Das neue Lebensgefühl:
Wenn die Angst im Kopf festsitzt
Im Juni 2016 fuhr ich, wie ich das oft tue, mit dem Regionalexpress. In der Reihe vor mir saß ein Mann von arabischem Aussehen, den ich durch den Schlitz zwischen den Sitzen nur teilweise sehen konnte. Der Mann öffnete seine Tasche und holte ein Gerät heraus. Ich dachte: »Das sieht aus wie eine Pistole!« Der Mann hantierte irgendwie mit dem Ding herum, und da habe ich zum ersten Mal erlebt, wie es bei mir klick machte und eine Alarmreaktion einsetzte. Ich guckte mich um und sah, dass ich allein mit ihm im Abteil war. Sofort überlegte ich, was machst du, wenn der jetzt aufsteht, mit der Waffe in der Hand. Komischerweise habe ich keine Sekunde gedacht, dass er mich angreifen könnte, sondern nur daran, dass er andere Reisende im nächsten Abteil attackieren könnte. Ich stellte mir vor, wie ich ihm in den Rücken fallen und den Arm runterreißen würde.
Das Szenario wurde immer eindrücklicher, von ganz allein kamen immer mehr bedrohliche Bilder hoch, dabei bin ich überhaupt kein ängstlicher Mensch. So etwas passiert mir sonst nicht. Diese Situation hat mich so in Bann geschlagen, dass ich mir irgendwann wie einem Patienten in einer Therapiesitzung gesagt habe: »Stopp! Schluss mit dieser Fantasie! Jetzt stehst du auf, gehst nach vorn und guckst, was der da macht.« Genau in dem Moment packte der Mann das Ding zurück in seine Tasche. Ich sah noch, dass es keine Pistole war, sondern eine Sprühflasche, und auch sonst war alles vollkommen normal. Aber das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, selbst bei mir, der, wie ich meine, sehr reflektiert mit dem Thema Terror umgeht und Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber eine sehr liberale Haltung vertritt, selbst bei mir ist etwas in Gang gekommen, das nur sehr schwer zu bremsen ist. Das Erlebnis hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. In der Zeit danach habe ich bewusst darauf geachtet, ob auch andere von solchen Angsterlebnissen erzählen. Und da kamen tatsächlich einige Geschichten zum Vorschein.
Es hat sich etwas verändert in unserem Land und in unseren Köpfen. Nach meiner Beobachtung kann man von einem Klima der Angst in Deutschland sprechen. Seit es 2015 in Europa die ersten islamistisch motivierten Anschläge gab und ab Ende August dann Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien und anderen muslimisch geprägten Ländern zu uns kamen, ist das Unsicherheitsgefühl vieler Menschen in Deutschland immens gewachsen.
»2016 ist das Jahr der Ängste«, so das Resümee von Professor Manfred Schmidt, Politologe an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, aus den Ergebnissen der jährlichen repräsentativen Umfrage der R+V Versicherung zu den Ängsten der Deutschen (www.ruv.de). Nie zuvor in den 25 Jahren, in denen diese Umfrage gemacht wird, seien die Ängste in der deutschen Bevölkerung innerhalb von zwölf Monaten so drastisch in die Höhe geschnellt, erklärte Brigitte Römstedt, Leiterin des Infocenters der R+V Versicherung. Die Umfrageergebnisse bestätigen meine persönliche Einschätzung: Die Ängste der Menschen in Deutschland sind auch nach meiner Wahrnehmung innerhalb eines Jahres so stark gewachsen wie nie zuvor.
Mehr als alles andere macht uns – das zeigen auch viele Gespräche, die ich in den vergangenen Monaten geführt habe – der islamistische Terror zu schaffen. Nach den islamistischen Terroranschlägen in Europa rangiert 2016 die Angst vor Terror bei uns zum ersten Mal an erster Stelle. Die Daten für die Umfrage wurden im April und Mai 2016 erhoben, noch vor den Anschlägen in Nizza, Würzburg und Ansbach und bereits ein Dreivierteljahr vor dem schrecklichen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, also bevor es in Deutschland den ersten Terroranschlag mit Toten gab. Schon damals erklärten 73 Prozent der Befragten, »große Angst« vor Terroranschlägen zu haben, das bedeutet im Vergleich zu 2015 einen Anstieg um 21 Prozentpunkte. Gravierend angestiegen sind außerdem unsere Angst vor politischem Extremismus (von 49 auf 68 Prozent) und vor Spannungen durch den Zuzug von Ausländern (von 49 auf 67 Prozent). Ich gehe davon aus, dass diese Werte seit den letzten Anschlägen und vor allem dem in Berlin noch einmal gestiegen sind und dass diese neuen Ängste weiter an Intensität und Wirkungsmacht zugenommen haben. Und dass sie unser Leben wie auch das Klima in unserer Gesellschaft nachhaltig negativ beeinflussen können, wenn wir nicht bewusst dagegen ansteuern.
