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Die Philosophie der Physiker

AutorErhard Scheibe
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
ReiheBeck'sche Reihe 1760
Seitenanzahl364 Seiten
ISBN9783406692543
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR

Zum Buch

In die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fielen nicht nur die Umwälzungen der Physik durch Relativitätstheorie und Quantentheorie. Es war auch eine Zeit, in der die Physiker zu Philosophen wurden – und dies aus Notwendigkeit und mit Konsequenzen, wie dieses Buch zeigt. Zu Unrecht klage man darüber, daß unsere Generation keine Philosophen habe, soll schon Adolf von Harnack gesagt haben: "Die Philosophen sitzen jetzt nur in der anderen Fakultät, sie heißen Planck und Einstein." Einstein hat auch die Begründung dafür vorgezeichnet, warum er und seine Kollegen die Philosophie nicht den Philosophen überlassen konnten. In einer Zeit, in der die Physiker über ein festes, nicht angezweifeltes System verfügten, möge dies wohl in Ordnung gewesen sein, schreibt er, "nicht aber in einer Zeit, in welcher das ganze Fundament der Physik problematisch geworden ist". Nur der Physiker selbst jedoch fühle und wisse am besten, wo ihn der Schuh drückt. In einer aufwendig recherchierten, auf die Originalquellen zurückgreifenden und umfassenden Darstellung analysiert der Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker Erhard Scheibe dieses neue Verhältnis von Physik und Philosophie und den dazugehörigen Typus des philosophierenden Physikers, der die Physik bis heute nachhaltig prägt. Zum Buch In die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fielen nicht nur die Umwälzungen der Physik durch Relativitätstheorie und Quantentheorie. Es war auch eine Zeit, in der die Physiker zu Philosophen wurden – und dies aus Notwendigkeit und mit Konsequenzen, wie dieses Buch zeigt. Zu Unrecht klage man darüber, daß unsere Generation keine Philosophen habe, soll schon Adolf von Harnack gesagt haben: "Die Philosophen sitzen jetzt nur in der anderen Fakultät, sie heißen Planck und Einstein." Einstein hat auch die Begründung dafür vorgezeichnet, warum er und seine Kollegen die Philosophie nicht den Philosophen überlassen konnten. In einer Zeit, in der die Physiker über ein festes, nicht angezweifeltes System verfügten, möge dies wohl in Ordnung gewesen sein, schreibt er, "nicht aber in einer Zeit, in welcher das ganze Fundament der Physik problematisch geworden ist". Nur der Physiker selbst jedoch fühle und wisse am besten, wo ihn der Schuh drückt. In einer aufwendig recherchierten, auf die Originalquellen zurückgreifenden und umfassenden Darstellung analysiert der Naturwissenschaftler und Philosophiehistoriker Erhard Scheibe dieses neue Verhältnis von Physik und Philosophie und den dazugehörigen Typus des philosophierenden Physikers, der die Physik bis heute nachhaltig prägt.



<p><strong>&Uuml;ber den Autor </strong></p> <p>Erhard Scheibe (1927&ndash;2010) war Professor f&uuml;r Philosophie der Naturwissenschaften an der Universit&auml;t Heidelberg.</p>

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Leseprobe

I. Die Philosophie und die Physiker


Nichts kommt der Ignoranz moderner Philosophen in Sachen der

Naturwissenschaft gleich außer der Ignoranz moderner Wissenschaftler

in Sachen Philosophie.

É. H. Gilson

Den Titel zu diesem ersten Kapitel borge ich mir von Susan Stebbings Buch Philosophy and the Physicists aus dem Jahr 1937.[1] Dort protestiert eine Philosophin im Namen der Philosophie gegen die Art und Weise, in der zumindest zwei Physiker ihrer Zeit – Eddington und Jeans – als Physiker, d.h. im Zusammenhang mit ihrer Wissenschaft, mit der Philosophie umgehen. Auf dieses Buch werde ich zurückkommen. Ich werde versuchen, das Verhältnis der Physiker zur Philosophie zu charakterisieren, und zwar zunächst allgemein, wenn auch anhand einiger ausgesuchter Beispiele. Meine grobe Unterteilung berücksichtigt das Verhältnis der Physiker (der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts)

1. zur traditionellen Philosophie,

2. zur zeitgenössischen Philosophie,

3. zur Wissenschaftsphilosophie ihrer Zeit.

