Vorwort
Trennung ist ein Thema, das man zum Ausgangspunkt einer Betrachtung unseres gesamten Seelenlebens machen könnte, ruft es doch nach seinem Gegenpol, der Bindung; diese wiederum hat mit Liebe zu tun, von der es unzählige Vorläufer und Ausformungen gibt, die alle in verschiedener Weise mit Sexualität, Zärtlichkeit, Hingabe, Begehren, Freundschaft, Selbstliebe, Leidenschaft etc. verbunden sind und wiederum zum schmerzlichen Kontrapunkt von Trennung, Verlust, Verrücktheit, Tod etc. hinüberleiten können. Trennung hat mit Entwicklung zu tun, und sie führt uns – wie die Liebe – zu den Anfängen unseres Lebens zurück und weist auf unsere Vorstellungen vom Ende unseres Lebens voraus. Trennungsängste ziehen sich in den unterschiedlichsten Nuancen und Intensitäten durch unser aller Leben: von der Geburtsangst bis zur Todesangst. Die Trennungsangst ist ein psychisches Phänomen, das im Kampf gegen die Vergänglichkeit mitwirkt, Nachkommen zu zeugen und zu gebären, sie lässt aus dem Wunsch nach Ewigkeit heraus Kunstwerke schaffen, die das eigene Leben überdauern sollen – exegi monumentum aere perennius – ein Denkmal habe ich errichtet, dauernder als Erz, sagte Horaz (Oden, 3/30/1) über seine Gedichte; und sie lässt Religionen gründen, welche die Trennungsängste absorbieren und Wiedervereinigung oder ewige Verschmelzung in Aussicht stellen.
Die Psychoanalyse ist ein Verfahren zur Erforschung und Untersuchung seelischer Vorgänge, die anders kaum zugänglich sind; sie ist eine psychotherapeutische Methode zur Behandlung seelischer Störungen und Erkrankungen; sie ist eine Wissenschaft mit einer umfassenden Theorie psychischer Funktionen, und sie ermöglicht auch einen kultur- und gesellschaftskritischen Ansatz. Die Psychoanalyse weiß viel zum Thema von Bindung und Trennung, von Trennungsangst und Trennungsschmerz und von unseren Reaktionen auf diese psychischen Phänomene zu sagen.
In der Psychoanalyse haben wir die Möglichkeit, vergangenes Erleben Gegenwart werden zu lassen, es entfaltet sich unwillkürlich in der Übertragung des Analysanden und stößt auf ein Echo in der Gegenübertragung des Analytikers, wodurch überhaupt erst fassbar wird, was aus den weiten unterirdischen Räumen des Unbewussten auftaucht.
Trennung und Bindung kann „gesund“ oder „krankhaft“ sein, beide können als „gut“ oder „schlecht“ erlebt werden; beide können Angst auslösen und so die Vorstellung einer Gefahr signalisieren. Und doch überwiegt die Angst bei der Trennung, während wir bei der Bindung eher geneigt sind, den positiven, tröstlichen und lustvollen Aspekt im Auge zu haben.
Dem Thema der Trennung – so scheint es – können wir uns nur mit Abwehr nähern. Auch der Titel des Buchs zeugt von einer solchen Abwehr: Die romantische Bezeichnung „Melodie des Abschieds“ folgt unserer Neigung, das Ausmaß und den Schrecken der Trennungsangst zu verniedlichen.1
„Melodie“ ist eine Einheit in einer Folge von Tönen verschiedener Höhe und verschiedener Intervalle; Rhythmus, Tempo, Klangfarbe, wiederkehrende Motive und Verschränkungen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Das Thema der Trennung lässt sich als eine ähnliche Einheit in unserem Erleben auffassen; es spielt sich in unendlichen Variationen ab, mit wiederkehrenden Motiven und Umformungen, es tritt in unterschiedlichen Abständen hervor und wieder in den Hintergrund, es nimmt verschiedene Färbungen und Intensitäten an, von einer zarten, sehnsüchtigen Stimmung bis zum Schrei als verzweifeltem Ausdruck existentieller Bedrohung, wie wir ihn zum Beispiel aus Edward Munchs berühmtem Gemälde heraushören.
Das Buch ist für alle gedacht, die mit Trennung befasst sind; für interessierte Laien, für Studierende der Psychoanalyse, der Psychologie, der Medizin, der Pädagogik und der Sozialberufe. Für die Ersteren sind dort, wo es nötig erschien, grundlegende Informationen eingefügt. Für Fachkollegen – und zwar sowohl für die „Theoretiker“ als auch für die „Praktiker“ der Psychoanalyse und der psychodynamisch orientierten Psychotherapien – könnte das Buch aus zweierlei Gründen interessant sein:
- Esversucht, das Problem der Trennungsangst mehr aus dem Konzept der Triangulierung heraus zu verstehen als primär aus dem dyadischen Konzept. Es geht bei den meisten Formen der Trennungsangst nicht nur um die schwierige Auflösung der Mutter-Kind-Symbiose, sondern auch um die von Beginn an wirksame Bedeutung des Dritten, des Vaters, der im Begehren der Mutter und in der Realisierung des Kindes präsent ist und für das Kind gleichzeitig zur Ursache aller störenden Ablenkungen der mütterlichen Aufmerksamkeit und der Trennungen von ihr wird. Diese ödipale Situation ist die Grundlage der Triangulierung und der aus ihr resultierenden Konflikte, die bei Trennungen von zentraler Bedeutung sind.
