I. Die Philosophie und die Physiker
Nichts kommt der Ignoranz moderner Philosophen in Sachen der
Naturwissenschaft gleich außer der Ignoranz moderner Wissenschaftler
in Sachen Philosophie.
É. H. Gilson
Den Titel zu diesem ersten Kapitel borge ich mir von Susan Stebbings Buch Philosophy and the Physicists aus dem Jahr 1937.[1] Dort protestiert eine Philosophin im Namen der Philosophie gegen die Art und Weise, in der zumindest zwei Physiker ihrer Zeit – Eddington und Jeans – als Physiker, d.h. im Zusammenhang mit ihrer Wissenschaft, mit der Philosophie umgehen. Auf dieses Buch werde ich zurückkommen. Ich werde versuchen, das Verhältnis der Physiker zur Philosophie zu charakterisieren, und zwar zunächst allgemein, wenn auch anhand einiger ausgesuchter Beispiele. Meine grobe Unterteilung berücksichtigt das Verhältnis der Physiker (der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts)
1. zur traditionellen Philosophie,
2. zur zeitgenössischen Philosophie,
3. zur Wissenschaftsphilosophie ihrer Zeit.
Schon in dieser allgemein gehaltenen Einführung wird auch die Reaktion von Philosophen auf das Eindringen der Physiker in ihren geheiligten Bezirk zu erwähnen sein. Der Fall Stebbing war eine solche Reaktion. Weder hier noch anderswo wird jedoch die Frage erschöpfend behandelt, inwieweit das Verhalten der Physiker zu einer echten Auseinandersetzung mit den jeweils zeitgenössischen Philosophen geführt hat. Gelegentlich werde ich darauf zu sprechen kommen, und bereits in der Einleitung wurden Philosophen wie Cassirer, Reichenbach und Popper erwähnt, die explizit auf den tiefgreifenden Wandel in der neuen Physik reagiert haben. Aber mein eigentlicher Untersuchungsgegenstand ist dies nicht. Allerdings ist diese Zurückhaltung auch von dem Umstand diktiert, daß die fragliche Auseinandersetzung zumindest nicht sehr intensiv war, sofern sie überhaupt stattgefunden hat.
A) Traditionelle Philosophie
Die in ihrer Gesamtheit philosophiefreundliche Phase der Physik ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist aus einer seitens der Physiker ausgesprochen philosophiefeindlichen Zeit hervorgegangen. Die Behauptung, daß es sich so verhalten habe, entnahmen wir schon den Zitaten Sommerfelds, der als Student und angehender Wissenschaftler das Ende der ‹schlimmen Zeit› noch miterlebt hat. Wir wollen aber für einen Augenblick noch weiter zurückgehen bis in die Zeit des deutschen Idealismus und seiner Naturphilosophie. Denn die Opposition gegen diese romantische Naturphilosophie[2] hatte vorübergehend zu einer gänzlichen Entfremdung zwischen Physik und Naturforschung einerseits und Philosophie und Metaphysik andererseits geführt.
Um anschaulich zu bleiben und die Abscheu der Naturwissenschaftler einsichtig zu machen, will ich einige Zitate von Schelling bringen, obwohl das in dieser Isoliertheit etwas unfair ist. Man muß entschuldigend oder wenigstens erklärend hinzufügen, daß sich Schelling und seine Weggenossen in dieser Sache nichts weniger vorgenommen hatten als die Etablierung der Identität von Natur und Geist in der Naturphilosophie. Vor diesem Hintergrund waren für Schelling die von einer empirischen Physik zu liefernden Ergebnisse, die zeigen konnten, wie die Natur im einzelnen beschaffen ist, ziemlich uninteressant. Da er als Idealist bei dem Nachweis der Identitätsthese primär vom Geistigen ausging, erstreckte sich dieses Desinteresse auch auf jegliche naturwissenschaftliche Erklärung von Wahrnehmung und Denken. Schelling ging sogar so weit, seine Spekulationen, soweit sie sich auf die Natur bezogen, als «spekulative Physik» zu bezeichnen und eine scharfe Grenze zwischen dieser und einer empirischen Physik aufzurichten. Nach einem Text von 1799[3] unterscheidet sich seine spekulative Physik von der empirischen dadurch,
daß jene einzig und allein mit den ursprünglichen Bewegungsursachen in der Natur, … diese hingegen, weil sie nie auf einen letzten Bewegungsquell in der Natur kommt, nur mit den sekundären Bewegungen … sich beschäftigt, da jene überhaupt auf das innere Triebwerk, … diese hingegen nur auf die Oberfläche der Natur und das, was an ihr … gleichsam Außenseite ist, sich richtet.
