1.3 Quod decet? – Das Schöne und das Erhabene
Die Vorstellung – nicht der Begriff – von Angemessenheit in rhetorischem Rahmen evoziert auch die philosophische Gegenüberstellung vom Angemessenen und Schönen oder vom Angemessenen und Erhabenen. Nicht nur Platon (Hippias Maior 291d-e), sondern auch Augustinus’ verloren gegangene Schrift (Vom Schönen und Angemessenen) oder Kant und Schiller beschäftigen sich mit dem Konzept von Angemessenheit als einem philosophischen Ideal oder einer ästhetischen Vorstellung. Das Angemessene und das Schöne können Gegenpole sein (Angemessenes als bloßer Schein des Schönen), Attribute füreinander oder das Angemessene im Sinne von Aristoteles (Rhetorik 1367b12-1367b20) zeigt sich in den schönen Taten. Das Schöne wiederum übertrifft das Angemessene, indem es mehr als angemessen im positiven Sinn meint und sich vor allem auf das menschliche Verhalten bezieht. Andererseits werden hohe Anforderungen an die Angemessenheit gestellt: Vernunft und Gefühl müssen zusammenwirken, wenn etwas Schönes entstehen soll. Sulzer sieht diese Fähigkeit vor allem beim Künstler, wenn er sagt, dass: „zwar [...] Künstler von feinem Geschmake selten in den Fehler des Unangemessenen verfallen; aber das genaue Angemessene erfordert große Scharfsinnigkeit und feines Gefühl. Eben darum aber giebt es den Werken des Geschmaks eine große Schönheit.“ Schönheit schließlich steht in einem Bezug zum Erhabenen, muss aber auch davon abgegrenzt werden.
Unter den Begriffen des Schönen, Angemessenen und Erhabenen werden Möglichkeiten der ästhetischen Repräsentation beschrieben, die philosophisch und rhetorisch konnotiert sein können. Zunächst soll untersucht werden, welcher Bezug in der Rhetorik zwischen dem decorum und dem Erhabenen besteht.
Das Erhabene taucht in der antiken Rhetorik als Stilart der pathetischen Rede und Gattung der Festrede (genus demonstrativum) auf und dient zum einem dem movere/flectere sowie dem Pathos einer Rede. Erhabenheit in der Sprache kann emotional bewegend werden. Welchen Bezug hat das Erhabene dann in der Rhetorik zur Urnorm des decorum?
In der antiken Rhetorik des Aristoteles, Cicero und Quintilian ist Erhabenheit in der elocutio als genus grande, genus sublime oder genus vehemens verortet. Doch obwohl diese dritte Stilart nach dem genus subtile/genus humile und genus medium/genus mixtum als der überzeugendste Stil bei Cicero (Orator, 97) gilt und die größte Macht der Beredsamkeit („vis omnis oratoris“, Orator, 97) darstellt, ist sie nicht ohne Beschränkung frei anwendbar. Der wahre Redner, den zu skizzieren Ciceros erklärtes Ziel ist, ist ein wortgewaltiger Redner, der alle drei Stile meisterhaft einsetzen und in einer Rede auch miteinander verbinden kann. Denn, ob ein erhabener Stil eingesetzt, wann und in welchem Maße er eingesetzt wird, ist dem πρέπον/decorum unterstellt. Als angemessen gilt in Ciceros Orator, 70-72, was sich gemäß dem Redegegenstand (res), dem Redner (orator) und dem Publikum (auditor) ziemt. Auch für Aristoteles (Rhetorik III, 12, 1413b2ff.) ist Stil primär decorum und rechtes Maß. Lexik und Performanz werden nach dem rhetorischen Gesetz der Angemessenheit je situativ gewählt. Das decorum lässt eine erhabene Rede nicht in Überschwang und Lächerlichkeit abgleiten und sichert somit die volle Macht einer Rede, die zu Herzen spricht, in sie eindringt und dort Überzeugungsarbeit leistet (De oratore II, 187). Das decorum lässt nach Auffassung des rhetorischen Dreigestirns Aristoteles, Cicero und Quintilian Erhabenheit im Stil einer Rede erst möglich und in voller Gänze wirksam werden.