Schon in dieser allgemein gehaltenen Einführung wird auch die Reaktion von Philosophen auf das Eindringen der Physiker in ihren geheiligten Bezirk zu erwähnen sein. Der Fall Stebbing war eine solche Reaktion. Weder hier noch anderswo wird jedoch die Frage erschöpfend behandelt, inwieweit das Verhalten der Physiker zu einer echten Auseinandersetzung mit den jeweils zeitgenössischen Philosophen geführt hat. Gelegentlich werde ich darauf zu sprechen kommen, und bereits in der Einleitung wurden Philosophen wie Cassirer, Reichenbach und Popper erwähnt, die explizit auf den tiefgreifenden Wandel in der neuen Physik reagiert haben. Aber mein eigentlicher Untersuchungsgegenstand ist dies nicht. Allerdings ist diese Zurückhaltung auch von dem Umstand diktiert, daß die fragliche Auseinandersetzung zumindest nicht sehr intensiv war, sofern sie überhaupt stattgefunden hat.

A) Traditionelle Philosophie


Die in ihrer Gesamtheit philosophiefreundliche Phase der Physik ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist aus einer seitens der Physiker ausgesprochen philosophiefeindlichen Zeit hervorgegangen. Die Behauptung, daß es sich so verhalten habe, entnahmen wir schon den Zitaten Sommerfelds, der als Student und angehender Wissenschaftler das Ende der ‹schlimmen Zeit› noch miterlebt hat. Wir wollen aber für einen Augenblick noch weiter zurückgehen bis in die Zeit des deutschen Idealismus und seiner Naturphilosophie. Denn die Opposition gegen diese romantische Naturphilosophie[2] hatte vorübergehend zu einer gänzlichen Entfremdung zwischen Physik und Naturforschung einerseits und Philosophie und Metaphysik andererseits geführt.

Um anschaulich zu bleiben und die Abscheu der Naturwissenschaftler einsichtig zu machen, will ich einige Zitate von Schelling bringen, obwohl das in dieser Isoliertheit etwas unfair ist. Man muß entschuldigend oder wenigstens erklärend hinzufügen, daß sich Schelling und seine Weggenossen in dieser Sache nichts weniger vorgenommen hatten als die Etablierung der Identität von Natur und Geist in der Naturphilosophie. Vor diesem Hintergrund waren für Schelling die von einer empirischen Physik zu liefernden Ergebnisse, die zeigen konnten, wie die Natur im einzelnen beschaffen ist, ziemlich uninteressant. Da er als Idealist bei dem Nachweis der Identitätsthese primär vom Geistigen ausging, erstreckte sich dieses Desinteresse auch auf jegliche naturwissenschaftliche Erklärung von Wahrnehmung und Denken. Schelling ging sogar so weit, seine Spekulationen, soweit sie sich auf die Natur bezogen, als «spekulative Physik» zu bezeichnen und eine scharfe Grenze zwischen dieser und einer empirischen Physik aufzurichten. Nach einem Text von 1799[3] unterscheidet sich seine spekulative Physik von der empirischen dadurch,

daß jene einzig und allein mit den ursprünglichen Bewegungsursachen in der Natur, … diese hingegen, weil sie nie auf einen letzten Bewegungsquell in der Natur kommt, nur mit den sekundären Bewegungen … sich beschäftigt, da jene überhaupt auf das innere Triebwerk, … diese hingegen nur auf die Oberfläche der Natur und das, was an ihr … gleichsam Außenseite ist, sich richtet.

