I.
Was ist Macht überhaupt und was ist ein Machtmensch?
Um Machtmissbrauch zu verstehen und angemessen begegnen zu können, muss man verstehen, was „Macht“ überhaupt ist. Dieses Buch beschreibt die „dunkle“ Seite der Macht. Es gibt aber auch eine positive Seite der Macht (die wir heute klarer sehen als bei der ersten Auflage der Machtfalle). Und: Man benötigt selbst Macht, um Machtmissbrauch zu begegnen! Der folgende Abschnitt betrachtet in Kurzform das Wesen der Macht.1
1. Biblische Gedanken zum Thema Macht
Die Fähigkeit, Macht auszuüben, empfing der Mensch von Gott bei der Schöpfung: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserem Bild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle kriechenden Tiere, die auf der Erde kriechen!“ (1Mo 1,26). Der Auftrag zu herrschen ist mit der Erschaffung des Menschen als Gottes Ebenbild verknüpft. Gottebenbildlichkeit bedeutet Gottes Stellvertreter zu sein.2 Als Gottes Stellvertreter hat der Mensch den Auftrag und die Fähigkeit, Macht auszuüben. Der Mensch hat Macht, weil Gott ihn so gemacht hat. Der römisch-katholische Theologe Romano Guardini (1885–1968) betont deshalb:
Die Macht ist aus sich heraus weder gut noch böse, sondern empfängt ihren Sinn erst aus der Entscheidung dessen, der sie braucht. … So bedeutet Macht ebensoviel Möglichkeit zum Guten und Positiven, wie Gefahr zum Bösen und Zerstörenden.3
Macht ist nicht grundsätzlich negativ, auch wenn das Wort für viele einen negativen Klang hat. Manche sehen christliche Führungskultur geradezu im Gegensatz zum Führen mit Macht. Diese Aussage ist aber nur richtig, wenn man die Bedeutung des Wortes „Macht“ einengt auf die negativen Aspekte. Wenn man das Wesen der Macht richtig versteht, wird klar: Führen ohne Macht geht gar nicht.
Der Begriff „Macht“ stößt (im Deutschen!) vielfach auf Ablehnung, erst recht in christlichen Kreisen. Ein christlicher Autor wünschte sich gar eine Kirche, die aus Ohnmacht handelt.4 In einer christlichen Gemeinde meinte eine Person: „Wir wollen nicht Macht, sondern Vollmacht.“ Dies klingt demütig und geistlich – aber nur auf den ersten Blick. Die Evangelien berichten, dass Jesus Vollmacht und Macht hatte: „Was für eine Vollmacht (exousia) und Kraft (dynamis) hat sein Wort! Er befiehlt den bösen Geistern auszufahren, und sie fahren aus“ (Lk 4,36b). Das griechische Wort dynamis meint die Fähigkeit, etwas zu tun. Es wird mit Gewalt, Kraft oder Macht übersetzt. Das griechische Wort exousia meint hier die Berechtigung, die Erlaubnis, etwas zu tun, und wird dann mit Vollmacht übersetzt. Ein Bankräuber hat die Macht, das Geld zu bekommen, aber keine Vollmacht. Die bettlägerige Großmutter mag vielleicht eine Vollmacht über ein Konto haben, aber sie hat keine Macht, zur Bank zu gehen und das Geld wirklich abzuheben. Jesus hatte Vollmacht und Macht – und gab beides an seine zwölf Jünger weiter: „Jesus rief die zwölf Jünger zusammen und gab ihnen Kraft (dynamis) und Vollmacht (exousia), alle Dämonen auszutreiben und die Kranken zu heilen“ (Lk 9,1). Die Alternative „Vollmacht statt Macht“ ist also keine biblische. Vollmacht und Macht sollten wie bei Jesus und den zwölf Jüngern zusammengehen.
Aus biblischer Sicht gilt aber: Macht darf niemals Ziel an sich sein, sondern immer nur Mittel. Wer Macht als Ziel anstrebt, begeht eine Zielverfehlung und damit eine Sünde. Der Jesuit Stefan Kiechle schreibt dazu: „Wer Macht als Ziel anstrebt, sieht in ihr nicht das Geschöpf Gottes, sondern beginnt sie zu vergötzen, sich an sie zu binden und sie für fremde Zwecke zu missbrauchen.“5 Aber Macht ist so verlockend, dass man manchmal auch Macht um der Macht willen anstrebt. „Machtliebe ist wie der Geschlechtstrieb eine so starke Kraft, dass sie die Handlungen der meisten Menschen stärker beeinflusst, als sie es wahrhaben wollen“, konstatierte der englische Philosoph Bertrand Russell6 im Jahr 1938. Wer Macht als Ziel anstrebt, läuft Gefahr irgendwann machtsüchtig zu werden.