- Psychoanalytiker und Psychotherapeuten sind heute viel mehr als früher mit psychischen Erkrankungen konfrontiert, die als Borderline-Störungen zusammengefasst werden. Bei ihnen steht eine ungewöhnlich stark ausgeprägte Trennungsangst oft im Mittelpunkt der Symptomatik, sodass sich ein erweitertes Verständnis dieses seelischen Phänomens als nützlich erweisen kann.
Das Material, das in diesem Buch verwendet wird, stammt natürlich in erster Linie aus Psychoanalysen und psychoanalytischen Psychotherapien, aber auch aus psychologischen Beratungen. Letzteres ermöglicht ebenso wie die Tatsache, dass Psychoanalysen nicht nur zu therapeutischen Zwecken, sondern auch als Forschungsmethode und zur Persönlichkeitsentwicklung unternommen werden, dass die fließenden Übergänge gesunder und krankhafter Phänomene und Entwicklungen erscheinen. Und noch aus einer weiteren Quelle stammt manches, was hier Niederschlag gefunden hat: Persönliche Erfahrungen – eigene und solche aus der näheren Umgebung – fließen unwillkürlich mit ein, auch wenn man als Psychoanalytiker keineswegs unentwegt auch außerhalb der Praxis ans Analysieren denkt, wie es sich manche gern vorstellen, weil sie gleichzeitig fürchten und wünschen, durchschaut zu werden und den Kegel unserer Aufmerksamkeit auf sich zu richten.
Bei Fallbeispielen stellt sich immer die Frage, wie größtmögliche Diskretion gewahrt werden kann. Man hat grundsätzlich zwei Wege, die absolute Vertraulichkeit der Fallgeschichten zu schützen: Entweder man ändert Details so, dass die Person nicht identifiziert werden kann, oder man bittet die betreffende Person um ihr Einverständnis, dass ihre Geschichte mit leichten Veränderungen veröffentlicht werden kann. Eine dieser beiden Möglichkeiten habe ich in jedem Fall benützt.
Wie hilfreich für das Verständnis unseres Seelenlebens auch die Werke bedeutender Dichter und Schriftsteller sind, hat bereits Freud betont, und es kommt ebenso in der modernen psychoanalytischen Literatur (z.B. Kohon 1999a; Green & Kohon 2005) immer wieder zum Ausdruck; so schreibt Green: Die psychoanalytischen Modelle der Seele wurzeln „in der Inspiration der literarischen Größen der Vergangenheit“; er erwähnt als Beispiele Euripides, Shakespeare, Racine, Goethe, Stendhal, Baudelaire, Tschechow, Strindberg und Proust und bezeichnet sie als Lehrmeister der Psychoanalytiker – „masters of the psychoanalysts“ (XIII). „Die Literatur ist eine unerschöpfliche Quelle der Anregung unseres Denkens“ (Green 2000,283). Der Unterschied zwischen den Wahrheiten, die wir in der Dichtung und Literatur finden, und denen in der psychoanalytischen Wissenschaft besteht darin, dass Erstere da und dort wie Blitze aufleuchten, während die psychoanalytische Theorie versucht, die Zusammenhänge solcher Wahrheiten zu begreifen und sie systematisch darzustellen. Winnicott (in: Kohon 1986,173) bemerkt in seiner Arbeit „Fear of Breakdown“ einleitend: „Wenn an dem, was ich sage, etwas Wahres daran ist, wird es natürlich schon von den Dichtern der Welt behandelt worden sein, aber die Blitze von Einsicht („flashes of insight“), die in der Dichtung vorkommen, entheben uns nicht der mühseligen Aufgabe, Schritt für Schritt von Unwissenheit weg zu unserem Ziel zu kommen“.2
Wien, im Sommer 2006 | Sylvia Zwettler-Otte |
1 Die Bezeichnung „Melodie des Abschieds“ tauchte auf Internationalen Psychoanalytischen Kongressen in einer Arbeitsgruppe auf, die sich mit sogenannten „Shuttle-Analysen“ befasste: Das sind Analysen, bei denen kein reguläres Setting viermal in der Woche möglich ist und die deshalb geblockt durchgeführt werden müssen. Es sind Analysen, bei denen aus äußeren Gründen – unter dem Szepter der Realität – Trennungen von Anfang an dominieren: z.B. wenn jemand eine psychoanalytische Ausbildung machen möchte, aber in einem Land lebt, in dem es noch keine psychoanalytischen Institute und keine Lehranalytiker gibt. Es bleibt dann nur die Möglichkeit, in das nächste Land zu reisen, in dem Lehranalytiker arbeiten. Da es für die meisten nicht machbar ist, für mehrere Jahre ins Ausland zu gehen, muss man sich einen Lehranalytiker suchen, der in der Lage und bereit ist, sehr individuelle Arrangements mit dem potentiellen Kandidaten zu treffen und z.B. vier Analysestunden wöchentlich an Wochenenden bzw. von Freitag bis Montag durchzuführen, oder wochenlange analytische Arbeit (etwa während eines Urlaubs des Kandidaten) mit langen Phasen (während derer der...