IV.
Der österreichische Schuhfabrikant Heini Staudinger, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er in seinem eigenen Unternehmen das niedrigste Gehalt bezieht, ist von der österreichischen Finanzmarktaufsichtsbehörde verklagt worden, weil er eine neue Lagerhalle mit Kleinkrediten von Kunden finanziert hat, die er mit 4 Prozent jährlich verzinst. Dabei handele es sich um ein illegales Bankgeschäft. Zum Schutz der Kreditgeber wurde Staudinger ein Zwangsgeld in sechsstelliger Höhe angedroht, falls er die Kreditgeber nicht sofort auszahle. Staudinger, der sich weigerte, dem nachzukommen, wurde Gefängnis angedroht (Staudinger: »Sehr gern, da komme ich endlich mal zum Lesen!«). Der Fall erfuhr große Aufmerksamkeit in den Medien, Proteste gegen die Finanzmarktaufsichtsbehörde wurden organisiert, es gab Petitionen für eine Gesetzesänderung. Anfang 2014 verliert Staudinger den Prozess. Schon im September 2013 hatte er eine neue Aktivität angekündigt, um die alleinerziehenden Mütter in seinem Unternehmen besser entlohnen zu können, ohne Gerechtigkeitsprinzipien zu verletzen. Da der österreichische Milliardär Dietrich Mateschitz (»Red Bull«) die Ausgaben für seinen Formel-1-Rennstall als Marketing-Aufwendungen von der Steuer absetzen kann, gründete Staudinger die »Formel Z«, in der Kleinkinder in Bobby-Cars gegeneinander antreten. Mit dem Steuervorteil finanziert er die höhere Entlohnung der alleinerziehenden Mütter.
Würden wir sagen: Alle erwähnten Personen handeln autonom? Vermutlich ja, obwohl Sarah O., Ina K., Thomas de Maizière, Christian Springer und Heini Staudinger höchst unterschiedliche Dinge tun. Sarah O. entscheidet sich autonom für die Aufgabe ihrer Freiheit und für die Unterordnung unter ein repressives Regime. Ina K. riskiert ihr Leben, um ein anderes zu retten. Thomas de Maizière folgt als Bundesinnenminister seiner Verpflichtung, »Schaden vom deutschen Volk« abzuwenden, Christian Springer versucht den Schaden zu mildern, der dadurch anderen Völkern entsteht. Heini Staudinger bemüht sich, Ungerechtigkeit durch List zu überwinden. Wenn wir sagen, sie alle handeln autonom, bekommen wir aber sofort Schwierigkeiten zu entscheiden, ob sie nicht zugleich auch konform handeln: Sarah O. steigt zwar autonom aus dem für sie vorgesehenen Lebensweg aus, aber nur, um sich radikaler Konformität zu unterwerfen. Ina K. würde ihr Verhalten gar nicht als »autonom« verstehen, sondern als sozial selbstverständliches, also konformes Verhalten. Der Bundesinnenminister ist in seinem Handeln ohnehin der Allgemeinheit verpflichtet, und Christian Springer genauso wie Heini Staudinger tun, was sie tun, um andere zu unterstützen. Kurz: In allen Fällen steht ein mehr oder weniger klar definiertes Kollektiv im Hintergrund, dem sich die Handelnden verpflichtet fühlen. Sind sie, so betrachtet, eigentlich autonom? Und kann es autonomes Handeln und Entscheiden sein, wenn man die eigene Autonomie preisgibt oder die Schädigung anderer durch seine autonome Entscheidung in Kauf nimmt?
Man sieht sofort: Es ist eine schwierige Sache mit der Autonomie. Und es wird noch schwieriger, wenn man sieht, dass niemand so richtig weiß, was Autonomie eigentlich ist, aber das Selbstverständnis moderner pluralistischer Demokratien trotzdem darauf baut, dass Menschen selbstbestimmt, also autonom, handeln und entscheiden können. Wir möchten in dem vorliegenden Buch dieser scheinbar so selbstverständlichen Eigenschaft nachspüren und klären, was das ist: Autonomie. Eine persönliche, unverlierbare Eigenschaft? Das wäre die idealistische Variante, die historisch betrachtet zur Entstehung moderner Staatsgesellschaften passen würde. Eine vor allem in bestimmten sozialen Situationen abrufbare Fähigkeit? Das wäre eine behavioristische Sicht, die den Einzelnen und seine Handlungen vor allem im Ensemble von Umweltreizen betrachtet. Eine nur unter bestimmten Bedingungen zur Entfaltung kommende menschliche Eigenschaft – also eine, philosophisch gesprochen, »dispositionelle Eigenschaft«, die als Potential immer vorhanden ist, aber spezifischer Voraussetzungen bedarf, um wirksam zu werden?
Und umgekehrt: Was sind die gesellschaftlichen Umstände, die Autonomie ermöglichen, einschränken oder blockieren? Hat Autonomie immer schon existiert, oder hat sie sich erst unter bestimmten historischen Bedingungen entwickelt? Was ist überhaupt die Rolle von Kultur und Gesellschaft bei der Entfaltung von Autonomie? Das sind Fragen, denen wir in diesem Buch nachgehen werden – nicht nur, weil wir es unbefriedigend finden, dass es keine klare Vorstellung von Autonomie gibt, obwohl niemand an ihrer zentralen Bedeutung zweifelt. Sondern vor allem auch, weil es gegenwärtig Entwicklungen gibt – in Gestalt von Überwachungstechnologien, Big Data, Transparenzidealen, Shitstorms und Skandalisierungen –, die, sagen wir es zurückhaltend, unseren Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben in einer freien Gesellschaft stark widersprechen: Autonomie ist gefährdet. Und wir halten es, soviel vorweg, für dringend notwendig, diese Errungenschaft zu verteidigen.