2. Machtmenschen = Machtsüchtige
Wenn wir im Folgenden den Begriff „Machtmensch“ verwenden, meinen wir dies im Sinne eines „Machtsüchtigen“. Die meisten Menschen haben gelegentlich Machtgelüste. Wer sich solchen Gedanken und Begierden kontinuierlich hingibt, kann machtsüchtig werden. Es ist ein Unterschied, ob jemand gelegentlich seine Kompetenzen überschreitet, gelegentlich seine Macht missbraucht, oder ob er machtsüchtig ist, genauso wie es ein Unterschied ist, ob man gelegentlich zu viel Alkohol trinkt oder ob man alkoholsüchtig ist. Damit soll der gelegentliche Missbrauch nicht beschönigt werden. Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zu sehen. Mancher, der in Leitungsverantwortung steht, überschreitet im Eifer des Gefechts seine Kompetenzen. Ich (Volker) habe Entscheidungen getroffen, von denen mir im Nachhinein bewusst wurde, dass ich sie mit anderen hätte absprechen müssen. Als ich darauf angesprochen wurde, tat mir dies leid und beim nächsten Mal hielt ich vorher Rücksprache.
Persönlichkeit ist die Art und Weise, wie jemand die Dinge gewöhnlich sieht, wie er normalerweise zu anderen Menschen steht und mit ihnen umgeht. Hin und wieder jemanden zu manipulieren oder eine Situation unlauter zu beeinflussen, macht noch keine manipulierende Persönlichkeit aus. Die Kontinuierlichkeit einer bestimmten Sünde wird allerdings die Persönlichkeit krank machen, wie schon Jeremia 13,23 (NLB) lehrt: „Kann ein Farbiger seine Hautfarbe wechseln oder ein Leopard sein geflecktes Fell? Genauso wenig könnt ihr auf einmal Gutes tun, nachdem ihr doch immer nur Böses getan habt.“ Wer sich daran gewöhnt hat, Macht zu missbrauchen, kann dieses Verhalten nicht einfach ablegen wie einen alten Mantel.
Definition: Machtmissbrauch – geistlicher Missbrauch
Machtmissbrauch liegt vor, wenn ein Mensch von einem anderen zu etwas genötigt wird, was er von sich aus nicht tun würde, und der Initiator davon einen persönlichen Vorteil hat. Dabei wird die Grenze der Persönlichkeit verletzt, was häufig gravierende emotionale und körperliche Folgen hat. Geschieht Machtmissbrauch im christlichen Kontext, ist möglicherweise auch der Glaube betroffen.7 Bei geistlichem Missbrauch werden vermeintlich geistliche Themen im Namen Gottes gegen Christen benutzt. Daher kann dieser nur im religiösen Rahmen auftreten und er verwundet das geistliche Leben der Betroffenen.8 Machtmissbrauch und geistlicher Missbrauch sind im Einzelfall deshalb so schwer zu erkennen, weil beide zumeist sehr subtil ausgelebt werden.
Gefahren dieses Buchs
Das Thema „Machtmenschen“ birgt drei Gefahren. Die erste Gefahr besteht darin, das Phänomen „Machtmenschen in der Gemeinde“ nicht wahrhaben zu wollen. Damit verharmlost man krankhafte Situationen. Es ist wichtig, die Dinge beim Namen zu nennen, so wie der 3. Johannesbrief es deutlich benennt, dass Diotrephes „gerne der Erste sein wollte“ (siehe II.2). Wir unterhielten uns mit einem Pastor über die Probleme in seiner Gemeinde. Ein Jahr später erzählte er, dass ihm dieses Gespräch geholfen habe, seine Position in der Gemeinde klären zu können. Auf unsere Nachfrage, was genau ihm geholfen habe, antwortete er: „Ich glaube, dass das Wort ‚Machtmensch‘ gefallen ist, hat mir schon geholfen, das, was ich erlebte, richtig einzuordnen.“
Die zweite Gefahr besteht darin, dass – zum Beispiel ausgelöst durch Bücher wie dem vorliegenden – Hetzjagden entstehen. Gewisse Leute überlegen, wer in ihrer Gemeinde wohl Machtmensch ist, und fangen an, anderen Gemeindegliedern dieses Etikett anzuheften. Eine Gemeinde hatte sich tatsächlich in zwei Lager gespalten. Beide Parteiungen waren der Meinung, die jeweils andere Partei würde Machtmissbrauch betreiben. In beiden Parteiungen wurde unser Buch „Die Machtfalle“ gelesen und dann mit dem Finger auf die andere Partei gezeigt: „Machtmensch!“ Dieses Verhalten war zwar günstig für den Buchverkauf, aber nicht in unserem Sinne. Jemanden als Machtmenschen zu bezeichnen kann selbst auch zu Machtmissbrauch führen!
Die dritte Gefahr ist, aus erlebtem Machtmissbrauch heraus Angst davor haben, Macht überhaupt zu gebrauchen. Darauf gehen wir im Schlusskapitel ein.
3. Macht als sozialer Prozess
In diesem Buch geht es um „soziale Macht“, wenn also Menschen Macht über andere Menschen haben. Wir verwenden die Definition des amerikanischen Politikwissenschaftlers Robert Dahl, die uns aufgrund ihrer Kürze und Prägnanz...