LEBEN UND AUSBILDUNG IM ISLAMISCHEN WESTEN
Bewegte Jugend
Ibn Khaldūn wurde am 27. Mai 1332 in Tunis geboren. Seine Familie führte ihren Stammbaum auf einen in Hadramaut angesiedelten jemenitischen Stamm zurück, der während der islamischen Eroberung Südspaniens als Teil der jemenitischen Armee ins Land kam. Khaldūn, nach dem die Familie benannt ist, ließ sich in der kleinen Stadt Carmona nieder, die in dem Dreieck zwischen Cordoba, Sevilla und Granada liegt. Seine Nachkommen verließen Carmona und siedelten sich in Sevilla an. Das genaue Datum ist nicht bekannt. Wahrscheinlich hatte die Familie Khaldūn sich schon im achten Jahrhundert dort niedergelassen. Gegen Ende des zehnten Jahrhunderts, als die zentrale spanische Regierung in Auflösung begriffen war, nahm die Familie eine führende politische Stellung in Sevilla ein und spielte eine wesentliche Rolle in der Verwaltung der Stadt. Die Leitung der Stadt lag in den Händen der Khaldūn-Sippe und einiger anderer nobler Familien. Die Oberherrschaft gehörte zwar einem nominellen Herrscher, aber diese großen Familien übten die eigentliche Kontrolle aus. Im frühen dreizehnten Jahrhundert, als die Christen mächtiger wurden und dem Dreieck Cordoba – Sevilla – Granada immer näher rückten, hatte die Familie Khaldūn zusammen mit den anderen patrizischen Familien die alleinige Kontrolle über die Stadt. Als etwa Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Sevilla von den Christen ernstlich bedroht war, zog die Familie noch vor dem eigentlichen Fall der Stadt nach Nordafrika und ließ sich in Tunis nieder. Aufgrund früherer Beziehungen wurden sie dort am Hof empfangen, und es wurde ihnen ein Landbesitz übereignet.
Viele andere bedeutende Familien verließen Spanien, als die christliche Bedrohung zu stark wurde, und bildeten eine Art von Elite in ihrer neuen Heimat. In seiner Muqaddima erwähnt Ibn Khaldūn des Öfteren die großartigen Beiträge der spanischen Emigranten zur Kultur Nordwestafrikas. An seinen äußerst positiven Äußerungen zeigt sich, dass er, obwohl nicht in Spanien geboren, sich diesem Land tief verbunden fühlte.
Ibn Khaldūns Jugendjahre fielen in eine Zeit voller Aufruhr und politischer Umwälzungen. Die nie sehr feste Herrschaft der Hafsiden in Tunis verlor schon vor Ibn Khaldūns Geburt immer mehr an Stabilität. Am stärksten machten sich die Verfallserscheinungen in der Zeit zwischen 1347 und 1357 bemerkbar, und eine Zeitlang war die Herrschaft der Hafsiden in Tunis so gut wie nicht existent. Der merinidische Herrscher von Fes, Abū l-Ḥasan, eroberte Tunis im Jahre 1347, musste sich jedoch aufgrund von Schwierigkeiten in einem anderen Bereich seines Herrschaftsgebietes schon im folgenden Jahr wieder zurückziehen. Es brauchte einige Zeit, bis sich die hafsidische Herrschaft wieder festigen konnte. Im Jahre 1370 begann für sie schließlich eine neue Blütezeit. Einige Mitglieder der Familie Khaldūn hatten Verwaltungsposten unter den Hafsiden inne und erlitten im letzten Teil des Jahrhunderts dasselbe Schicksal wie die herrschende Dynastie. Ibn Khaldūns Großvater Muḥammad zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück, um ein religiöses Leben zu führen. Er hielt auch seinen Sohn, Ibn Khaldūns Vater, dazu an, und die beiden schlossen sich der am meisten respektierten mystischen Gruppe in Tunis an.
Über Ibn Khaldūns frühe Jugend ist bis auf einige Einzelheiten über seine Studien und seine Lehrer wenig bekannt. Ganz sicher kann man annehmen, dass in dem Haus, in dem er aufwuchs, intellektuelle Anregungen in reichem Maße vorhanden waren. Persönlichkeiten, die auf der politischen und intellektuellen Ebene im Westen der islamischen Welt führend waren, zählten zu den häufigen Besuchern. Viele von ihnen suchten und fanden bei Ibn Khaldūns Familie Zuflucht und Schutz vor erzürnten Herrschern, die versuchten, sie wegen unerwünschter Aktivitäten und Verbindungen ins Gefängnis zu werfen. In dieser Atmosphäre begann die erste Phase auf dem Bildungsweg Ibn Khaldūns. Dabei konnte er vom persönlichen Kontakt mit den Größen des islamischen Spanien und Afrika profitieren. Es war ihm auch vergönnt, bei einigen der größten Gelehrten von Marokko zu studieren, die 1347 von dem Merinidenherrscher Abū l-Ḥasan von Fes nach Tunis geholt worden waren. Als diese später wieder nach Fes zurückkehrten, folgte Ibn Khaldūn ihnen nach. Wie man aus seiner Autobiographie ersehen kann, kamen die meisten seiner Lehrer aus Spanien oder hatten enge Verbindungen dorthin.
