Psychische Bedingtheit und psychoanalytische Behandlung organischer Leiden
Erstveröffentlichung: Hirzel, Leipzig 1917.
Am 5. Juni zwischen 12 und 1 Uhr befiel mich mitten in der Arbeit eine große Müdigkeit, die nach einiger Zeit wieder verschwand. Am Nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr erkrankte ich mit Schluckbeschwerden. Der hintere Teil des Gaumens, die Gaumensegel und das Zäpfchen waren stark gerötet. In der Nacht vom 5. zum 6. Juni habe ich einen lebhaften Traum gehabt, was bei mir selten vorkommt. Am 6. Juni, einem arbeitsreichen Tage, steigerten sich die Schmerzen, die Rötung breitete sich weiter aus, und die Mandeln schwollen beiderseitig erheblich an.
Der 7. Juni war ein Feiertag. Ich begann morgens meinen Traum und das Symptom der Schluckbeschwerden zu analysieren und gelangte zu dem Resultat, dass mein Ubw (Ubw ist Freuds Bezeichnung für das Unbewusste), mein Es sich weigerte, eine Erkenntnis zu schlucken, die ihm unangenehm war. Diese Erkenntnis bezog sich darauf, dass bestimmte Einsichten in die Wechselverhältnisse zwischen dem Unbewussten des Menschen und seinem Leben nicht, wie ich jahrelang mir eingeredet hatte, mein geistiges Eigentum sind, sondern das Sigmund Freuds. Mein bewusster Verstand hatte diese Schlussfolgerung allerdings schon gezogen, was aus meiner Korrespondenz mit Freud hervorgeht. Dass tiefere Schichten meines Wesens sich gegen die bewussten Gedanken wehrten, ließ sich im Lauf der Analyse feststellen.
Am 5. Juni zwischen 12 und 1 Uhr, der Stunde, in der mich die vorübergehende Müdigkeit befiel, hatte ich eine kurze Begegnung mit einer Dame namens Dora. Das Wort Dora, ein Name, der in Freuds Bruchstück einer Hysterieanalyse vorkommt, war das Werkzeug, mit Hilfe dessen sich meine bewusste Anerkennung von Freuds Priorität in mein Inneres, Unbewusstes einzugraben suchte. Als Abwehr benutzte das Ubw die Müdigkeit, die das Wort Dora mit all seinen Assoziationen wirkungslos machte.
Nachmittags zwischen 4 und 5 Uhr erfolgte der zweite Versuch, die Prioritätsanerkennung in das Unbewusste zu bringen. Es geschah gelegentlich von Gesprächen über Hypotheken und Schulden. Hypotheken führten in der Analyse zu Hysterie, Schulden zu Schuld und Gauner. Das Ubw wehrte diesen zweiten heftigeren Angriff dadurch ab, dass es den Eingang in das Innere durch eine schmerzhafte Entzündung verschloss. Es bemächtigte sich dabei des Wortes Gauner und wählte als Verteidigungsort den Gaumen, verstärkte dann seine Stellung durch Hineinziehen des Zäpfchens und der Mandeln in die Entzündung und gab schließlich seinem Unwillen im Traum Ausdruck.
Der Erfolg der Traum- und Symptomanalyse am 7. morgens, von der ich nur die Resultate mitteile, war, dass im Laufe der etwa halbstündigen analytischen Arbeit die Mandelschwellung ganz, die Rötung des Gaumens fast ganz verschwand. Zu meinem Erstaunen setzte die Entzündung jedoch nach einiger Zeit wieder heftiger ein, so dass am Nachmittag die Erkrankung wieder auf denselben Höhepunkt gelangt war. Diesmal nahm ich die Analyse unter Kontrolle der Entzündung durch meine Assistentin vor. Vor Beginn der Behandlung wurden die Mandeln, der Gaumen usw. genau betrachtet und mit den Fingern untersucht. Dann erst schritt ich zu dem Assoziationsexperiment. Die Entzündung ging nun schnell zurück und war nach einer viertelstündigen Analyse bis auf einen scharfen, fadendünnen roten Strich quer über den Gaumen verschwunden. Auch dieser Rest verlor sich im Laufe des Abends.
