Vorwort
Seit die Menschen sich Gedanken machen über die Welt, in der sie leben, haben sie sich gefragt, wie diese Welt entstanden sein mag, warum sie so ist, wie sie ist, wie sie in Urzeiten war, was aus ihr werden wird und was unser Platz in ihr sein mag. Alle Kulturen der Menschheit enthalten irgendeine Aussage über das Entstehen der Welt und zu diesen Fragen. Wohin wir blicken, sehen wir Abläufe, die einen Anfang und ein Ende haben wie unser Leben. Hat auch unser Universum einen Anfang gehabt, und wird es ein Ende geben? Wenn wir nachts unter dem Sternenhimmel stehen, erscheint es uns natürlich zu fragen, wie all das entstanden ist, wie groß es ist und ob es weiter bestehen wird. Wir sind ein so winzig kleiner Teil von etwas so Großem. Anders als die anderen Lebewesen jedoch können wir fragen, und vielleicht ist es das, was uns besonders macht.
Die Suche nach Antworten auf diese Fragen hat auf Religionen geführt, auf Sagen, auf vielerlei Weltanschauungen und Philosophien – und letztendlich natürlich auf die Naturwissenschaft. Dort hat sich die Kosmologie als die für solche Fragen zuständige Wissenschaft entwickelt, und was wir in diesem Buch zu sagen haben, basiert auf den Untersuchungen dieser Wissenschaft. Selbst wenn die verschiedenen, im Laufe der Zeit auf diese Fragen gegebenen Antworten sich in vielem zu widersprechen schienen, zeigte sich doch genauso häufig, dass diese Widersprüche recht oberflächlicher Natur waren, dass die Grundgedanken stärker übereinstimmten, als man zunächst meinte. Und wir stellen heute fest, dass sich auch die Kosmologie in einen Bereich wagt, der für viele Physiker längst nicht mehr Naturwissenschaft ist – weil nicht mehr experimentell überprüfbar.
In diesem Buch möchte ich die wesentlichen Stufen in der Entstehung unseres Universums beschreiben, so wie sie sich nach der Vorstellung der heutigen Kosmologie und Physik ergeben haben könnten. Wir werden sehen, dass vieles davon durchaus mit früheren, weniger wissenschaftlichen Bildern im Einklang ist. Vieles, was heute als letzte wissenschaftliche Erkenntnis gilt, wurde bereits vor über zweitausend Jahren als Ergebnis logischen Denkens postuliert. Hinzugekommen ist seitdem ganz zweifelsohne die Forderung, dass die so gewonnenen Ergebnisse nur durch Experimente bestätigt oder widerlegt werden können. Nur das macht ja aus Metaphysik eigentlich Physik. Gerade in letzter Zeit tauchen jedoch, wie schon erwähnt, wieder viele interessante Ideen auf, vom Multiversum bis zu Wurmlöchern durch Raum und Zeit, die in einer Welt angesiedelt sind, welche zumindest heute für uns kaum experimentell erreichbar scheint. Die Welt des Vorstellbaren bleibt sehr viel größer als die des Überprüfbaren, und so werden auch in der Naturwissenschaft in Zukunft viele Gedanken weiterleben, die nach unserem heutigen Wissen kaum eine Chance haben, wirklich bestätigt oder widerlegt zu werden.
Die Grundfragen, die wir hier ansprechen wollen, lassen sich im Wesentlichen in drei Bereiche aufteilen:
Wie und woraus ist unser Universum entstanden, unsere Welt in Raum und Zeit, was war vorher? Und was kommt danach?
Was sind die Grundbausteine der Materie in unserer Welt, und welche Kräfte bestimmen ihre Bindung?
Wie ist aus einer strukturlosen frühen Welt die heutige Vielfalt in Form und Struktur entstanden?
Die Antworten, die man heute auf diese Fragen geben kann, sind durchaus spekulativer Natur und stoßen noch vielerorts auf Widerspruch. Aber sie sind, denke ich, interessant genug, um sie weiter zu verfolgen. Das ist das Ziel dieses Buches.
Noch vor dreißig Jahren wurde die erste dieser Fragen für unzulässig erklärt. Der Anfang, das war der Urknall, und «vorher» machte keinen Sinn. Es gab kein Vorher. Heute stellen sich viele Kosmologen und Physiker die Geburt unseres Universums als eine expandierende Blase in einer heißen Urwelt vor, eine Blase unter vielen anderen. Wir erleben zurzeit eine zweite kopernikanische Revolution: Weder unser Sonnensystem noch unsere Galaxie, noch unser Kosmos sind das Ende aller Dinge. Es gibt darüber hinaus viele andere, ähnliche oder auch der unseren unähnliche Welten – Welten, die wir wohl nie erreichen können, die aber trotzdem existieren sollten. Dadurch wird der Urknall ein physikalischer Vorgang wie andere auch – er ist kein einmaliges Ereignis mehr, und er kann auch auf ein Ende hinführen.
