrakottatöpfen quellen. Schon jetzt sind die Haustüren aufgerissen, und Küchendüfte von Knoblauch, Basilikum und süßen Tomaten wehen ins Freie.
Wenn Sie am Haus mit dem Wandbild der Jungfrau Maria vorbeigehen und dann die geschwungenen Treppe hinabsteigen, liegt unter Ihnen der Hauptplatz der Stadt – wahrscheinlich bleiben Sie schon auf der ersten Stufe stehen, um die Aussicht zu genießen, die sich von steil abfallenden Rändern des Platzes bis ins Liri-Tal und zum Tyrrhenischen Meer hin erstreckt.
Sollte zufällig Mittwoch, also Markttag sein, könnten Sie auch Assunta begegnen, die womöglich gerade – aus den Zitrushainen des benachbarten Fondi stammende – Orangen kauft und deren strahlende Augen ihre dreiundsiebzig Jahre Lügen strafen. Vielleicht aber ist sie auch unterwegs, um auf den umgebenden Wiesen nach essbaren Wildpflanzen zu suchen. Oder Sie sehen Adalgesia, die den Wochenmarkt eher als geselliges Ereignis betrachtet, da sie auch mit inzwischen Mitte siebzig noch immer fast alle Nahrungsmittel für ihre Familie selbst anbaut.
Dies sind nur einige der Leute, die ich in Campodimele kennengelernt habe – jenem italienischen Dorf, das seine Besucher mit einem Schild willkommen heißt, auf dem unübersehbar sein Spitzname, ›Il Paese della Longevità‹, ›Das Dorf der Langlebigkeit‹ prangt.
Andere, darunter Wissenschaftler und Mediziner, haben Campodimele bekanntermaßen auch schon als ›Il Paese dell’eterna Giovinezza‹ – ›Das Dorf der ewigen Jugend‹ – bezeichnet oder, wie ich es bei mir noch lieber nenne, das Dorf der Ewigkeit.
Warum dies so ist? Nun, die Campomelani erfreuen sich derart guter Gesundheit und hoher Lebenserwartung, dass dies nicht nur die Aufmerksamkeit italienischer, sondern auch ausländischer Ärzte erregte.
Nach Angaben der Comune di Campodimele sind 111 von 671 Einwohnern des Dorfes zwischen 75 und 103 Jahre alt. Das heißt, dass – während ich dies hier schreibe – 16,6 Prozent der Bevölkerung über 75 sind. Die jüngsten, 2009 erhobenen statistischen Zahlen der Gemeinde zeigen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung sowohl von Männern als auch Frauen 95 Jahre beträgt. Im Vergleich dazu werden italienische Männer im Durchschnitt 77,5, italienische Frauen 83,5 Jahre alt, während in der europäischen Union die Männer im Schnitt 75,6, die Frauen 82 Jahre erreichen. Und Campodimele hat schon außerordentlich viele Hundertjährige beherbergt.
Es waren solche Berichte, die mich überhaupt erst nach Campodimele führten. Damals war ich Zeitungsjournalistin im Vereinigten Königreich und recherchierte für einen Artikel über Lebensmittel, die möglicherweise Langlebigkeit begünstigten. Und immer wieder fand ich dabei Hinweise auf ein italienisches Dorf, von dem ich noch nie gehört hatte.
Je mehr ich über Campodimele las, umso faszinierter war ich. Bei vielen seiner Bewohner mit fortgeschrittenem Alter hatten Wissenschaftler ungewöhnlich niedrige Blutdruck- und Cholesterinwerte festgestellt; die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte das Dorf im Rahmen seines MONICA-Projekts erforscht, einer Studie, für die man zur Erfassung von Entwicklungstrends bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen weltweit Kommunen untersuchte.
Mehr als diese Befunde faszinierten mich jedoch die Beschreibungen der Dorfbewohner und ihres täglichen Lebens. Journalisten, die Campodimele besucht hatten, schilderten die betagten Campomelani als außergewöhnlich rüstig für ihr Alter – porträtierten Rentner, die Fahrrad fuhren, in den Bergen Ziegen hüteten, von früh bis spät auf dem Feld arbeiteten und fast all ihre Nahrungsmittel selbst anbauten. Reporter erzählten, wie über achtzigjährige Männer sich unter der Ulme auf der Piazza mit Kartenspielen die sonnigen Nachmittage vertrieben, während ihre Frauen sich bei den Hühnerställen trafen und ihr frisch gelegtes Abendessen einsammelten.
