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E-Book

Die Nachrichten

Eine Gebrauchsanweisung

AutorAlain de Botton
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783104033372
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die ultimative Gebrauchsanweisung für Nachrichtenjunkies Die Medien sind allgegenwärtig. Überall präsentieren uns Bildschirme eine neue Gegenwart, fordern ständig unsere Aufmerksamkeit. Sind wir einmal außer Sichtweite, zücken wir das Smartphone, damit uns nichts entgeht. Aber diese Nachrichtenflut laugt uns aus, am Ende wissen wir alles und nichts und haben jede Orientierung verloren. Mit einem Buch, das Augen öffnet und Konfrontationen auslöst, zeigt uns Alain de Botton anhand von 25 alltäglichen Nachrichten, wie diese unseren Kopf besetzen - und was wir dagegen tun können.

Alain de Botton gründete 2008 die ?School of Life? www.alaindebotton.com, da er der Überzeugung ist, dass man die verschiedenen Lebensbereiche wie Karriere, Liebe, Elternschaft usw. erlernen kann. Mit Charme, Ironie und Neugier entwickelt Alain de Botton seit seinem Romandebüt und Weltbestseller »Versuch über die Liebe« eine Philosophie des Alltags. Alain de Botton lebt mit Frau und Kindern in London. Sein Hauptwerk erscheint im S. Fischer Verlag.Literaturpreise:u.a.:Prix Européen de L'Essai »Charles Veillon« 2003Wrtschaftsbuchpreis des Jahres 2004, verliehen von der Financial Times Deutschland und getAbstract

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Leseprobe

II. Politik


Langeweile & Verwirrung


Enorme Mietschulden bei Wohngeldprogramm 

 

Gesetzesänderung zur Abtreibung abgelehnt 

 

Konfuse Bemühungen zur Wirtschaftsbelebung 

 

Urteilsspruch zur Einwanderung vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 

 

›Mangelhafte Klarheit‹ bei öffentlichen Ausgaben 

 

regelung von Waffenrechten endgültig entschieden 

 

Konservative Anti-Steuer-Gruppe erhebt Klage 

 

Interimsernennung im Berufungsverfahren 

 

Inzestuöser Kannibale in Sydney angeklagt 

 

BBC

1.


Frühmorgens und noch im Bett greift man zu einem Bildschirm und schaut nach den Nachrichten. Gleich wird es Zeit sein zu duschen und für die übliche Hektik, um pünktlich das Haus zu verlassen, aber noch bleiben ein paar Augenblicke, um im Internet zu schmökern.

Schade, heute ist wohl nichts besonders Attraktives dabei. Den ersten eher verwirrenden Titel – Enorme Mietschulden bei Wohngeldprogramm – klickt man an in der Hoffnung, dass etwas Aufregenderes dahintersteckt:

Die Mietschulden von Mietern, denen bei einem öffentlichen Pilotprojekt das Wohngeld direkt ausgezahlt wird, sind nachweislich enorm gestiegen. Ein Bezirk prognostiziert einen Verlust von 14 Millionen Pfund, sollte die neue Regelung für alle betroffenen Mieter in Kraft treten. Das Wohngeld direkt an die Begünstigten statt an die Vermieter zu zahlen soll eine entscheidende Änderung bei dem geplanten neuen Universal-Credit-Programm werden. Das Amt für Arbeit und Soziales ließ verlauten, das Experiment solle sicherstellen, dass das Programm landesweit effizient umgesetzt werde. 

Das klingt nicht viel besser. Eine Entscheidung darüber, wie die Regierung Geringverdiener mit Wohngeld unterstützen soll, ist zweifellos wichtig; ein wohlgesinntes Medienunternehmen hat Zeit und Geld investiert, um Aufmerksamkeit für die Einzelheiten dieses Förderprogramms zu erregen. Trotzdem vermag es diese Nachricht nicht so recht, Interesse zu wecken.

