Eine Cafeteria mit schockierendem Angebot
Da stehe ich also, im Virtual-Reality-Labor der Universität Nimwegen, die Datenbrille auf dem Kopf. Der Computerprogrammierer Jeroen Derks vom benachbarten Max-Planck-Institut für Psycholinguistik dreht an einem Knopf, wodurch das Brillenungetüm, eine Art überdimensionierte Hightech-Skibrille, fester und fester um meinen Schädel gespannt wird. Dann erklärt er mir die Technik: Sechzehn Wärmelampen füllen den 8 mal 6 Meter großen Laborraum mit Infrarotlicht. Die Lampen fungieren zugleich als Kameras, die jede Lichtreflektion im Raum registrieren. Hinten an meiner Brille sind vier Reflektoren befestigt, die aussehen wie die Fühler von Biene Maja. Je nachdem, wo sich mein Kopf befindet und wie er sich neigt, senden die Reflektoren eine einmalige, positionsspezifische Lichtspiegelung an die Kameras.
Diese Daten wiederum werden an den Laptop weitergeleitet, den ich in einem Rucksack mit mir herumschleppe und der aus unerfindlichen Gründen mindestens zehn Kilo wiegt. Aufgrund der Lichtinformationen bestimmt die Laptopsoftware blitzschnell meine Kopfposition im Raum und überträgt die dazugehörigen Videobilder auf die zwei kleinen Displays der Datenbrille. Das Resultat: Vor meinen Augen erscheint eine verblüffend echt wirkende virtuelle Welt, dreidimensional und perfekt abgestimmt auf jede meiner Kopfbewegungen – schon ein geringfügiges Drehen, und das Bild dreht sich zeitgleich mit.
»Sind Sie bereit?«, fragt eine Frauenstimme. Es ist die Stimme von Simone Ritter.
Simone Ritter ist diejenige, die sich das Experiment, an dem ich gleich teilnehmen werde, ausgedacht hat. Vor zehn Jahren verschlug es die Psychologin nach Holland, eine deutsche Studentin auf der Flucht vor dem Numerus clausus. Inzwischen ist die junge Frau – sie ist 31 – Juniorprofessorin an der Universität Nimwegen. Ritters Forschungsmission besteht darin, herauszufinden, wie wir Menschen auf neue Ideen kommen. Wie gelingt es dem Gehirn, aus seinen herkömmlichen Denkmustern auszubrechen und ungewöhnlichere Einfälle als sonst hervorzubringen? Und vor allem: Lässt sich dieser Kreativprozess von außen anregen?
Einige Monate hatte Ritter vergeblich über Fragen wie diese gegrübelt, als ihr 2010 auf einem Kongress in Las Vegas, knapp 9000 Kilometer von der Heimat entfernt, plötzlich das Virtual-Reality-Labor ihrer Universität in den Sinn kam. Wieder zurück in Nimwegen, kontaktierte sie den Computerexperten Derks, und Ritter machte sich an die Arbeit. Sie entwarf einen Versuch mit dem Ziel, sich dem Mysterium des schöpferischen Denkens empirisch-experimentell zu nähern.
Jeroen Derks hat mich per Knopfdruck in eine Computersimulation der Uni-Cafeteria versetzt (das reale Vorbild befindet sich gleich um die Ecke). Ich wandere ziellos umher, sehe mich um. Zahlreiche Tische mit Stühlen. Links ein langer Holztisch mit Bierbänken, im Hintergrund die Theke mit Espressomaschine, rechts daneben ein Snackautomat.
Fast bin ich versucht, mir einen simulierten Cappuccino zu bestellen, da erblicke ich auf dem langen Holztisch einen Koffer, den ich mir genauer ansehen will. Komischerweise wird der Koffer, je mehr ich mich ihm nähere, immer kleiner. Als ich ganz nah bin und mir den Koffer schnappen möchte (er ist inzwischen auf die Größe eines Handys geschrumpft), verschwindet er. »Uups«, sage ich enttäuscht.
»Der ist ja auch nicht zum Mitnehmen da«, höre ich die Stimme von Jeroen Derks.
Gleich darauf geschieht wieder etwas Merkwürdiges: Bei jedem Schritt, den ich mache, fliegt der Raum an mir vorbei. Es ist, als sei ich in Siebenmeilenstiefel geschlüpft, und ich fege durch die Cafeteria.
Als Nächstes erscheint ein rotes Spielzeugauto auf dem Holztisch sowie, am Tischrand, eine grüne 7up-Flasche. Abermals gehe ich zum Tisch, woraufhin das Auto auf die Flasche zufährt und sie umstößt. Ich springe zur Flasche, will sie auffangen, die Flasche jedoch fällt nicht zu Boden, sondern steigt in die Luft wie ein Fesselballon, sie steigt und steigt – und stößt schließlich an die Decke, wo sie hängen bleibt. Ich starre auf die schwebende Flasche.
Was soll das?
»Na, wie fühlen Sie sich?«, fragt Simone Ritter.
Wie ich mich fühle? Schwer zu sagen. Wie in einem Traum? Wie Alice im Wunderland? Oder nein, eher wie in dem Film Inception des Regisseurs Christopher Nolan, in dem Leonardo DiCaprio durch eine Pariser Straße geht. Auf einmal bäumt sich das Ende der Straße hoch und bricht mitsamt den Häusern über Leonardo DiCaprio hinweg wie eine Meereswelle. Es ist ein Traum, ein virtuelles Paris. So ungefähr, schätze ich, fühle ich mich. Wie die Figur im Film.[2] Die Realität ist absurd und das Absurde auf unheimliche Weise real geworden, was den Realitätssinn verunsichert wie ein Erdbeben den Gleichgewichtssinn.