Der Anteil an Herzerkrankungen, Fettleibigkeit und Krebs sei, las ich, in Campodimele relativ niedrig.
Die Menschen, so schien es, durften sich nicht nur über ein längeres Leben freuen als viele andere in Europa. Wichtiger noch – fand ich – war, dass sie sich offenbar auf ein gesünderes und aktiveres Alter freuen konnten als viele Menschen im Vereinigten Königreich.
Während ich in der Hektik meines großstädtischen Pendlerlebens in Großbritannien über Campodimele las, sehnte ich mich danach, auf der Dorf-Piazza zu sitzen, unter ihrer 300-jährigen Ulme Espresso zu schlürfen und mich an jener Lebensart zu erfreuen, die diesen Menschen zu einem so guten Leben verhalf. Denn, wie der irischer Satiriker Jonathan Swift einst schrieb: »Jeder möchte lange leben, aber niemand will alt sein«.
Und so bestieg ich im Herbst 2006 ein Flugzeug nach Rom und fuhr dann auf der halsbrecherischen Autostrada und den sich schlängelnden Bergstraßen Latiums weitere 160 Kilometer nach Süden, um meine eigenen Nachforschungen anzustellen.
Wie wenig ich damals über das Dorf wusste! Etwa auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel gelegen, befand es sich ungefähr dreißig Minuten von der Küste entfernt in der Provinz Latina. Auf einem Felssporn im Nationalpark der monti Aurunci taumelnd, lag es 647 Meter über dem Meeresspiegel. So viel hatte ich der Website der Gemeinde entnommen.
Meine sonstigen Vorstellungen waren von meinen jugendlichen Reisen in den Norden Italiens und jener eigentümlich romantischen Verklärung inspiriert, mit der Engländer das italienische Leben betrachten – jener goldenen Vision pastoraler Utopien und kulturreicher Städte, die von den Werken E. M. Forsters, D. H. Lawrence’ und Goethes genährt wurde. Schon der Name des Dorfes ist sinnträchtig – leitet sich vom lateinischen campus mellis, »Honigfeld« ab, denn dies war die Region, wo man einst Bienen züchtete, die den Honig an die Tafeln des Römischen Reiches lieferten.
Bei meiner Ankunft in Campodimele entdeckte ich tatsächlich das archetypisch italienische, ländliche Idyll; eine Gruppe von Steinhäusern, die hoch oben auf der sonnenverbrannten Bergspitze hockten; enge, gewundene Gassen, umgeben von türmchengeschmückten mittelalterlichen Mauern; eine Kirche aus dem 11. Jahrhundert mit hochaufragendem Glockenturm; und eine Piazza mit wahrhaft atemberaubendem Panoramablick über das darunterliegende Tal. Und überall um mich herum Evidenz für das, was mich hierhergeführt hatte – alte Bauern, die durch Olivenhaine kraxelten; alte Frauen, die Leitern bestiegen, um Trauben von den Reben an ihren Pergolen zu schneiden; Großmütter, die steile Gassen hinaufschritten und dabei auf ihren Köpfen Reisigbündel balancierten. Auch ein Herr von 103 Jahren kam mir unter, der sich eben zu seiner Mittags-Minestrone zu Tisch setzte.
Als mich Generale Aldo Lisetti, der damalige Bürgermeister von Campodimele, in seinem Büro im aprikosenfarbenen Rathaus empfing, erzählte er mir, dass die Gesundheit und Langlebigkeit seiner Wählerschaft wohl durch mehrere Faktoren gefördert werde, unter anderem die reine Bergluft und die relativ geringen Stresswerte des Landlebens. Und vielleicht, sinnierte er, erfreuten sich manche Bewohner auch einer besonderen Veranlagung zu einem langen Leben. Doch wie alle anderen Dorfbewohner, mit denen ich sprach, war auch er der Ansicht, dass es da noch einen weiteren Faktor gebe: die Ernährung.
»Frisches, saisonales Obst und Gemüse, die ohne chemische Dünge- und Insektenvernichtungsmittel erzeugt werden«, meinte Lisetti. »Und nur wenig Fleisch und Fisch, auf einfache Weise zu Hause zubereitet.« Und dieser Teil der Gleichung, nämlich was die Leute hier essen, interessierte mich am meisten, war der Faktor, der mich vor allem zu dieser Reise nach Campodimele veranlasst hatte.
Die Frage, was Italiener essen, erforsche ich inzwischen seit mehr als zwanzig Jahren auf die schönstmögliche Weise, indem ich in Italien lebe und reise, die Sprache lerne und in meiner eigenen...