Vorwort
Noch eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs? Gibt es davon mittlerweile nicht genug? Ist diese Geschichte nicht viele Male erzählt und gedeutet, gepriesen und verflucht worden? Ja, das alles ist richtig, und dennoch gibt es drei gute Gründe, noch einmal den Versuch einer Synthese zu wagen:
1. Die neueren Gesamtdarstellungen aus der Feder von Thomas Nipperdey, Wolfgang J. Mommsen und Hans-Ulrich Wehler sind ohne Zweifel allesamt herausragende Werke der Geschichtsschreibung.[1] Die deutsche Geschichtswissenschaft hat derzeit kaum etwas Besseres zu bieten; auch im internationalen Vergleich präsentiert sie sich damit auf der Höhe der Zeit. Es soll nicht verschwiegen werden, daß das vorliegende Buch vor allem diesen drei Gelehrten wichtige Erkenntnisse und Einsichten verdankt. Wenn Nipperdey in allzu großer Bescheidenheit bekannte: »Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen«,[2] so gilt dies natürlich erst recht für diese Untersuchung.
Dennoch haben die drei genannten Großwerke einige Nachteile, über die sich nur schwer hinwegsehen läßt: Sie sind überaus umfangreich, und sie richten sich in erster Linie an die Fachwissenschaft. Nipperdey pflegt einen bedächtigen, altväterlich-belehrenden Vorlesungsstil, der auf die Dauer doch sehr strapaziös ist. »Es finden sich kaum Zitate von Zeitgenossen«, so hat der englische Sozialhistoriker Richard Evans angemerkt, »es gibt keine Beschreibung … kaum einmal eine Anekdote oder kleine Geschichte. Die Menschen, die in dieser Epoche lebten, kommen kaum zu Wort. Statt dessen hören wir ständig die Stimme Nipperdeys, der sie abwägt, ausgleicht und bewertet.«[3] Dieses Urteil läßt sich, in abgewandelter Form, auch auf die Arbeiten von Wolfgang J. Mommsen und Hans-Ulrich Wehler beziehen, wobei besonders der Bielefelder Historiker mit seiner Neigung, das sozialhistorische Material möglichst vollständig und in allen Verästelungen auszubreiten, selbst dem einschlägig vorgebildeten Leser über weite Strecken schwerverdauliche Kost zumutet.
Schließlich weisen alle drei Werke trotz ihrer ausladenden Dimensionen gewisse Begrenzungen auf. Wehlers Konzept von Gesellschaftsgeschichte orientiert sich bekanntlich an Max Weber. Seine Schlüsselkategorie sind die »marktbedingten Klassen«. Da die meisten Frauen im Kaiserreich nicht am Markt positioniert waren, sprich: keiner bezahlten Erwerbstätigkeit nachgingen, fallen sie aus Wehlers Analyse weitgehend heraus. Es handelt sich also, strenggenommen, um eine halbierte Gesellschaftsgeschichte. Wolfgang J. Mommsens zwei Bände zeichnen sich dadurch aus, daß den politikgeschichtlich akzentuierten Teilen der Darstellung jeweils längere Exkurse über die Kultur des Kaiserreichs angefügt werden. Allerdings wird Kultur hier reduziert auf die Hervorbringungen der bürgerlichen Hochkultur; die populäre Kultur oder Massenkultur, die gerade um die Jahrhundertwende bedeutsame Veränderungen in Lebensformen und Lebensstilen hervorbrachte,[4] wird hingegen fast vollständig ausgeblendet. Nipperdey hat im ersten Band seiner DEUTSCHEN GESCHICHTE 1866–1918 eine beeindruckende Fülle von sozial- und kulturhistorischen Phänomenen abgehandelt; allerdings werden diese streng getrennt von den struktur- und politikgeschichtlichen Teilen des zweiten Bandes, so daß sich der Leser selbst zusammenreimen muß, wie das eine mit dem anderen verknüpft ist.
Demgegenüber versucht dieses Buch die Geschichte des Kaiserreichs nicht nur in einem überschaubaren Rahmen zu halten, sondern sie auch so zu erzählen, daß ein größeres, nicht nur fachlich interessiertes Publikum daran Gefallen finden kann. Angestrebt wird gleichwohl eine moderne Synthese aus Politik-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte, welche die Ergebnisse der neuesten, zum Teil hochspezialisierten Forschung berücksichtigt und dem Leser darüber hinaus Einblicke gibt in Kontroversen der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte. Zweifellos ist das ein ehrgeiziges Unterfangen. Gerade die sozialhistorische Analyse läßt sich, wie man weiß, nur schwer in Form erzählender Geschichtsschreibung vermitteln. Dennoch wurde mit dem vorliegenden Band der Versuch eines solchen Brückenschlags unternommen.
