Auf dem Hügel eine Burg und rings um sie das Land des Burgherrn. Abseits ein Bauerndorf. Die Bauern verpflichtet, auf dem Herrenlande ohne Entgelt Arbeit zu verrichten, die Fron oder Robot, und dem Grundherrn in regelmäßigen Zeiträumen, bei Todesfällen und Heiraten Abgaben zu leisten; der Grundherr richtet über die Bauern im Hofgericht; er selbst oder sein Vertreter, der Meier, regelt die Nutzung der gemeinen Mark, des Waldes und der Weide; er bietet die Landgemeinde auf, wenn der Feind in das Land einfällt. Das etwa ist das Bild der Grundherrschaft, auf der die Gesellschaftsverfassung der Deutschen während des Mittelalters ruhte.
Die Grundherrschaft ruht auf der ungezählten Arbeit, auf der Ausbeutung der Bauern. Freilich auf einer Ausbeutung, der enge Grenzen gesetzt sind. Denn das Getreide, das der Bauer für den Grundherrn auf dem Herrnlande erntet, das Vieh, das der Bauer als Abgabe leisten muss, wird in der Regel nicht verkauft: noch gibt es keinen Markt für landwirtschaftliche Produkte, noch baut sich jedermann sein Getreide selbst. So brauchen auch die Bauern dem Grundherrn nicht mehr erarbeiten, als dieser mit seiner Familie und seinem Gesinde verzehren kann. „Die Magenwände des Grundherrn waren die Grenzen der Ausbeutung des Bauern.“
Die Grundherrenklasse aber nimmt als Gegenleistung für die Arbeit der Bauern auch eine gesellschaftliche Aufgabe auf sich, nämlich die Verteidigung des Landes nach außen. Dies ist eng verknüpft mit jener Umwälzung im Heerwesen, die die wachsende engere Verknüpfung des Bauern mit dem Boden, auf dem er sitzt, seit dem Übergange zum sesshaften Ackerbau bewirkte. Schon in dem Zusammenschluss der Völkerschaften zum Stamme fanden wir diese Umwälzung als eine treibende Kraft. Je intensiver die Kultur wurde, desto unmöglicher ward es, die Bauern aufzubieten zu weiter Heerfahrt. So zieht der Bauer nicht mehr in den Krieg, sondern ernährt statt dessen durch seine Arbeit den Grundherrn und dessen Gesinde; sie ziehen dann statt seiner ins Feld. Die alte Heeresverfassung ward durch die neue Wirtschaftsverfassung gesprengt. Nur wenn der Feind in das Land einbricht, ergreift noch der Bauer selbst die Waffen. Das Angriffsheer aber ist kein Fußvolk mehr, wie es das germanische Heer im Zeitalter des Tacitus überwiegend gewesen. Wie wäre es auch möglich gewesen, dass etwa in dem weiten, über Frankreich, Deutschland, Italien sich ausdehnenden Reiche der Karolinger in jener verkehrsarmen Zeit die Grundherren und ihr Gesinde zu Fuß zusammenstoßen. um gegen die gemeinsamen Feinde zu kämpfen! Wie diese Feinde zu Pferde kamen – Araber, Avaren, Magyaren – so wurde auch das aus den Grundherren und ihren Gefolgschaften sich zusammensetzende Heer ein Reiterheer. So scheidet das Merkmal der Lebensweise das Volk in zwei Teile: auf der einen Seite die Bauern, langst sesshaft geworden auf ihrer Scholle; auf der anderen die ritterlich lebenden Grundherren und ihre Gefolgschaften, deren einzige gesellschaftliche Bestimmung die Verteidigung des Landes gegen den Feind ist. Die ritterliche Klasse aber ist natürlich die herrschende: der Bauer, der ihr die Führung der Waffen anvertraut, hat ihr damit auch das Werkzeug der Macht in die Hand gegeben, hat sich ihrer Herrschaft unterworfen.
Uns interessiert hier der lange historische Prozess nicht, in dem aus der alten Gesellschaftsverfassung der Germanen die Grundherrschaft und mit ihr die Differenzierung der Ritter und der Bauern entstanden ist. Uns kümmern auch die Veränderungen nicht, die die Grundherrschaft selbst während des Mittelalters erfahren. Die Frage, die uns hier beschäftigt, ist nur die: Wo ist im Zeitalter der Grundherrschaft die Nation?
Da müssen wir uns nun zunächst hüten, noch immer. in der gemeinsamen Abstammung das zu suchen, was die Nation allerwärts zusammenhielt. Denn längst hat einerseits die territoriale Sonderung der Stämme, andererseits die Aufsaugung fremder Elemente die alte Naturgemeinschaft, auf der auch die germanische Kulturgemeinschaft noch ruhte, zerstört.
Zunächst die territoriale Isolierung! Sie wirkt am stärksten auf den Bauern ein. Kein Band des Verkehrs verknüpft mehr die Bauern verschiedener Gebiete, verschiedener Stämme. Keine Wechselheiraten vermengen mehr ihr Blut. Die natürliche Auslese wirkt anders in jedem Land, in dem die Lage, das Schicksal, der Daseinskampf der Bauern ein verschiedenartiger ist; und kerne Vermischung gleicht die so entstandenen Unterschiede aus. So werden die Bauern fast jeden Tales eine eigene Rasse, in der der Daseinskampf einen eigenen Typus hervorgebracht hat, den keine Vermischung mit dem Nachbarvolk vermengt. Viel stärker als die gemeinsame Abstammung von einem Urvolk her wirkt seit Jahrhunderten die Verschiedenheit der Abstammung von verschiedenen Stämmen, von verschiedenen Stammesteilen, die längst, abgesondert von den Bauern anderer Landesteile, ihr selbständiges Leben führen. Was hat der Oberfranke etwa, nicht nur mit dem Sachsen, sondern auch nur mit dem Niederfranken gemein?