Die Frage nach den Grundbausteinen unserer heutigen Welt und nach ihren Vorgängern in früheren Entwicklungsstufen lässt sich dank der Fortschritte der Teilchenphysik immer besser beantworten. Der Traum der Theoretiker, über eine Theorie zu verfügen, in der alle Elementarteilchen und alle elementaren Wechselwirkungen von der starken bis zur schwachen Kernkraft zu einer Form vereinigt sind, ist formal zwar immer noch nicht realisiert, aber man kann sich so etwas jetzt zumindest vorstellen. Eine solche «Theorie der großen Vereinigung» muss auf eine Urwelt hoher Symmetrie führen, in der alle Teilchen gleich behandelt werden. Die Abkühlung des Universums bewirkt dann Symmetriebrechungen und damit verschiedene Wechselwirkungen. Wie die Schwerkraft dort hineinpasst, bleibt allerdings weiterhin ein Rätsel.
Auch für die Entwicklung der Vielfalt unserer Welt gibt es recht verschiedene, vielleicht sogar einander widersprechende Modelle. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang der berühmte zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der eine Entwicklung in Richtung auf eine immer größere Unordnung vorschreibt und damit der Zeit eine Richtung gibt. Heißt das, es entsteht auch im Universum immer mehr Unordnung und damit ein strukturloses Ende? Hier ergeben sich gleich zwei Einwände: Die fortschreitende Ausdehnung des Universums verhindert auf lange Sicht ein Erreichen eines thermodynamischen Gleichgewichts. Und die Rolle der Gravitation als dominierender Kraft bewirkt, dass ein immer kälter werdendes Gas mit einer Gleichverteilung der Materie nicht auf einen stabilen Zustand des Universums führt. Solange die Schwerkraft eine Rolle spielt, ist eine Welt von Galaxien im leeren Raum thermodynamisch günstiger als ein gleichförmiges Gas von Teilchen.
In allen drei Bereichen hat sich in den letzten dreißig Jahren viel getan, und unsere Vorstellungen sind dabei grundlegend verändert worden. So scheinen zwei fundamentale Arbeitsweisen der Naturwissenschaft an ihre Grenzen gekommen zu sein. Reduktion (Was sind die kleinsten Bausteine der Materie?) hört auf bei den untrennbaren Quarks, und Extension (Erde, Sonnensystem, Galaxie, Universum) endet mit dem Multiversum. Andrerseits ist ein neuer Begriff aufgetaucht: Emergenz. Wir unterscheiden heute fundamentale Größen und Kräfte (Ladungen, Bindung eines Wasserstoffatoms) von emergenten Größen und Kräften (Temperatur, Druck), die erst durch das Zusammenspiel vieler Einzelteilchen entstehen. Vielleicht wirkt sich diese Entwicklung auch auf andere Bereiche menschlichen Denkens aus – es wäre in der Geschichte der Physik nicht das erste Mal. Auf jeden Fall möchte ich allen Interessierten zeigen, dass hier und heute in der Naturwissenschaft Entwicklungen stattfinden, die begrifflich sehr viel wichtiger erscheinen als technologisch. Ob sie irgendwann zu neuen Technologien führen werden, bleibt abzuwarten. Aber sie haben bereits heute unser Bild der Welt, in der wir leben, grundlegend verändert. Aus dem Universum wurde ein Universum im Multiversum, eines unter vielen in einer Urwelt. Und so möchte ich meine Darstellung abschließen mit einer «neuen» Schöpfungsgeschichte, so wie sie aus der heutigen Kosmologie folgen könnte.
Beim Schreiben des vorliegenden Buches habe ich festgestellt, dass es eine wohldefinierte und allgemein akzeptierte Vorstellung der Entwicklung unseres Universums seitens der heutigen Kosmologie überhaupt nicht gibt. Zum Leitmotiv wurde mir daher die Sicht des legendären amerikanischen Baseball-Schiedsrichters, der meinte: «I call them the way I see them.» Andere mögen es anders sehen.
Mein Dank geht an verschiedene Kollegen hier in Bielefeld, mit denen ich viele Aspekte diskutieren konnte; ich danke besonders Frithjof Karsch, der das Manuskript durchgesehen und vieles verbessert hat. Besonderer Dank geht auch an...