Und an einer anderen Stelle des genannten Werkes bemerkt Schelling, es komme ihm

auf die Überzeugung an, daß zwischen Empirie und Theorie ein solcher vollkommener Gegensatz ist, daß es kein drittes geben kann, worin beide zu vereinigen sind, daß also der Begriff einer Erfahrungswissenschaft ein Zwitterbegriff ist, bei dem sich nichts Zusammenhängendes oder der sich vielmehr überhaupt nicht denken läßt …

Obwohl die Naturphilosophie des deutschen Idealismus auch zu einigen Anregungen in der Physik geführt hat, verwundert es nicht, daß sich Naturwissenschaftler gegen die durch solche Texte ausgezeichnete spekulative Physik Schellings zur Wehr setzten. Wir besitzen sogar Zeugnisse von zeitweiligen Anhängern, etwa dem Chemiker Liebig, der bekennt:[4]

Auch ich habe diese an Worten und Ideen so reiche, an wahrem Wissen und gediegenen Studien so arme Periode durchlebt, sie hat mich um zwei kostbare Jahre meines Lebens gebracht; ich kann den Schreck und das Entsetzen nicht schildern, als ich aus diesem Taumel zum Bewußtsein erwachte.

Die Situation um die Mitte des Jahrhunderts haben Gauß und Helmholtz beklagt. Am 1. November 1844 schreibt Gauß an seinen Freund Schumacher:[5]

Daß Sie einem Philosophen ex professo keine Verworrenheiten in Begriffen und Definitionen zutrauen, wundert mich fast. Nirgends mehr sind solche ja zu Hause als bei Philosophen … Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel … und Consorten, stehen Ihnen nicht die Haare bei solchen Definitionen zu Berge?

In seiner Heidelberger Rektoratsrede von 1862 nimmt Helmholtz mit folgenden Worten sogar selbst zur Sache Stellung:[6]

Daß in den Geisteswissenschaften sich die Spuren der Wirksamkeit des menschlichen Geistes und seiner Entwicklungsstufen wiederfinden mußte, war selbstverständlich. Wenn aber die Natur das Resultat der Denkprozesse eines ähnlichen schöpferischen Geistes abspiegelte, so mußten sich die verhältnismäßig einfacheren Formen und Vorgänge in ihr um so leichter dem System einordnen lassen. Aber hier gerade scheiterten die Anstrengungen der Identitätsphilosophie, wir dürfen wohl sagen, vollständig. Hegels Naturphilosophie erschien den Naturforschern wenigstens absolut sinnlos. Von den vielen ausgezeichneten Naturforschern jener Zeit fand sich nicht ein einziger, der sich mit den Hegeischen Ideen hätte befreunden können.

Wie wir gesehen haben, war der junge Liebig tatsächlich eine Ausnahme, aber eben nur für zwei Jahre. Helmholtz fährt fort:

Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit geziehen; diese von jenen der Sinnlosigkeit. Die Naturforscher fingen nun an, ein gewisses Gewicht darauf zu legen, daß ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald dahin, daß viele von ihnen, darunter Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie als unnütz, ja sogar als schädliche Träumerei verdammten.

Wir werden sehen, daß wir um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine einflußreiche positivistische Strömung in der Physik zu verzeichnen haben. Diese läßt sich natürlich nicht nur mit dem von Helmholtz Gesagten erklären. Ohne Frage wollten damals jedoch viele Physiker, selbst wenn sie philosophisch aufgeschlossen waren, ihre Physik von Spekulationen und unsauberen Methoden freihalten. Die Abscheu vor der idealistischen Naturphilosophie darf allerdings nicht als eine Ablehnung der Philosophie überhaupt angesehen werden, wenn eine solche Reaktion auch bei einzelnen Naturforschern der damaligen Zeit zu verzeichnen ist. Schließlich sind die beiden klassischen Traditionen der empiristischen und der rationalistischen Philosophie zwischen Descartes und Kant auch im 19. Jahrhundert weitergeführt worden, wenn auch nicht von so illustren, aber zugleich etwas verdrehten Geistern wie Schelling und Hegel. In diesem Sinne warnt uns F. A. Lange in seiner profunden Geschichte des Materialismus vor Einseitigkeit in der Beurteilung der Lage:[7]