Die Angst vor weiteren Anschlägen und das Gefühl permanenter Bedrohung machen sich überall bemerkbar. Man hört Männer, die sich laut und scheinbar aggressiv in einer arabisch klingenden Sprache etwas zurufen, und sofort erschrickt man und denkt an ein Gewaltszenario. Man sieht mehrere Polizeiwagen mit Blaulicht zu einem Einsatz fahren und denkt nicht mehr an einen Unfall oder einen Banküberfall, sondern an einen Anschlag und ist von jetzt auf gleich in einem beunruhigenden Angstgefühl gefangen. Beim Anblick eines LKWs in der Stadt oder in der Nähe eines belebten Platzes schaut man sich automatisch nach einer Fluchtmöglichkeit um. Wenn heute ein Mann in den Zug steigt, der einen Rucksack mit einer merkwürdigen Form bei sich trägt, denkt man sofort: »Hoffentlich hat der keine Axt oder ein Schwert oder eine Machete da drin.« Früher hätte man sich gar nichts dabei gedacht oder auf etwas wie eine Fahrradpumpe getippt. Wenn wir den Fernseher einschalten oder auf dem Smartphone Nachrichten anschauen, sitzt immer ein leises Unbehagen im Hinterkopf: Hoffentlich ist nicht wieder etwas passiert … Vor allem bei Großereignissen wie der Fußballeuropameisterschaft in Frankreich, den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro oder während des Oktoberfestes in München war auch bei mir immer der Gedanke präsent: »Hoffentlich passiert nichts! Nicht schon wieder!«
Nach dem Anschlag von Berlin im Dezember 2016 wird sich dieses mulmige Gefühl noch weniger abschütteln lassen. Ich denke, und das lässt sich derzeit beobachten, auch der Staat wird angesichts der hierzulande bislang unvorstellbaren Dimension von terroristischer Gewalt und der Ängste, die diese auslöst, reagieren und verschärfte Sicherheitsmaßnahmen sowie strengere Sicherheitsvorkehrungen auf den Weg bringen. Die Angst verändert so nicht nur unser persönliches Lebensgefühl, sondern zum Beispiel auch das Bild unserer Innenstädte.
Der Terror, die Flüchtlingskrise und die daraus resultierenden gesellschaftlichen und politischen Folgen, wie zum Beispiel Pegida, rechte Gewalt, Veränderungen bei der Abschiebepraxis und eine verschärfte Videoüberwachung, haben auf politischer Ebene, in Talkshows, in den Zeitungen, im Netz, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis und in den Familien zu unzähligen Diskussionen geführt. Mein Eindruck als Psychologe ist, geredet wird viel, doch dem einzelnen Menschen und seiner tatsächlichen Befindlichkeit werden die Debatten oft nicht gerecht. Vor allem die Ängste, die durch die Flüchtlingskrise ausgelöst wurden, werden in der öffentlichen Diskussion oft ausgeblendet. Dass diese Ängste aber definitiv vorhanden sind und dass es vielen Menschen nicht gut damit geht, zeigen mir mein Alltag als Therapeut und die Gespräche mit Kollegen.
Ich will es ganz deutlich sagen: Nach meiner Einschätzung lügt sich jeder, der behauptet, überhaupt keine Angst zu haben, selbst etwas in die Tasche. Ich bin davon überzeugt, dass die Angst, oder zumindest ein Unbehagen, jeden von uns in irgendeiner Form gepackt hat und jeden von uns in irgendeiner Weise beschäftigt – ganz gleich ob er zugibt, dieses Angstgefühl zu kennen, oder es nach dem Motto »Es kann nicht sein, was nicht sein darf« von sich weist. Ich mache oft eine interessante Erfahrung: Wenn ich Menschen, die von sich behaupten, angesichts der Terroranschläge und der Flüchtlingskrise keinerlei Angst zu haben, gezielt darauf anspreche, geben sie mir genau das zu. Dann kommt plötzlich so etwas wie »Ich bin wachsamer geworden«, »Ich werde misstrauischer«, »Ich gucke kritischer auf ausländisch aussehende Menschen«, »Ich habe mehr negative Phantasien im Kopf«.
Vor einem fremd aussehenden Menschen Angst zu haben ist für viele Menschen nicht politically correct. Diese Angst entspricht nicht ihrem Ideal, wie sie sein wollen – offen, tolerant, fürsorglich, hilfsbereit, anderen Menschen zugewandt. Aber es kann nicht die Lösung sein, Angst einfach wegzudrängen. Wir müssen uns mit unserem Gefühl der Unsicherheit und mit unseren Ängsten auseinandersetzen. Sie sind nun einmal da, ob sie nun wünschenswert sind oder nicht. Und wenn wir sie nicht ernst nehmen, werden sie stärker und gewinnen immer mehr Macht über unsere Gedanken und Gefühle und damit auch über unser Verhalten.
Beim Schreiben dieses Buches ist mir aufgefallen, dass es schwer ist, nicht politisch Position zu beziehen. Ich will in diesem Buch keine politischen Statements abgeben oder in eine bestimmte politische Richtung beeinflussen. Vielmehr möchte ich als Psychologe wertfrei beschreiben, was ich in jüngster Zeit bei Patienten, Freunden und Bekannten wahrgenommen habe.
Ein Ziel dieses Buches ist es, jene Ängste zu benennen und zu beschreiben, die sich so mancher von uns nicht eingestehen mag. Es geht mir darum, die Menschen in ihren individuellen emotionalen Reaktionen zu betrachten und abzubilden, was in ihnen vor sich geht, wie sie fühlen. Jenseits dessen, wie wir sein müssen oder sein wollen, jenseits aller politischen oder ideologischen Vorstellungen, jenseits der Political Correctness. Es geht aber auch darum, die kollektiven Reaktionsweisen anzuschauen, also zu prüfen, was macht Angst...