1
Auf dem Gangplatz gegenüber im Flugzeug sitzt eine schlanke Schwarzhaarige. Ungefähr zwischen siebzehn und dreiundzwanzig Jahre alt, mit dem gewissen Etwas: dunkler Eyeliner, falsche Wimpern, ein kleines, rundes Tattoo über dem Steiß, rosa Kopfhörer und das Dauerschmollen eines Mädchens, das sauer auf seinen Dad ist, aber sofort mit jedem rücksichtslosen Arschloch ins Bett geht, das es an ihn erinnert.
Neben mir, eine mittelalte Frau mit riesiger Fake-Designer-Sonnenbrille und einem Sommerkleid, das ein milchweißes Dekolleté offenbart. Eine zwanzigminütige Unterhaltung und eine geschickt drapierte Airline-Decke später könnte dort schon meine Hand liegen.
Vor mir eine magere, ziemlich abgefuckte Rothaarige. Wahrscheinlich Alkoholikerin.
Nicht wirklich meine Baustelle, aber von der Bettkante würde ich sie auch nicht stoßen.
In meinem Kopf ist eine Karte. Darauf markieren LEDs die Positionen aller halbwegs ansehnlichen oder auch nur im Mindesten sexuell interessanten Frauen um mich herum. Noch ehe das Flugzeug auf Reiseflughöhe ist, habe ich mir für jede einzelne ausgedacht, wie ich sie ansprechen könnte, mir vorgestellt, wie sie nackt aussieht und wie sie bläst, und sie in Gedanken entweder gleich auf der Bordtoilette oder später im Mietwagen oder im Hotelzimmer gefickt.
Das ist es also: das letzte Mal, dass ich so geil sein, dass ich auch nur mit dem Gedanken spielen darf, mit einer neuen Frau zu schlafen. Und mein Hirn spielt verrückt. Ich stehe auf alle und jede. Nicht, dass das je anders gewesen wäre, doch diesmal schmerzt es irgendwo tief in mir – im Kern meines Wesens, meines Selbst, meines Lebenssinns.
Ich reise mit leichtem Gepäck – ohne Computer, ohne Handy, überhaupt ohne technische Geräte. Wo ich hingehe, ist das alles nicht erlaubt. Mit meinen Gedanken so allein zu sein hat etwas Befreiendes – auch wenn sich die meisten dieser Gedanken darum drehen, ob ich eher die potenziell Minderjährige rechts von mir oder den pockennarbigen Rotschopf vor mir ansprechen soll.
Als das Flugzeug das Gate erreicht, steht ein Mann mit Brille auf und drängt sich zum Gang durch. Dabei mustert er die Schwarzhaarige eingehend von Kopf bis Fuß. Angraben wird er sie nicht; dafür hat er schon zu lang geglotzt. Er prägt sich das Bild ein, speichert es ab. Für später, wenn er es brauchen wird.
Ich frage mich, warum ich mir das überhaupt antue. Männer sind eben so. Der Typ da ist vermutlich noch viel schlimmer als ich.
Auf dem Weg durchs Terminal ziehe ich einen Zettel aus der Tasche: »Ihr Fahrer holt Sie am Gate ab. Er trägt ein Schild mit dem Buchstaben D, damit man nicht sieht, wohin Sie fahren.«
Plötzlich bleibt so ein Typ – Mitte zwanzig, locker eins achtzig, muskulös, breiter Kiefer, also ungefähr das Gegenteil meines Spiegelbilds – wie angewurzelt vor mir stehen. Die Kinnlade klappt ihm nach unten, als hätte er ein Gespenst gesehen. Ich weiß schon, was jetzt kommt, will ihn schnellstmöglich abwimmeln. Mein Fahrer ist das garantiert nicht.
»Hey, sind Sie nicht …«
Aus irgendeinem Grund kriegt er die nächsten Worte nicht über die Lippen.
Ich warte drauf, dass er sie ausspuckt, aber es kommt nichts mehr. »Ja«, antworte ich.
Schweigen.
»Also, hat mich gefreut. Ich muss mal weiter, ein Freund wartet auf mich.« Mist, das war gelogen. Dabei habe ich geschworen, das zu lassen. Manchmal gehen einem Lügen einfach viel leichter von der Zunge als die Wahrheit.
»Ich hab Ihr Buch gelesen«, sagt der Typ.
»Gerade erst?«, frage ich, warum auch immer. Mich von Leuten loszureißen, die sich für mich interessieren, ist nicht gerade meine Stärke. Darum bin ich ja hier. Und wegen der Lügen.
»Nein, vor drei Jahren.«
»Freut mich.« Er sieht nicht wirklich wie einer aus, der meinen Rat je nötig gehabt hätte.
»Mit Ihrer Hilfe hab ich meine Frau kennengelernt. Ich verdanke Ihnen alles.«
»Freut mich«, sage ich noch mal. Ich stelle mir vor, eine Frau zu heiraten, den Rest meines Lebens mit ihr zu verbringen, keine andere mehr vögeln zu dürfen, stelle mir vor, wie sie alt wird und die Lust auf Sex und mich verliert, und ich immer noch keine andere vögeln darf.
Die nächsten Worte platzen einfach so aus mir heraus: »Und sind Sie glücklich?«
»Oh, ja, absolut«, antwortet er. »Wirklich. Ich hab Die perfekte Masche gelesen, als ich mit der Army im Irak war. Hat mir echt geholfen.«
»Wollen Sie Kinder?« Keine Ahnung, was ich da mache. Ich glaube, ich will ihm Angst einjagen. Will, dass er ein bisschen Muffe zeigt, ein wenig Zaudern oder Zweifel, nur, um mir zu beweisen, dass ich nicht verrückt bin.
