Vorgeschichte
Diese kleine Einführung in die Geschichte, Lage und Verfassung der – nicht mehr ganz – »neuen« Bundesrepublik wurde für ein jüngeres Publikum geschrieben, das nach 1989 geboren wurde und keine andere Bundesrepublik aus dem Erleben kennt. Es weiß aber mehr oder weniger genau: Es gab einen Zweiten Weltkrieg (1939–1945), eine Nachkriegszeit unter Besatzungsstatut und Kontrolle der alliierten Sieger (USA, UDSSR, England, Frankreich; 1945–1949), eine »Teilung der Welt«, »nationale Frage« und deutsche Teilung in Ost und West, DDR und »Bonner« Bundesrepublik.
Es gab den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West, den Kalten Krieg und Mauerbau 1961 in der DDR und eine Westintegration der Bundesrepublik unter dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949–1963), einen Beitritt zur NATO, die »Wiederbewaffnung« der Bundeswehr und Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die sich zur Europäischen Union (EU) erweiterte und vertiefte. Es folgten erste Schritte in eine neue Ostpolitik nach dem Mauerbau, Kanzlerwechsel (Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger) und dann 1969 eine erste SPD/FDP-Koalitionsregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD; 1969–1974), die zu einer »Entspannungspolitik«, Ostverträgen und wechselseitiger Anerkennung der – wie man sagte »friedlichen Koexistenz« zweier Staaten – Bundesrepublik Deutschland und DDR (Deutsche Demokratische Republik) – einer deutschen Nation führte.
Es gab erste ökonomische und ökologische Krisen, eine Menschenrechtsbewegung (KSZE) auch im Ostblock, unter US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) ein ruinös teures atomares Wettrüsten und unter dem neuen sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow (*1931)
Abb. 1: Blick von Ost-Berlin her über den Mauerstreifen und das Brandenburger Tor auf den alten Tiergarten.
Mitte der 1980er Jahre dann den verzweifelten Versuch, den Untergang der Sowjetunion, und damit auch der Satellitenstaaten des Ostblocks, auf dem Wege ökonomischer und politischer Reformen aufzuhalten. Der Versuch scheiterte, angefangen bei einer militärischen Niederlage in Afghanistan und starken Oppositionsbewegungen, beginnend in Polen. Gorbatschow verzichtete aber auf das letzte Mittel militärischer Gewalt gegen die Separationsbewegungen im Baltikum, Ungarn und auch der DDR. Dort formierte sich, zunächst im Raum der Kirchen, in den 1980er Jahren ein lange recht schwacher und von Polizei und Stasi (Staatssicherheit) stark verfolgter und überwachter Protest, der im Herbst 1989 – im 40. Jahr der DDR – dann zu Massendemonstrationen führte. Gorbatschow versagte der DDR-Führung (unter Erich Honecker) damals für die gewaltsame Niederschlagung letztlich die Unterstützung.
Ungarn öffnete schon im Sommer 1989 die Grenzen und es kam zu Massenfluchten, in deren Sog die brutal überwachte DDR-Mauer am 9. November 1989 fiel. Die Menschen tanzten auf der Mauer und verloren ihre Angst vor dem Terror der DDR-Diktatur. Wo bisher »Mauerschützen« auf Republikflüchtlinge schossen, begannen »Mauerspechte« sogleich mit der Demontage. Es kam zur »friedlichen Revolution« in der DDR, in deren Verlauf – anders als in Rumänien und anderen Ostblockstaaten – keine Schüsse fielen und keine Menschen starben. Die Ereignisse wurden als »Wahnsinn« und »Wunder« wahrgenommen und die ältere Generation, die sie miterlebte, betrachtete sie ganz überwiegend als großes Glück und prägende Erfahrung. Immanuel Kant (1724–1804), der bedeutendste deutsche Philosoph, hätte den »Enthusiasmus« der Anteilnahme und Zustimmung, wie einst in der Französischen Revolution,1 wohl als »Geschichtszeichen« und Triumph des moralischen und politischen »Idealismus« gedeutet. Der Ruf nach Freiheit hatte über die Diktatur der überalterten SED-Spitze gesiegt. Doch es war damals noch völlig ungewiss, was folgen würde. Darüber hatten die Menschen in der DDR, Bundesrepublik und die europäischen Nachbarn auch sehr unterschiedliche Ideen, Konzepte und Visionen.