Dies ist nichts Ungewöhnliches. Regelmäßig sind wir mit Schlagzeilen von offenkundiger Wichtigkeit konfrontiert, die uns doch persönlich nichts angehen. Langeweile und Verwirrung sind die häufigsten, aber zugleich beschämenden und daher schnell verdrängten Gefühle, welche die Medienunternehmen moderner Demokratien mit ihren sogenannten ›ernsten‹ politischen Nachrichten evozieren.

Weiter unten auf der Liste der Schlagzeilen findet sich allerdings die Geschichte über einen inzestuösen Kannibalen in Australien, die unmittelbar eingängig ist.

Vielleicht ist man ja letztlich doch ein völlig oberflächlicher und unverantwortlicher Bürger.

2.


Doch ehe wir uns zu sehr selbst geißeln, sollten wir uns vorstellen, wie wir unter ähnlichen Umständen auf die Schlagzeile ›Russe konsultiert Rechtsanwalt‹ reagiert hätten, wenn sie der Titel der folgenden Geschichte wäre:

Drei Damen – eine alte, eine junge und eine Kaufmannsfrau – und drei Herren – der eine ein deutscher Bankier mit Ring am Finger, der andere ein Kaufmann mit Bart und der dritte ein verdrossener Beamter in Uniform, ein Ordenskreuz am Hals – warteten offenbar schon lange. Zwei Gehilfen schrieben an ihren Tischen, die Federn kratzten. Die Schreibutensilien, für die Alexej Alexandrowitsch ein Faible hatte, waren ungewöhnlich gediegen, das musste Alexej Alexandrowitsch einfach auffallen. Der eine Gehilfe wandte sich, ohne aufzustehen und mit zugekniffenen Augen, verdrossen an Alexej Alexandrowitsch.

»Was wünschen Sie?«

»Ich hätte etwas mit dem Anwalt zu besprechen.«[1]

Man stelle sich vor, die Geschichte ende an dieser Stelle abrupt, und nun würde von uns große Begeisterung und der Wunsch erwartet, unbedingt mehr erfahren zu wollen, auch wenn unklar wäre, wann ›mehr‹ berichtet würde, und das nächste Dutzend Zeilen dieser mühsamen Geschichte vielleicht erst Wochen später folgen würde!

Eher unwahrscheinlich, dass auf diese Art ein ernsthaftes Interesse an Anna Karenina geweckt würde. Dennoch werden viele der wichtigen Geschichten den Lesern präsentiert, indem man sie in einen wie zufällig ausgewählten kurzen Ausschnitt aus einer langatmigen Erzählung eintaucht, um sie dann schnell wieder herauszuziehen, ohne ihnen dabei eine Erklärung für den größeren Zusammenhang zu geben, in dem sich die Ereignisse entwickelt haben – gleich ob es um eine Wahl, eine Haushaltsverhandlung, eine außenpolitische Initiative oder Änderungen bei Fördermaßnahmen geht. Kein Wunder, dass wir uns langweilen.

3.


Wir stehen viel zu nah davor. Um ein Beispiel aus der Kunst zu geben: Es ist, als sollten wir die Augen ein oder zwei Millimeter über einer diffusen blauvioletten Oberfläche mit unregelmäßigen schwarzen, weiß umrandeten Strichen öffnen. Was wir aus dieser Perspektive erkennen könnten, sähe aus, als schauten wir auf die Landschaft des Jupiters, auf die Oberfläche einer Unebenheit oder auf den versteinerten Fußabdruck eines prähistorischen Wesens – nichts davon ist sonderlich aufregend. Und doch sehen wir dabei vielleicht das Detail eines der psychologisch eindrucksvollsten Porträts der Kunstgeschichte, Tizians Bildnis des Gerolamo Barbarigo, nur aus dem falschen Abstand. Denn dieses Kunstwerk muss man aus einem Abstand von mindestens einem Meter Entfernung betrachten, ehe es Interesse weckt.

4.