Doch im Altgriechischen meint ὔψος nicht nur den erhabenen Stil, sondern kann auch auf Personen bezogen sein. In Platons Politeia 487a diskutieren Glaukon und Sokrates über notwendige Eigenschaften der philosophischen Seele bei der Wahrheitssuche und sprechen dabei über die Vorbedingungen eines von Natur aus großen Mannes, der sich durch seine Eigenschaften wie Gelehrigkeit, Edelmut, Anmut, durch Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit hervortut. Auch Aristoteles behandelt in seiner Nikomachischen Ethik 1107b17 das Thema des tugendhaften Handelns als dasjenige, welches stets die Mitte wählt. Die Mitte ist das rechte Maß. Doch diesem widerspricht das Erhabene. Der altgriechische Terminus μεγαλοπρεπής bezeichnet einen Menschen mit einer großen Seele, der sich durch edle Naturanlage in seinem Charakter als ein großer Mann auszeichnet. Dieses altgriechische Adjektiv, das übersetzt „einem Großen angemessen“ und „erhaben“ bedeutet, wird außerdem bei Platon in Lysis 215e1 im Sinne von „großartig/höher“ und bei Pseudo-Demetrios in seinem Traktat Über den Stil (περὶ ἑρμηνείας/De elocutione), § 36 als einer von vier Stilen (χαρακτῆρες) eingeführt. Er löst sich hierbei von der klassischen Dreistillehre und führt stattdessen den einfachen (ἰσχνός), erhabenen (μεγαλοπρεπής), glatten/eleganten (γλαφυρός) und den gewaltigen Stil (δεινός) ein.
Das zentrale Werk der Antike zum Begriff des Erhabenen steuert der Theoretiker Pseudo-Longinus bei. In der Schrift Vom Erhabenen in 9,2 wird Erhabenheit als moralisches Vermögen und innere Kraft verstanden: „ὔψος μεγαλοφροσύνης ἀπήχημα“ (Erhabenheit sei Widerhall von Seelengröße). Till betont, dass Pseudo-Longinus die Erhabenheit als Fähigkeit des Menschen sieht. Sie speist sich aus mehreren Quellen, wobei ästhetische, ethische, personelle und rhetorisch methodische Fähigkeiten eine Verbindung eingehen. Das Erhabene bei Pseudo-Longinus ist somit mehr als ein Stilbegriff, mehr als eine ästhetische Qualität und intendierte Wirkung, es weist auf den Menschen zurück. In der Rede ist nach Pseudo-Longinus’ Schrift Vom Erhabenen (12,4) das Erhabene ein Ideal, aber auch eine rhetorische Kraft (δυναστεία καὶ βία) am richtigen Ort zur rechten Zeit (καιρός) (Vom Erhabenen 1,4). Verfügt der Redner über diese Kraft, dann kann er über sich hinauswachsen, ja fast die Seelengröße Gottes erreichen (36,1). Die pathetische Kraft des Redners macht auch vor schrecklichen Bildern (9,7) nicht halt, die eigentlich gegen das Geziemende (τὸ πρέπον) verstoßen, aber sich quasi gewaltsam entleeren, einschlagen wie ein Blitz: „Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.“
Ist das Erhabene vielleicht die Ausnahme, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt? Und wenn ja, wie kann das sein? Und schließlich, wie wirken decorum und Erhabenes aufeinander ein?
Immanuel Kant gilt nicht nur aufgrund seines kategorischen Imperativs, seiner Pflichtethik und transzendentalen Vernunftkritik als wegweisender Philosoph des 18. Jahrhunderts, sondern er analysierte in der Kritik der Urteilskraft (1790) auch die beiden Begriffe des Schönen und Erhabenen. In dieser dritten und letzten Kritik bestimmt Kant die ästhetische Urteilskraft als selbsttätiges Erkenntnisvermögen und als Denkungsart, die „entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich“ und so „mit dem moralischen Gefühl“ (KdU B, 170) verwandt ist.
Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.
Kant grenzt somit das Schöne deutlich vom Erhabenen ab. Schönheit gefällt unmittelbar, wird wahrgenommen mittels des Verstandes und der Einbildungskraft, wird „ästhetisches Reflexionsurteil“ (Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, IX) aufgrund formaler Kriterien. Es setzt „Erkenntnisvermögen“ (KdU B, LVI, LVII) voraus, ist „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz“ (KdU B, 70), dessen Bestimmungsgrund das Gefühl ist. Das ästhetische Urteil wird von der „Urteilskraft in ihrer Freiheit“ (KdU B, 120) getroffen, wobei zwei Gemütskräfte, nämlich Einbildungskraft als „Vermögen der Anschauung“ und Verstand als „Vermögen der Begriffe“ (KdU B, 155/156) zusammenwirken. Somit ist das Schöne auf der einen Seite ein Geschmacksurteil, also subjektiv (KdU B, 138/139), auf der anderen Seite ist damit aber auch ein „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“ (KdU B, 19) verbunden.
Das Erhabene geht darüber hinaus. Man nimmt es zwar ebenso „unmittelbar“ wahr, aber der Reiz löst offensichtlich auch einen gewissen Widerstand beim Betrachtenden aus. Dieser resultiert aus der formlosen Beschaffenheit und aus der Unbegrenztheit des Erhabenen, so dass sich die Idee des Erhabenen am meisten „in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt“, zeigt. Vom „Gefühl des Erhabenen“ (KdU B, 75/76) ergriffen, wird der Mensch vom Objekt – beispielsweise von Naturphänomenen – nicht nur angezogen, sondern auch abgestoßen. Aus diesem Grund spricht Kant von einer „indirekten“ und „negativen Lust“, wenn der Mensch vom Erhabenen als einem ästhetischen...