Oben: Zu Besuch im Virtual-Reality-Labor der Universität Nimwegen, im Hintergrund die Kreativitätsforscherin Simone Ritter und der Computerprogrammierer Jeroen Derks (an den schwarzen Stangen unten und oben an der Wand sind die Infrarotkameras befestigt). Unten die Simulationen, die ich in diesem Moment sehe.
Ich nehme die Datenbrille vom Kopf und bin zurück im kargen Laborraum. Simone Ritter blickt mich mit einer Begeisterung an, als hätte sie ihr Experiment zum ersten Mal vorgeführt. »Wären Sie eine echte Testperson, käme jetzt der entscheidende Teil«, sagt sie.
Ritter hat bereits Dutzende von Versuchskaninchen – Studenten der Universität Nimwegen – in der virtuellen Cafeteria umherwandern lassen. Eine Gruppe, die Kontrollgruppe, erkundete eine Cafeteriaversion, in der alles brav den Regeln der Physik gehorchte: Näherte man sich dem Koffer, wurde er optisch größer, nicht kleiner. Man ging nicht plötzlich wie mit Riesenschritten durch den Raum. Wurde eine Flasche umgestoßen, fiel sie ordnungsgemäß zu Boden, und auch sonst verhielt sich der Ort, wie es sich für eine Cafeteria gehört. So, wie man das von einer Uni-Cafeteria eben erwartet.
Eine andere Gruppe dagegen erlebte, wie ich, die Inception-Cafeteria, in der die Forscher die Gesetze der Physik aus den Angeln gehoben hatten. Der Hintergedanke dabei: Wer wiederholt mit Situationen konfrontiert wird, die klar gegen die Erwartungen des Gehirns verstoßen, dessen Denkstrukturen werden systematisch aufgelockert.
Betreten wir eine Cafeteria, schaltet sich eine Art mentaler Autopilot in uns an: Wir sehen die Theke und Tische und Stühle, und unwillkürlich aktivieren diese Eindrücke in unserem Gehirn weitverzweigte »Cafeteria-Netzwerke«, die uns dabei helfen, uns auf Anhieb in der Situation namens Cafeteria zurechtzufinden. Man bezeichnet diese Netzwerke in unserem Kopf als mentale Modelle, Prototypen oder »Schemata«.
Schemata können sich auf Objekte oder Räume mit einem gewissen Standardlayout beziehen, man nennt sie dann auch »Frames«.[3] Eine Cafeteria zum Beispiel hat üblicherweise eine Theke, auf der Speisen stehen, davor erstreckt sich in der Regel ein Bereich mit Tischen und Stühlen et cetera. Das Cafeteria-Frame kodiert dieses grobe Layout in unserem Kopf wie einen gedanklichen Grundriss. Jeder, der eine Cafeteria, ein Restaurant oder einen Supermarkt betritt, hat, den Frames sei Dank, sofort eine Orientierung, wo sich was befinden könnte.
Andere Schemata speichern typische Handlungsabläufe, »Skripts«: In einer Cafeteria werden wir, im Gegensatz zu einem Restaurant, nicht bedient, wir müssen selbst mit einem Tablett zur Theke, und am Ende der Theke erwartet uns dann eine Kasse, wo wir bezahlen.
Für so gut wie jede Situation, in die wir öfter geraten, bildet das Gehirn ein Schema, das uns in Zukunft beim Meistern der Situation beispringt. Sagen wir, Sie stehen vor der Herausforderung, sich an Bord eines Flugzeugs begeben zu müssen. Spätestens sobald der Aufruf erfolgt, wird in Ihrem Vielfliegerhirn ein »Boarding-Skript« angeworfen, ein maßgeschneidertes kognitives Drehbuch, mit dessen Hilfe Ihr Gehirn das, wie jeder weiß, höchst anspruchsvolle, nervenaufreibende Manöver in den Griff zu bekommen versucht (praxisbewährter Skriptablauf: so schnell wie möglich mit dem bleischweren Handgepäck zum Gate eilen und sich in die Schlange drängeln, anschließend mindestens eine Viertelstunde warten, bis es wirklich losgeht, diese Zeit nutzen, um die plötzlich spurlos verschwundene Bordkarte aufzustöbern, während ein Reisekollege hinter Ihnen seinen Koffer liebevoll in Ihre Wade drückt, in der wohlbegründeten Hoffnung, dass es dann schneller vorangeht …).
Frames und Skripts machen uns effizient: Sobald das Gehirn die relevanten Routinenetzwerke hochgefahren hat, ist die Situation für uns eingeordnet, und die erforderlichen Verhaltensschritte laufen ab, ohne dass wir jetzt noch ausführlich nachdenken müssten. Wer zerbricht sich morgens beim Aufstehen den Kopf darüber, worin seine nächsten Schritte bloß bestehen könnten? Niemand, der am selben Tag noch etwas zustande bringen will. Stattdessen folgen wir einfach unseren vertrauten Aufsteh- und Frühstücks-Skripts. Ein Großteil unseres Alltags lässt sich auf diese Weise überstehen.
Die Schema-Vorgehensweise stößt erst an ihre Grenzen, wenn die Situation, in die wir geraten, nicht standardmäßig, sondern ungewöhnlich, wenn sie neu ist. Wenn zur Einschätzung und Bewältigung unserer Lage keine...