Das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien hat den Weltkrieg herbeigeführt. Seine unmittelbare Ursache war der Zusammenstoß des habsburgischen Imperiums mit dem Freiheits- und Einheitsdrang des südslawischen Volkes.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich aus den südslawischen Bauernstämmen das südslawische Bürgertum entwickelt. Unter der Führung ihres Bürgertums standen die südslawischen Stämme im Kampfe gegen den Zustand der nationalen Fremdherrschaft und der nationalen Zersplitterung, die der Feudalismus in Jugoslawien begründet hatte. Dieser Kampf war die bürgerliche Revolution der Jugoslawen. Sein Ziel war die Liquidierung der feudalen Herrschaftsverhältnisse auf südslawischem Boden. Diese nationale Revolution der Jugoslawen war der Ausgangspunkt des Krieges. Sie leitete die nationale Revolution ein, der die Habsburgermonarchie erlegen ist.
Schon im 9. Jahrhundert sind die Slowenen – der nordwestliche Stamm des südslawischen Volkes – unter deutsche Fremdherrschaft gefallen. In ganz Slowenien wurden die slawischen Bauern deutschen Grundherren zins- und fronpflichtig. Deutsch war der Herrenhof, slowenisch das Bauerndorf. Den deutschen Grundherren folgten deutsche Bürger. Sie begründeten die Städte im Wendenland; die Städte waren deutsch, die Dörfer blieben windisch. So fielen hier Klassenscheidung und nationale Scheidung zusammen. Noch im 19. Jahrhundert klagte der krainische Dichter Franc Pešeren:
Deutsch sprechen in der Regel hierzulande
Die Herrinnen und Herren, die befehlen;
Slowenisch die, so von dem Dienerstande.
So war ein Jahrtausend lang die slowenische Sprache bloße Bauernmundart, das slowenische Volk eine geschichtslose Nation. Ein slowenisches Schulwesen konnte nicht entstehen; denn Schulen gab es nur für die Söhne der deutschen Grundherren und Bürger, nicht für die der slawischen Bauern. Eine slowenische Literatur konnte sich nicht entwickeln; denn wer hätte in einer Sprache, die nur die unwissenden, analphabetischen Bauern sprachen, Bücher schreiben wollen? Als in den Sturmtagen der Reformation protestantische Prädikanten auch den Bauern das Evangelium predigen wollten, stellte einer von ihnen, Primož Trubar, fest, daß „kein Brief oder Register, noch weniger ein Buch in unserer windischen Sprache zu finden war; denn man hielt dafür, die windische Sprache wäre so grob und barbarisch, daß man sie weder schreiben noch lesen könne“. Trubar und Juri Dalmatin, die die Bibel in die slawische Bauernsprache übertrugen, mußten hunderte Wörter fremden Sprachen entlehnen; denn die slowenische Sprache hatte Bezeichnungen nur für Begriffe des bäuerlichen Lebens. Habsburgs blutige Gegenreformation bereitete auch diesen ersten Versuchen, eine slowenische Literatursprache zu schaffen, ein schnelles Ende: Trubars ketzerische Schriften wurden verbrannt; und wiederum verschwand für zwei Jahrhunderte die slowenische Sprache aus der Literatur.
Und wie an allem höheren Kulturleben, so hatte auch an allem staatlichen Leben das slowenische Bauernvolk ein Jahrtausend lang keinen Anteil. Denn nur die Grundherrenklasse, nicht die Bauernschaft war in diesem Jahrtausend Trägerin des staatlichen Lebens. Mit der Unterwerfung unter die deutschen Grundherren fielen die slowenischen Bauern unter die Herrschaft des deutschen Herzogtums Karantanien; mit den Ländern, in die das Herzogtum zerfiel, fielen sie an das deutsche Österreich. Über den Grundherrschaften, in denen die slowenischen Bauern den deutschen Feudalherren fronten, baute sich die politische Herrschaft des deutschen Österreich über den slowenischen Volksstamm auf.
Ein halbes Jahrtausend später als der nordwestliche verfiel der südöstliche Zweig des jugoslawischen Volkes ähnlichem Schicksal. Nach der Niederlage am Amselfeld (1389) wurden die serbischen Fürsten zu Vasallen der türkischen Großherren; nach der Katastrophe von Varna (1444) wurden die serbischen Länder zu türkischen Provinzen. Das serbische Volk wurde zur geknechteten ausgebeuteten Rajah. Die Städte wurden zu türkischen Festungen; nur die Dörfer blieben serbisch. Und über die serbischen Bauern herrschten die türkischen Spahis und die griechischen Priester. Nur in Bosnien behauptete sich ein Teil des nationalen Adels; aber er behauptete Besitz und Würde nur um den Preis, daß er den Islam annahm und damit in dem herrschenden Osmanentum aufging. So war auch das serbische Volk unter Fremdherrschaft gefallen.