Aus der Langeweile entsteht eine neue Art von Herausforderung und Verantwortung. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte gab es keine Nachrichten, die einen langweilen konnten. Die Informationen waren einer kleinen, erhabenen aristokratischen Regierungsklasse vorbehalten. Nur wenige hatten Zugang dazu: der König, der Kanzler, der Heeresführer und die Entscheidungsträger der Handelshäuser.

Heutzutage stehen die Nachrichten jedem zur Verfügung, und doch drehen sich die Räder unserer Neugier oft viel zu langsam in einem endlosen Datenbrei. Es ist, als ob jeden Tag vor dem Frühstück ein ernster, beunruhigter Bediensteter hereinstürmte mit einer Mappe voller irritierender und ermüdender Themen: ›Fünf Krankenhäuser am Monatsende vor dem Kreditlimit‹, ›Zentralbank besorgt um Mobilisierung von Geld für Anleihen‹, ›Chinesisches Kriegsschiff mit Ziel Vietnam vom Festland ausgelaufen‹, ›Kanadischer Premierminister morgen hier zum Dinner‹.

Was sollen wir davon halten? Wo kann all dies in unserem Kopf abgespeichert werden?

Wen interessiert das?

Tizian, Bildnis des Gerolamo Barbarigo, ca. 1510.

5.


Medienunternehmen geben ungern zu, dass das, was sie uns Tag für Tag präsentieren, winzige Ausschnitte von Geschichten sind, deren eigentliches Ausmaß letztlich erst Monate oder gar Jahre später erkennbar ist – und dass es somit oft klüger wäre, die Geschichte in Kapiteln anstelle von Satzfetzen zu erfahren. Von vornherein vermitteln sie uns, dass es entschieden besser ist, jetzt und hier eine vage und unvollständige Vorstellung von einem Thema zu haben, als auf solidere und umfassendere Erkenntnisse zu warten, die wohlmöglich erst zu einem späteren Zeitpunkt sichtbar werden.

Angesichts der daraus resultierenden Verwirrung brauchen wir gute Wegweiser. Unter der Schlagzeile ›Russe konsultiert Rechtsanwalt‹ muss der Auszug aus einem so hervorragenden Roman wie Anna Karenina langweilig wirken. Wenn hingegen angekündigt würde, dass wir hier einen kleinen, eher monotonen Abschnitt aus einem großartigen Buch lesen, das auf tausend Seiten die tragischen Seiten der Ehe erkundet, insbesondere die Spannung zwischen dem Wunsch nach Abenteuer und dem Bedürfnis nach Häuslichkeit und gesellschaftlicher Konformität, würden wir die Fortsetzung wohl etwas gespannter erwarten.

Wir brauchen Medien, die uns neugierig machen und klarstellen, wie ihre Berichte in die größeren Themen passen, für die erst eigentlich ein ernsthaftes Interesse besteht. Um uns für eine Information zu interessieren, müssen wir wissen, inwiefern wir etwas mit dem betreffenden Thema zu tun haben. Man kann sich das menschliche Gehirn wie eine Bibliothek vorstellen, in der Informationen nach bestimmten Bereichen geordnet sind. Was wir von Tag zu Tag hören, lässt sich meist leicht in die Regale einsortieren, in die es gehört, und wird unmittelbar und unbewusst eingeordnet: Nachrichten über eine Affäre kommen in das reichbestückte Regal zum Thema Beziehungen, eine Geschichte über die Entlassung eines Geschäftsführers gehört zu unseren zunehmenden Kenntnissen über Arbeit und Status.

Aber je merkwürdiger oder kürzer die Geschichten sind, desto schwieriger wird das Einordnen. Was wir gewöhnlich Langeweile nennen, ist nur ein selbsterhaltender Reflex des Verstandes, der Informationen ablehnt, die er nicht einzuordnen vermag. Was sollen wir beispielsweise mit der Information anfangen, dass eine Gruppe von chinesischen...

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