Zu Ibn Khaldūns umfassender traditioneller Ausbildung gehörten Koran- und Ḥadīṯ-Studien, die Grundlagen der islamischen Theologie sowie die Grundelemente der Mystik und des religiösen Gesetzes. Danach kam die Phase des detaillierten Studiums dieser Disziplinen mithilfe von Kommentaren und Glossen. Auch die «rationalen» Wissenschaften wie Logik, Mathematik, Naturphilosophie und Metaphysik gehörten mit zur Ausbildung, außerdem die grundlegenden linguistischen, biographischen und historischen Kenntnisse und die Kunst, wissenschaftliche Werke zu schreiben. Ibn Khaldūn ließ sich auch in der Kunst des Schreibens von offizieller Hofkorrespondenz und der Handhabung praktischer administrativer Dinge ausbilden, da er an der Verwaltungspraxis interessiert war. Damit wurde die Grundlage für seine späteren politischen und literarischen Tätigkeiten gelegt. Ibn Khaldūns Vater, der sich auch der Wissenschaft widmete und gute Kenntnisse in der Koranwissenschaft, dem Recht, der Grammatik und der Dichtung hatte, war an der Erziehung Ibn Khaldūns aktiv beteiligt. Er wurde zusammen mit seinem älteren Bruder Muḥammad ausgebildet. Sein jüngerer Bruder, Yaḥyā, wurde später wie Ibn Khaldūn ein hochgestellter Politiker und ausgezeichneter Historiker.
Ein von Ibn Khaldūn überaus geschätzter Lehrer war al-Ābilī (1282–1356), der unter den Gelehrten war, die den Merinidenherrscher Abū l-Ḥasan nach seinem Sieg über Tunis dorthin begleitet hatten. Von ihm wurde er in den philosophischen Wissenschaften geschult. Al-Ābilī zeigte schon früh Interesse an der Mathematik, konnte aber damals dieser Neigung nicht nachgehen, da er dazu gezwungen wurde, die Stellung eines Generals anzunehmen. Er desertierte und machte sich auf zur Pilgerfahrt nach Mekka. Dabei verbarg er sich, indem er sich unter eine Schar von Bettlern mengte. In der Nähe von Tlemcen schloß er sich einem schiitischen Führer an und zog mit ihm nach Mekka und später nach Kerbela. Als er wieder im Westen war, studierte er weiterhin Philosophie und versuchte zu vermeiden, wegen seiner Mathematik-Kenntnisse zum Dienst als Hauptschatzmeister herangezogen zu werden. Er floh nach Fes und verbarg sich im Hause eines jüdischen Mathematikers namens Kallūf al-Maġīlī. Dort setzte er seine Mathematikstudien fort. Später ging er nach Marrakesch, wo er Mathematik, Philosophie und Mystik mit dem «Meister des Westens», Abū l-‛Abbās Aḥmad Ibn al-Bannā’ (gest. 1321), studierte. Bald wurde er zu einer Kapazität und einem gefeierten Lehrer in den philosophischen Wissenschaften.
Zur unruhigen Lage in Ibn Khaldūns Heimatstadt Tunis kam in den Jahren 1348 und 1349 die grauenhafte Katastrophe der Pest, die mit wütender Heftigkeit über die Stadt hereinbrach. Ibn Khaldūns Eltern und viele seiner Lehrer fielen der Seuche zum Opfer. Mit siebzehn Jahren stand er plötzlich ohne die Stütze und Führung, die er vorher so selbstverständlich genossen hatte, im Leben. Sein älterer Bruder Muḥammad wurde das Oberhaupt der Familie. Mit einundzwanzig Jahren bekam Ibn Khaldūn als Meister der Signatur (Ṣāḥib al-‛alāma) eine nicht unbedeutende Stellung am Hofe. Seine Aufgabe bestand darin, ratifizierende Formeln zwischen die Basmala und den Anfang des Textes offizieller Dokumente zu schreiben. Als Inhaber dieses Amtes wurde er mit allen wichtigen Verwaltungsangelegenheiten bekannt und war deshalb fähig, eine beratende Funktion auszuüben. Trotz dieses so guten Starts in eine Verwaltungskarriere, hatte Ibn Khaldūn nicht die Absicht, in Tunis zu bleiben, auch die Missbilligung seines älteren Bruders konnte ihn nicht davon abhalten, seine Heimatstadt zu verlassen. Während einer Kampagne gegen einen Rivalen des Herrschers von Tunis verschwand er heimlich aus dem Lager.
Turbulente Zeiten, Freundschaften und Gefahren
Die vielen Beziehungen der Familie Khaldūn auf der akademischen und politischen Ebene halfen Ibn Khaldūn auf seinem Weg in den Maghrib. Zur damaligen Zeit war Abū ‛Inān, der neue Merinidenherrscher, im Aufstieg begriffen. Wie sein Vater war er ein großer Freund der Wissenschaft. Ibn Khaldūn lernte ihn 1353 kennen, verbrachte mithilfe eines hohen merinidischen Beamten den Winter 1353/54 in Bougie und nahm 1354 die Einladung Abū ‛Ināns an, sich in Fes zu dem Kreis von Gelehrten zu gesellen, den dieser um sich versammelt hatte. Unter den Gelehrten fand zu dieser Zeit ein reger Austausch statt. Man nahm an den Kursen und Vorträgen der Kollegen teil, wann immer man wollte, und bildete sich fortwährend weiter. Ibn Khaldūns hochgeschätzter Lehrer...