Autonomie ist nämlich – zumindest aus heutiger europäischer Sicht – unverzichtbar für ein sinnvolles, selbstbestimmtes Leben. In einem gewissen Sinne kann man davon sprechen, dass Autonomie sowohl eine Tatsache als auch ein Wert ist: Sie ist eine Tatsache, weil Individuen Autonomie besitzen und moderne Staaten sie gewähren, doch sie ist gleichzeitig ein Wert: Wir gehen im Allgemeinen davon aus, dass Autonomie erstrebenswert ist. Das hat vor allem damit zu tun, dass Autonomie uns Freiheitsspielräume gewährt. Autonome Menschen können – in gewissen Grenzen – selbst entscheiden, welche Ausbildung sie machen, welchen Beruf sie wählen und mit welchem Partner sie ihr Leben oder Teile davon verbringen wollen. Doch Autonomie gibt es nicht umsonst: Entscheidungsspielräume können schnell zu Entscheidungszwängen werden, und Offenheit führt oft zu Unsicherheit. Dennoch gibt es eine Vielzahl von Gründen, Autonomie als eine zivilisatorische Errungenschaft zu bezeichnen.
Doch was heißt »Autonomie« eigentlich? Geht man dieser Frage nach, dann stellt sich schnell der Verdacht ein, dass Autonomie ihre Beliebtheit auch ein wenig ihrer Unbestimmtheit verdanken könnte. Das sieht man schon daran, was wir alles als autonom bezeichnen: Autonom können Menschen sein, aber auch Staaten und Teile von Staaten, autonom sind aber auch Kunstwerke und seit einiger Zeit sogar Roboter oder Autos.
Doch was haben Roboter schon mit Kunstwerken oder gar mit autonomen Individuen gemeinsam? Nicht viel, möchte man sagen, doch das wäre zu kurz gegriffen. Gemeinsam ist Staaten, Individuen und Robotern nämlich eine gewisse Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen, die ihnen Spielraum lässt, eigenen Regeln und Prinzipien zu folgen. Autonome Roboter werden nicht ferngesteuert, autonome Kunstwerke dienen keinem direkten Zweck, autonome Staaten können ihre eigenen Gesetze erlassen und autonome Individuen – wir hatten das bereits gesehen – können weitgehend selbst bestimmen, was sie tun.
Das ist zunächst einmal eine gute Sache und einer der Gründe dafür, dass wir Autonomie als eine zivilisatorische Errungenschaft betrachten. Tatsächlich scheinen wir Autonomie um ihrer selbst willen zu schätzen, eben weil sie uns Freiheits- und Handlungsspielräume verschafft. Besonderen Respekt haben wir vor autonomen Individuen dann, wenn diese Widerstände überwinden. Darin scheint zumindest einer der Gründe für unsere besondere Wertschätzung von autonomen Personen wie Antigone, Martin Luther, Georg Elser oder den Geschwistern Scholl zu liegen.
Diese zivilisatorische Errungenschaft hat sich in einem vergleichsweise lang andauernden und recht komplexen historischen Prozess herausgebildet. Dieser Prozess vergrößert einerseits die Spielräume, die Gesellschaften ihren Mitgliedern lassen: Traditionelle Gesellschaften in vergangenen Epochen boten in der Regel wenige Alternativen, was Lebensführung, Beruf, die Wahl des Partners oder den Wohnort betraf – von Mode und Musikgeschmack ganz zu schweigen. Das hatte auch damit zu tun, dass viele Möglichkeiten gar nicht zur Verfügung standen: Man kann sich nicht zwischen einer Karriere als IT-Spezialist und einer Laufbahn als Mediendesigner entscheiden, wenn es weder Computer noch Mediendesign gibt.
Doch die Entwicklung erfasst nicht nur die objektiven Möglichkeiten für autonomes Handeln, vielmehr verändert sie auch die Erwartung, wie viel Autonomie einem Individuum zusteht und was man eigentlich unter Autonomie zu verstehen hat. Ablesen lässt sich das z.B. an Entwürfen für ideale Staaten, wie sie sich bei Platon, Thomas Morus, Tommaso Campanella und später bei Ernst Bloch finden. Ursprünglich lassen solche Staatsutopien den Individuen nur ein Minimum an persönlichem Spielraum: Kleidung, Familienstand, Aufenthaltsort und natürlich auch der Beruf werden von Staats wegen festgelegt. Vielfach mischt sich dieser Staat auch in die engste Intimsphäre ein, in Sexualität, Familie und Partnerschaft. Autonomie gilt hier nicht nur als unnötig, vielmehr ist sie ganz offenbar unerwünscht. Später, mit der Entwicklung moderner Gesellschaften, geraten solche Einschränkungen aber in Verruf: In den negativen Utopien von Aldous Huxley und George Orwell taugen solche Eingriffe nur noch als Schreckensszenarien – selbst wenn sie dem Glück der Mehrheit dienen.
In neueren positiven Utopien dagegen wird dem Einzelnen im Gegensatz zu den traditionellen Staatsutopien ein Maximum...