Diese ganze Anschauungsweise [nämlich die Ablehnung des Idealismus durch die Physiker] beruht auf einer einseitigen Rücksicht auf unsere nachkantische Philosophie unter völliger Verkennung des Charakters der modernen Philosophie von Cartesius bis auf Kant. Das ganze Treiben der Schellingianer, der Hegelianer, … ist nur zu sehr dazu angetan, den Abscheu zu rechtfertigen, mit welchem die Naturforscher sich von der Philosophie abzuwenden pflegen; dagegen ist das ganze Prinzip der modernen Philosophie, wenn man nur nicht diese Ausartungen der deutschen Begriffsromantik darunter versteht, ein total verschiedenes. Wir haben hier überall … eine streng naturwissenschaftliche Denkweise vor uns, über alles, was uns durch die Sinne gegeben ist; aber fast ebenso allgemein auch den Versuch, die Einseitigkeit des auf diesem Wege sich ergebenden Weltbildes durch die Spekulation zu...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Widmung4
Impressum4
Inhalt5
Vorwort7
Einleitung9
I. Die Philosophie und die Physiker21
A) Traditionelle Philosophie22
B) Zeitgenössische Philosophie30
C) Wissenschaftstheorie43
II. Positivismus und reale Außenwelt (Planck versus Mach)51
a) Philosophische Beweise des Realismus51
b) Der wissenschaftliche Realismus und die Physiker55
c) Positivismus und reale Außenwelt: Die Planck-Mach-Debatte58
d) Die Position Plancks: Aufbau eines physikalischen Weltbildes62
e) Die Position Machs: Neutraler Monismus69
III. Für und gegen Atome (Boltzmann versus Mach)80
IV. Theorien und Bilder99
a) Boltzmanns Bilder100
b) Lübeck 1895104
c) Hertz und der heutige Strukturbegriff109
d) Plancks physikalisches Weltbild118
V. Theorie und Erfahrung120
A) Duhems Instrumentalismus120
B) Deduktive und induktive Physik127
C) Theoriegeladenheit des Experiments142
D) Poincarés Konventionalismus149
VI. Zur Relativitätstheorie164
A) Vom Positivisten zum Rationalisten167
B) Zur speziellen Theorie (SRT)171
C) Zur allgemeinen Theorie - Das Äquivalenzprinzip180
D) Zwischen Kantianern und Empiristen195
VII. Kausalität, Determinismus, Wahrscheinlichkeit207
a) Arten von Kausalität207
b) Ereigniskausalität und Determinismus209
c) Wesensursachen214
d) Kausalität und Funktionsbegriff218
e) Kausalität in offenen Systemen (‹Unfalltheorie›)223
f) Die Rolle statistischer Gesetze (Exner versus Planck)226
g) Indeterminismus und Chaos (Born versus von Laue)234
VIII. Quantenmechanik: Die Kopenhagener Schule237
a) Quantenphänomene242
b) Dynamik244
c) Voraussage und Determinismus246
d) Eigenschaften und Observable248
e) Zustände251
f) Messungen258
g) Komplementarität266
IX. Kritik an der Kopenhagener Deutung272
A) Frühe Gegner: Einstein273
B) Frühe Gegner: Schrödinger281
C) Theorien verborgener Parameter und Unmöglichkeitsbeweise291
X. Fortschritt, Reduktion und Einheit der Physik300
A) Die Boltzmann-Tradition304
B) Die Widerlegungsversion310
C) Transitivität, Zusammenführung und Einheit313
D) Begriffswandel und Theorien ohne Nachfolger318
E) Quasikumulativer Fortschritt324
Anmerkungen331
Literatur349
Personenregister362

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