2. Ein weiterer Grund, sich aufs neue der Geschichte des Kaiserreichs zuzuwenden, hängt zusammen mit der Debatte um das Buch von Daniel Jonah Goldhagen HITLERS WILLIGE VOLLSTRECKER, das im vergangenen Jahr die Gemüter erregte.[5] Wie immer man über die provozierenden Thesen des amerikanischen Politologen denken mag: sie zwingen uns, die Vorgeschichte des Dritten Reiches – und das heißt auch immer die Geschichte des deutschen Kaiserreichs – noch einmal genauer ins Auge zu fassen. Nur vierzehn Jahre nach dem Untergang der Hohenzollernmonarchie wurde die Macht an Hitler übertragen – mit den bekannten schrecklichen Folgen für Deutschland und die Welt. Von den langen Schatten abzusehen, die der Nationalsozialismus nach rückwärts wirft, ist schlechterdings unmöglich. Thomas Nipperdey bezeichnet in seiner Bilanz am Ende des zweiten Bandes die Perspektive auf das Jahr 1933 nicht nur als legitim, sondern als notwendig: »Wer sich ihr entziehen wollte, verfiele der einsichtslosen Apologie der Vergangenheit.«[6] Tatsächlich aber hat Nipperdey in seiner Darstellung versucht, eine Art cordon sanitaire um das Kaiserreich zu ziehen und die Kontinuitäten, die von hier ins Dritte Reich führen, im Lichte des Rankeschen Diktums, wonach jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, entweder abzumildern oder ganz verschwinden zu lassen.
Gegen solche Bemühungen, das Kaiserreich künstlich von seiner Nachgeschichte zu distanzieren, wendet sich dieses Buch. Es weiß sich der Forderung Hans-Ulrich Wehlers verpflichtet, daß »die Erklärung jenes Absturzes, der die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert nur sehr wenige Jahre nach dem Untergang des Kaiserreichs in die unverhüllte Barbarei geführt hat«, ein »unumgänglicher Fluchtpunkt des bilanzierenden Urteils« bleiben müsse.[7] Das bedeutet nicht etwa, daß ich einfach angeknüpft hätte an jene Theorie vom deutschen Sonderweg, die in der Kluft zwischen ökonomischer Modernisierung und politischer Rückständigkeit ein Grundübel der neueren deutschen Geschichte und die eigentliche Ursache für Deutschlands Abweichen von einem als normal betrachteten westlichen Entwicklungspfad zu erkennen meinte. Diese Theorie, die seit Wehlers immer noch überaus anregender Skizze zur Geschichte des Kaiserreichs aus dem Jahre 1973[8] für über ein Jahrzehnt die Deutungen beherrschte, ist inzwischen von der historischen Forschung modifiziert und auch vom Kopf der »Bielefelder Schule« im dritten Band seiner DEUTSCHEN GESELLSCHAFTSGESCHICHTE zwar nicht ganz fallengelassen, aber doch erheblich abgeschwächt worden.[9]
Heute bietet sich die Geschichte des Kaiserreichs in der Tat weitaus komplexer und vielgestaltiger dar, als es das relativ einfache Erklärungsmodell vom deutschen Sonderweg seinerzeit nahezulegen schien. Widersprüche und Ambivalenzen zeigen sich auf allen Ebenen von Gesellschaft, Politik und Kultur – ja, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen scheint geradezu das Hauptcharakteristikum der Jahrzehnte vor und nach 1900 zu sein: Neben einer überaus dynamischen, innovativen Industriewirtschaft finden wir die monströse Spätblüte einer neoabsolutistischen Hofkultur; neben erstaunlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik eine weitverbreitete Uniformgläubigkeit, die Vergötzung alles Militärischen; neben Tendenzen zur Parlamentarisierung und Demokratisierung die latente Drohung mit dem Staatsstreich, das Liebäugeln mit der Militärdiktatur; neben einer lebendigen avantgardistischen Kulturszene die plüschigste Salonkunst; neben einer erstaunlichen kulturellen Liberalität die kleinlichsten Zensurschikanen und eine harte Klassenjustiz; neben der Sozialfigur des wilhelminischen Untertanen, wie sie Heinrich Mann in seinem Roman so trefflich geschildert hat,[10] den selbstbewußten großbürgerlichen Unternehmer und den klassenbewußten sozialdemokratischen Arbeiter; neben auftrumpfendem Kraftgefühl und ungebremster Aggressivität ein tiefsitzendes Gefühl von Angst und Unsicherheit. In diesem Neben- und Ineinander des scheinbar Unvereinbaren liegt vermutlich ein Erklärungsschlüssel für die nervöse Reizbarkeit, in der dieses Buch – im Anschluß an die wegweisenden Untersuchungen Joachim Radkaus[11] – ein spezifisches Merkmal von Politik und Mentalität der wilhelminischen Ära sieht.
Eine Geschichte des Kaiserreichs kommt also nicht umhin, die widerspruchsvolle Verbindung von Beharrung und Modernität, von Rückständigkeit und Fortschritt auf den verschiedenen Ebenen zu thematisieren. Dabei geht es nicht darum, mit Nipperdey nun unter allen Umständen »den Urgroßeltern vor dem Ersten Weltkrieg … Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«[12] – was heißt hier schon Gerechtigkeit? –, sondern um das schlichte Gebot, vielschichtige, sich überlagernde Strukturen, Prozesse und Phänomene zunächst einmal zu erfassen und zusammenhängend zu deuten. Eine ausschließlich auf das Jahr 1933 fixierte Perspektive würde der verblüffenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Epoche zweifellos nicht gerecht. Neben den besonderen Belastungen ist auch nach...