Und erst an dieser Stelle beginnt eigentlich unsere Geschichte der neuen Bundesrepublik. Es folgt keine ganze Nationalgeschichte – seit wann eigentlich? – und auch keine Geschichte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung,2 sondern nur das »zweite Leben« der Bundesrepublik, das in seiner Eigenart gegen die »alte« Bundesrepublik abgesetzt wird. Dadurch unterscheidet sich dieses Buch von anderen Darstellungen. Es werden einfach und zügig mit Mut zur Lücke einige Grundlinien skizziert3 und keine starken Kausalitäten behauptet, als ob man exakt wissen könnte, was genau wirkte und wohin es führt. Denn die Geschichte ist offen; sie hat kein eindeutig erkennbares Ziel und ist im Ablauf viel zu komplex und zufällig, als dass man nachträglich mit Gewissheit sagen könnte, weshalb es so kam, wie es kam.
Früher sagte man gerne: Große Männer machen Geschichte! Daran ist jedes Wort fragwürdig: historische Größe, der Genderaspekt, die Machbarkeit der Geschichte und schließlich die überspannte Rede von »der Geschichte« selbst, als ob sie am roten, seidenen oder goldenen Faden eines obersten Webemeisters hinge, der alles vorhersieht und leitet. Der große Dichter Bertolt Brecht (1898–1956), 1933 emigriert und zuletzt (als Theaterdirektor des Berliner Ensembles) in der DDR lebend, spottete 1935 in seinem Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters über ein solches Geschichtsbild: »Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Helmut Kohl (1930–2017) wird heute rückblickend oft der »Kanzler der Einheit« genannt. Man rechnet ihm, dem damaligen Bundeskanzler, als wichtigste historische Leistung zu, die Chance zur Wiedervereinigung diplomatisch ergriffen und genutzt zu haben. Das ist nicht falsch; aber er war sicher nicht allein. Es gab viele Akteure – Köche oder Baumeister – der Einheit in Freiheit: des Beitritts der DDR zur Verfassung der Bundesrepublik.
Schon die Antike wusste: Man soll niemanden vor dem Ende glücklich preisen. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Einfache Erfolgs- oder Glücksgeschichten sind deshalb allenfalls Zwischensummen. Die ältere Geschichtsschreibung sprach viel vom deutschen »Sonderweg«. Die Wiedervereinigung verlockte zu positiven Gesamtwertungen.4 Hier soll die Geschichte bis zur Gegenwart von 2018 nicht nach allzu einfachem Drehbuch verlaufen, aber auch nicht allzu »schwach« in additive Daten zerfallen, wie eine schlechte Powerpoint-Präsentation, die den Betrachter überflutet und erschlägt, ohne eine These und Frage zu haben. Geschichte wirkt, auch wenn Gegenwart und Zukunft nicht vollständig determiniert und in der Entwicklungsrichtung festgelegt sind.
Die folgende politische Geschichte der neuen Bundesrepublik geht einige Themenfelder mit Rückblenden durch und streicht zwei Pole und Phasen der Dynamik heraus: Die Ereignisse seit 1989 wurden zunächst überwiegend als Prozesse der »nationalen« Selbstbestimmung und Lebensgestaltung wahrgenommen: als »Wiedervereinigung« und »Zusammenwachsen« einer Nation; die neueren Entwicklungen im 21. Jahrhundert standen dann mehr unter dem Aspekt der europäischen und globalen Einflüsse und Krisen. Dafür lässt sich etwas akademisch von Prozessen der Nationalisierung und der Globalisierung sprechen.5 Die These der folgenden Darstellung lautet also, dass die erste Epoche der neuen Bundesrepublik durch Züge einer Re-Nationalisierung gekennzeichnet war, der eine Epoche der Globalisierung folgte.
Es liegt nahe, diese Etappen bildlich einfach zu werten und etwa von »glücklichen« Zeiten und Stress- oder Krisenzeiten, von »kaltem« Erwachen oder diffusen Mentalitäten und Befindlichkeiten zu sprechen. Solche Wertungen sind perspektivische Ansichtssache. Letzte Worte sind über die neue Bundesrepublik hier nicht zu sprechen. Es soll aber im Gesamteindruck deutlich werden, dass die Millenniumswende in Deutschland tatsächlich einen Umbruch und ein Ende der Nachwendezeit markierte und bald zu krisenhaften Globalisierungserfahrungen führte. Diese jüngste Geschichte der Bundesrepublik soll den Leser als offene Zukunft ansprechen und Rückfragen, Nachforschungen und Stellungnahmen provozieren. Sie ist ein Teil des eigenen Lebens. Wir verstehen uns nicht ohne sie und sollten sie näher – als hier darzustellen ist – um der eigenen Zukunft willen kennen. Einige elementare Voraussetzungen und Fragen werden dabei zum grundsätzlichen Verständnis erläutert.
1 Kant 1916, Bd. VII,...