Aber zur territorialen Isolierung, die die Volksstämme immer mehr und mehr differenziert, aus dem einheitlichen Volke eine Unzahl auch der Abstammung, der Naturanlage nach verschiedener Völklein entstehen lässt, kommt noch die Vermischung mit fremden Völkern, die den Charakter der alten Naturgemeinschaft um so mehr verwischen musste, als die Vermischung in den verschiedenen Teilen Deutschlands ganz verschiedenartig gewesen ist.
Das erste Volk, das außer dem germanischen, dem heutigen deutschen Volke Blut zugeführt hat, sind, soweit unsere geschichtliche Überlieferung reicht, die Kelten. Im Dunkel der Geschichte verlieren sich die Nachforschungen über die ältesten Verkehrsbeziehungen zwischen Kelten und Germanen; Gräberfunde beweisen, dass die Germanen von den Kelten Waffen und Hausgerät aller Art eingetauscht und von ihnen mancherlei in der Kunst der Stoffverarbeitung, besonders der Metallverarbeitung, gelernt haben. Selbst weit im Norden standen die Germanen unter dem Einflüsse jener keltischen Kulturkreise, die wir aus den Funden von Hallstatt und La Tène kennen. Auch die Sprachvergleichung lehrt, dass manches keltische Wort frühzeitig in den germanischen Sprachschatz eingegangen sein muss. Viel enger wurden aber die Beziehungen der beiden Völker, als die Germanen in keltisches Gebiet einzudringen begannen. Zwischen Oder und Weichsel waren höchstwahrscheinlich die ältesten Sitze der Germanen. Von hier aus drängen sie langsam in das Land zwischen Rhein und Oder vor und bald selbst über den Rhein. Dieses Land aber war kein herrenloses Land; dort saßen lange vor ihnen die Kelten. Wie sich das Verhältnis der beiden Nationen zueinander ursprünglich gestaltete, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass schließlich die Germanen der Kelten Herren geworden. Vielleicht hängt dies mit den großen Wanderungen der Kelten zusammen, die im 4. Jahrhundert v. Chr. in Italien, im 3. Jahrhundert in Thrakien, Makedonien, Griechenland und Kleinasien einfallen. Durch den Auszug eines großen Teiles des Volkes auf dem Boden des heutigen Westdeutschland geschwächt, sind die zurückgebliebenen keltischen Völkerschaften wahrscheinlich von den Germanen unterworfen worden. Auch Cäsar weiß davon zu berichten, dass der germanischen Herrschaft in Deutschland eine Zeit vorausgegangen war, wo die Kelten militärisch und politisch stärker waren als die Germanen.
Wie geschah nun das Einrücken der Germanen in keltisches Land? Kein Zweifel, häufig rückten die Germanen in Gebiete ein, die die keltischen Völkerschaften vorher verlassen hatten. So fanden die Germanen im heutigen Württemberg und Baden das Land leer, das einst den Helvetiern gehört hatte; ebenso wanderten die Belger aus, als die Germanen das Land besetzten. Aber gewiss ist auch, dass die Germanen auch keltische Gebiete erobert haben, in denen wenigstens Teile des keltischen Volkes zurückgeblieben waren, und dass sie diese Kelten in verschiedenartige Abhängigkeitsverhältnisse gebracht haben. Keltische Orts- und Flussnamen lassen uns heute noch erraten, dass das Land nicht leer und wüst, sondern von Kelten bewohnt war, das die Germanen besetzten. Auch in der Art der Siedelung und Flurteilung hat man keltischen Ursprung erkannt.
Was war nun das Schicksal der Kelten, wenn die Germanen in ihr Land einrückten? Darf man annehmen, dass die germanischen Sippschaften sich mit den Kelten vermengt haben? In den späteren Zeiten, insbesondere in den Zeiten der großen Wanderung ist dies gewiss oft geschehen. Im Heere der Zimbern fanden sich auch zahlreiche keltische Heerhaufen. Die ostgermanischen Völkerschaften, die das Römerreich vernichteten, führten durchwegs fremde, sehr häufig auch keltische Elemente mit sich. Wo die Kelten in den germanischen Sippschaften nicht aufgegangen sind, dort lebten sie zunächst abgesondert als Unfreie und Halbfreie. Angesiedelt auf dem Lande, zahlten sie den Germanen Tribut und standen unter der Gewalt der germanischen Gemeinwesen. Kein Zweifel, dass sich unter den Halbfreien und Unfreien, von denen uns Tacitus berichtet, sehr zahlreiche keltische Elemente befunden haben. Für die Erkenntnis der Abstammung der Germanen ist dies darum wichtig, weil diese Halb- und Unfreien später durchaus aufgegangen sind im deutschen Volke. Wo die vollständige Aufsaugung der keltischen Elemente in der germanischen Periode oder im Zeitalter der großen Wanderung noch nicht erfolgt ist, dort hat der große Prozess der Klassenbildung im Mittelalter mit seinem Aufgehen der Unfreien in den beiden Gesellschaftsklassen – in den Rittern und Bauern – die...