»Tatsächlich kommt bald unser Sohn zur Welt«, sagt er. »Bin extra hergeflogen, um bei meiner Frau zu sein.«
Seine Antwort trifft ins Schwarze: mitten in mein Selbstbewusstsein. Hier stehe ich, komplett unfähig, eine Beziehung zu führen, und dieser Kerl da liest mein Buch darüber, wie man Frauen abschleppt, und hat drei Jahre später sein gesamtes Leben auf der Reihe.
Ich entschuldige mich und lasse ihn stehen. Viel kleiner, als ich dachte, denkt er garantiert.
Nach der Sicherheitskontrolle erspähe ich einen Mann mit grauem Haarkranz und einem Schild mit einem D darauf. Er sieht jetzt alle Arten von Passagieren hier einrollen: entweder halbtot, zugedröhnt oder verzweifelt bemüht, wie normale Erwachsene zu wirken. Für mich gilt wohl Letzteres.
Ich komme mir vor wie ein Hochstapler. Es gibt Leute, die in diese Klinik müssen, weil sie sonst draufgehen würden. Sie würden sich zu Tode saufen, schnupfen oder spritzen.
Ich dagegen habe lediglich meine Freundin betrogen.
2
Los Angeles, sechs Monate vorher
Es heißt, wenn man jemanden kennenlernt und glaubt, es sei Liebe auf den ersten Blick, soll man die Beine in die Hand nehmen. In Wahrheit hat nämlich nur die eigene Gestörtheit sich mit der des anderen verstrickt. Das verletzte Kind in einem selbst hat das verletzte Kind im Gegenüber erkannt, und beide hoffen nun auf Heilung durch dasselbe Feuer, an dem sie sich verbrannten.
Im Märchen trifft einen die Liebe wie der Blitz. Im wahren Leben sorgt ein Blitz für Verbrennungen. Oder bringt einen sogar um.
Meine Freundin Ingrid sitzt auf dem Fußboden und packt für unseren Trip nach Chicago. Sie hat Geburtstag. Und soll meine Familie kennenlernen.
Ich sehe sie an, liebe einfach alles an ihr, die äußeren wie die inneren Werte. »Ich bin ganz schön aufgeregt, Babe«, sagt sie. Sie ist der reinste Sonnenschein, holt mich Tag für Tag aus meiner finsteren, eigenbrötlerischen Welt heraus. Sie wurde in Mexiko geboren, hat aber einen deutschen Vater, ist irgendwie in den USA gelandet und sieht aus wie eine zierliche, blonde Russin.
Alle vier Elemente finden sich in ihr verkörpert: die Leidenschaft des Feuers, die Festigkeit der Erde, das Spielerische des Wassers, die Zartheit der Luft.
»Ja, ich bin auch aufgeregt.«
Ich versuche, den gestrigen Abend zu verdrängen. Beweise gibt es nicht; dafür habe ich gesorgt. Ich habe gründlich geduscht. Das ganze Auto durchkämmt. Jedes Kleidungsstück nach fremden Haaren abgesucht. Das Einzige, was ich nicht sauberkriege, ist mein Gewissen.
»Soll ich diese Schuhe mitnehmen?«
»Sind doch nur fünf Tage. Wie viele willst du da denn anziehen?«
Manchmal nervt es mich, wie lange sie braucht, um sich fertig zu machen, wie viele Klamotten sie selbst für die kürzesten Ausflüge einpackt, wie ihre High Heels uns daran hindern, mehr als ein paar Blocks zu Fuß zu gehen. Aber letztlich liebe ich ihre Weiblichkeit. Sie verleiht mir altem Penner etwas Glanz. Als ich ihr gestern Abend erzählte, ich müsse Marilyn Manson treffen – einen Musiker, mit dem ich ein Buch geschrieben habe – , um ein neues Projekt zu besprechen, sah ich in ihren grünbraunen Augen nichts als Liebe, Unschuld, Glück und Frieden.
Und trotzdem habe ich’s getan.
»Wie war’s eigentlich gestern Abend?«, fragt sie, während sie sich mit dem Reißverschluss am Koffer plagt.
»Ging so. Haben nicht viel gearbeitet.« Das kann man laut sagen. Als Ingrid unverzagt die kleine Hand auf die pralle Tasche legt, um den Reißverschluss zusammenzudrücken, drängt sich mir das Bild zweier zusammengezwungener Leben auf – die komplett auseinanderfallen, sobald ein einziges Teilchen aus der Reihe tanzt.
»O je. Wenn du willst, kannst du im Flugzeug auf meinem Schoß schlafen.«
Sie lebt die Beziehung ihrer Mutter zu ihrem fremdgehenden Vater nach, ich das heimliche Sexualleben meines Vaters. Wir wiederholen das Muster von Generationen lügender, betrügender Arschlöcher und der armen Tölpel, die ihnen vertrauten. »Danke«, sage ich. »Ich liebe dich.« Glaube ich wenigstens. Aber kann man eine Frau wirklich lieben, wenn man gerade noch eine ihrer Freundinnen auf dem Parkplatz vor der Kirche gevögelt hat und ihr jetzt, sechs Stunden später, deshalb was vorlügt? Mein Kopf ist so von Schuld benebelt, dass ich mir da nicht mehr so sicher bin. Irgendwie habe ich meine Zweifel.
Irgendwann kommt jeder Mann mal an den Punkt, wo er kapiert, dass er den Karren in den Sand gesetzt hat. Er hat sich ein so tiefes Loch gegraben, dass er nicht bloß nicht mehr rauskommt, sondern nicht einmal mehr weiß, wo oben ist.
Für mich ist dieses Loch seit jeher mit Beziehungen verbunden. Nicht nur, weil ich Ingrid fremdgegangen bin, sondern weil wieder mal...