Nur im Zentrum des Siedlungsgebietes der Südslawen, in Kroatien, hat sich ein nationales Staatswesen behauptet. Nur dort lebte das Volk unter der Herrschaft nicht eines fremden, sondern eines nationalen Adels. Aber auch dort ging in furchtbaren Stürmen ein Stück nationaler Selbständigkeit nach dem andern verloren. Von den Türken bedroht, war das dreieinige Königreich nicht imstande, Dalmatien gegen die Venezianer zu schützen. So verfiel dieses slawische Land italienischer Fremdherrschaft. Kroatien selbst aber warf die Türkennot zuerst den Habsburgern in die Arme. Dann, nach der Zurückdrängung der Türken, stürzte sich der kroatische Adel, vom habsburgischen Absolutismus im Besitz seiner ständischen Privilegien bedroht, Ungarn in die Arme, um, sei es auch um den Preis des Verzichts auf staatliche Selbständigkeit, mit dem mächtigeren magyarischen Adel vereint, die ständischen Rechte zu verteidigen. So verlor, zwischen Türken und Venetianern, zwischen Österreich und Ungarn, der kroatische Adel nationale und staatliche Selbständigkeit. Viele Adelsfamilien wurden in den Türkenkriegen ausgerottet. Andere endeten in den Kuruzzenkriegen auf österreichischem Schafott. Deutsche, magyarische, italienische Feudalherren erbten die Latifundien der kroatischen Magnaten. Der Rest des höheren kroatischen Adels erlag der mächtigen Anziehungskraft der Wiener höfischen Sitte; war die lateinische Sprache die Verhandlungssprache des Sabors und die Amtssprache der Behörden, so bediente sich der gebildete Adel im täglichen Umgang der deutschen oder der italienischen Sprache. Nur der unwissende Bauernadel, die „Zwetschkenjunker“, sprachen noch kroatisch. Die staatlichen Sonderrechte Kroatiens aber gab der kroatische Adel Ungarn preis, um sich, mit dem magyarischen Adel vereint, als una eademque nobilitas, des habsburgischen Absolutismus zu erwehren: als Josef II. die Leibeigenschaft in Ungarn und Kroatien aufhob, übertrug der kroatische Sabor sein Steuer- und Rekrutenbewilligungsrecht dem ungarischen Reichstag, um in ihm seinen Beschützer gegen die Bauernbefreiung zu finden. So ward Kroatien zum bloßen „angegliederten Teil“ Ungarns. So war auch der kroatische Adel kein Träger nationaler Kultur und nationaler Selbständigkeit mehr.
So hatte der Feudalismus den jugoslawischen Stämmen eine furchtbare Erbschaft hinterlassen. Österreich und Ungarn, Venedig und die Türkei hatten ihr Gebiet untereinander geteilt. In Slowenien saßen deutsche, in Dalmatien italienische, im Banat und in der Bacska magyarische Herren, in Serbien türkische Spahis, in Bosnien mohammedanische Begs über den hörigen slawischen Bauern. Überall waren die Jugoslawen zu einem geschichtslosen Bauernvolk, zu Hintersassen fremder Grundherren geworden; selbst in Kroatien war der nationale Adel seinem Volkstum entfremdet. Nur der Bauer war der Träger des nationalen Lebens. Aber der Gesichtskreis des armen, unwissenden Bauern reichte über die Grenzen der Grundherrschaft, der er fronte, kaum hinaus. Den windischen Bauern Kärntens galten schon die Krainer als Fremde. Die katholischen Bauern in Kroatien haßten die griechisch-orthodoxen Nachbarn als Ungläubige. Ein Bewußtsein nationaler Gemeinschaft der jugoslawischen Stämme gab es nicht. Es hat einer langen Kette gewaltiger Umwälzungen bedurft, um das jugoslawische Volk aus diesem Zustand der Knechtschaft, der Geschichtslosigkeit, der Zerstückelung emporzuführen.
Der Krieg, den Josef II. und Katharina II. im Jahre 1788 gegen die Türkei begannen, war der Wendepunkt der serbischen Geschichte. Österreich rief damals die serbische Rajah zum Kampfe gegen die Türkenherrschaft auf. Den lautesten Widerhall fand dieser Ruf in dem kleinen Splitter des serbischen Stammes, der sich ein Jahrhundert vorher unter der Führung des flüchtigen Patriarchen von Ipek in Ungarn angesiedelt hatte. Viele von den serbischen Kolonisten hatten in dem fremden Lande, wie es entwurzelte, in fremdes Land verpflanzte Gastvölker zu tun pflegen, im Handel Erwerb gefunden; so hatte sich hier ein handeltreibendes serbisches Bürgertum entwickelt, von dessen Söhnen so mancher den Weg an deutsche Universitäten fand, dort unter den Einfluß der Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts geriet und gewahrte, wie eben damals in der Wissenschaft die lateinische Kirchensprache durch die deutsche Volkssprache ersetzt wurde. Da setzte nun unter den ungarischen Serben lebhafte Bewegung ein. Schulen und Kirchengemeinden wurden gegründet. Dositej Obradović imd Vuk Karadžić ersetzten die kirchenslawische Schulsprache durch die Volkssprache, „wie sie auf dem Markt geredet und beim Reigentanz gesungen wird“, und schufen damit die neue serbische Schriftsprache und die Anfänge des neuen serbischen Schrifttums. Zugleich aber weckte der Waffenlärm auch die Rajah jenseits der Save. Serbische Freischaren kämpften unter österreichischem Kommando gegen die Türken. Und wenngleich Österreich die serbische Rajah den Türken wieder preisgab, als die Schreckensnachrichten über die Anfänge der großen Französischen Revolution die Aufmerksamkeit des Wiener Hofes nach dem Westen lenkten, haben...