Und an einer anderen Stelle des genannten Werkes bemerkt Schelling, es komme ihm
auf die Überzeugung an, daß zwischen Empirie und Theorie ein solcher vollkommener Gegensatz ist, daß es kein drittes geben kann, worin beide zu vereinigen sind, daß also der Begriff einer Erfahrungswissenschaft ein Zwitterbegriff ist, bei dem sich nichts Zusammenhängendes oder der sich vielmehr überhaupt nicht denken läßt …
Obwohl die Naturphilosophie des deutschen Idealismus auch zu einigen Anregungen in der Physik geführt hat, verwundert es nicht, daß sich Naturwissenschaftler gegen die durch solche Texte ausgezeichnete spekulative Physik Schellings zur Wehr setzten. Wir besitzen sogar Zeugnisse von zeitweiligen Anhängern, etwa dem Chemiker Liebig, der bekennt:[4]
Auch ich habe diese an Worten und Ideen so reiche, an wahrem Wissen und gediegenen Studien so arme Periode durchlebt, sie hat mich um zwei kostbare Jahre meines Lebens gebracht; ich kann den Schreck und das Entsetzen nicht schildern, als ich aus diesem Taumel zum Bewußtsein erwachte.
Die Situation um die Mitte des Jahrhunderts haben Gauß und Helmholtz beklagt. Am 1. November 1844 schreibt Gauß an seinen Freund Schumacher:[5]
Daß Sie einem Philosophen ex professo keine Verworrenheiten in Begriffen und Definitionen zutrauen, wundert mich fast. Nirgends mehr sind solche ja zu Hause als bei Philosophen … Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel … und Consorten, stehen Ihnen nicht die Haare bei solchen Definitionen zu Berge?
In seiner Heidelberger Rektoratsrede von 1862 nimmt Helmholtz mit folgenden Worten sogar selbst zur Sache Stellung:[6]
Daß in den Geisteswissenschaften sich die Spuren der Wirksamkeit des menschlichen Geistes und seiner Entwicklungsstufen wiederfinden mußte, war selbstverständlich. Wenn aber die Natur das Resultat der Denkprozesse eines ähnlichen schöpferischen Geistes abspiegelte, so mußten sich die verhältnismäßig einfacheren Formen und Vorgänge in ihr um so leichter dem System einordnen lassen. Aber hier gerade scheiterten die Anstrengungen der Identitätsphilosophie, wir dürfen wohl sagen, vollständig. Hegels Naturphilosophie erschien den Naturforschern wenigstens absolut sinnlos. Von den vielen ausgezeichneten Naturforschern jener Zeit fand sich nicht ein einziger, der sich mit den Hegeischen Ideen hätte befreunden können.
Wie wir gesehen haben, war der junge Liebig tatsächlich eine Ausnahme, aber eben nur für zwei Jahre. Helmholtz fährt fort:
Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit geziehen; diese von jenen der Sinnlosigkeit. Die Naturforscher fingen nun an, ein gewisses Gewicht darauf zu legen, daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald dahin, daß viele von ihnen, darunter Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche Träumerei verdammten.
Wir werden sehen, daß wir um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine einflußreiche positivistische Strömung in der Physik zu verzeichnen haben. Diese läßt sich natürlich nicht nur mit dem von Helmholtz Gesagten erklären. Ohne Frage wollten damals jedoch viele Physiker, selbst wenn sie philosophisch aufgeschlossen waren, ihre Physik von Spekulationen und unsauberen Methoden freihalten. Die Abscheu vor der idealistischen Naturphilosophie darf allerdings nicht als eine Ablehnung der Philosophie überhaupt angesehen werden, wenn eine solche Reaktion auch bei einzelnen Naturforschern der damaligen Zeit zu verzeichnen ist. Schließlich sind die beiden klassischen Traditionen der empiristischen und der rationalistischen Philosophie zwischen Descartes und Kant auch im 19. Jahrhundert weitergeführt worden, wenn auch nicht von so illustren, aber zugleich etwas verdrehten Geistern wie Schelling und Hegel. In diesem Sinne warnt uns F. A. Lange in seiner profunden Geschichte des Materialismus vor Einseitigkeit in der Beurteilung der Lage:[7]
Diese ganze Anschauungsweise [nämlich die Ablehnung des Idealismus durch die Physiker] beruht auf einer einseitigen Rücksicht auf unsere nachkantische Philosophie unter völliger Verkennung des Charakters der modernen Philosophie von Cartesius bis auf Kant. Das ganze Treiben der Schellingianer, der Hegelianer, … ist nur zu sehr dazu angetan, den Abscheu zu rechtfertigen, mit welchem die Naturforscher sich von der Philosophie abzuwenden pflegen; dagegen ist das ganze Prinzip der modernen Philosophie, wenn man nur nicht diese Ausartungen der deutschen Begriffsromantik darunter versteht, ein total verschiedenes. Wir haben hier überall … eine streng naturwissenschaftliche Denkweise vor uns, über alles, was uns durch die Sinne gegeben ist; aber fast ebenso allgemein auch den Versuch, die Einseitigkeit des auf diesem Wege sich ergebenden Weltbildes durch die Spekulation zu...