Was hatte diese Analyse nun Neues zutage gefördert? Es hatte sich herausgestellt, dass sich der Kampf des Bewussten mit dem Unbewussten nicht um das Wort Dora—Freud, sondern um das Wort Charlotte—Scharlach drehte. Unmittelbar bevor ich mit Dora sprach, wurde mir ein Kind Lotte mit einem Exanthem gezeigt, das ich im ersten Augenblick für ein Scharlachexanthem hielt. Dabei ließ sich nachweisen, dass die plötzliche Müdigkeit nicht, wie ich ursprünglich glaubte, bei Dora, sondern schon in der Pause zwischen Lotte und ihr entstanden war.
Das Scharlachfieber hat in meinem Leben, sowohl bei mir selbst wie bei einer Reihe meiner nächsten Angehörigen eine verhängnisvolle Rolle gespielt; und das Gespenst, ich würde einmal an den nie überwundenen Folgen dieser Erkrankung zugrunde gehen, schleicht mit mir mit. Die Abwehr des Ubw galt in erster Linie dem Todesgedanken Charlotte—Scharlach, mit dem sich der Eitelkeits- und Unvermögenskomplex Dora-Freud eng verknüpfte. Den Kernpunkt bildete dabei das Wort Schuld, das in dem Gespräche über Hypotheken und Wechsel am Nachmittag des 5. Juni mehrfach vorkam. Ein lebhaftes Schuldgefühl, das im wesentlichen aus sexuellen Vorgängen meiner Pubertät gespeist wurde, wirkte zur Zeit meiner Scharlacherkrankung in mir, was in der Analyse deutlich zutage trat. Reste davon stecken offenbar, trotzdem ich längst von der Harmlosigkeit meiner Erlebnisse verstandesgemäß überzeugt bin, immer noch in mir. In einer mir gut bekannten Weise, die sich etwa chemischen Vorgängen in statu nascendi vergleichen lässt, vermischten sich diese aufsteigenden Reste mit den psychischen Giften des Dora —Freudkomplexes und bedingten so den Ausbruch und die eigentümliche Remission der Erkrankung nach dem ersten analytischen Behandlungsversuch.
An die Mitteilung dieser einfachen Krankengeschichte knüpfe ich einige Bemerkungen an, die den Anspruch auf Geltung erheben. Zunächst geht aus der Erzählung weder die psychische Bedingtheit der Erkrankung noch ihre Heilung unter dem Einfluss der Psychoanalyse sicher hervor. Dass andere Faktoren bei der Entzündung mitgewirkt haben, versteht sich von selbst. Die Kette der Ursachen lässt sich bei keinem Ereignis übersehen. Man kann immer nur die Glieder angeben, die am meisten in die Augen fallen. Wenn wir von Krankheitsursachen oder gar von kausaler Behandlung sprechen, müssen wir uns gegenwärtig halten, dass wir absichtlich diese unsre bessere, rein menschliche Erkenntnis zugunsten ärztlicher Tätigkeit ausschalten. Ich muss auch den Einwand, dass es sich bei meiner Deutung um ein Gedanken- und Wortspiel handelt, während tatsächlich andere von der Wissenschaft allgemein anerkannte Bedingungen gewirkt haben, verstärken. Ich habe nämlich bisher verschwiegen, dass ich in jener Zeit eine Patientin behandelt habe, die unter anderem auch über Halsschmerzen klagte. Es kann sein, dass ich mich bei ihr angesteckt habe. Wahrscheinlich ist es nicht. Ich kenne die Frau seit vielen Jahren, sie hat alle paar Wochen Anfälle von Schluckbeschwerden, die ihr eine Waffe gegen die Schwierigkeiten des Lebens geworden sind. Diese Anfälle zeigen nur selten Entzündungserscheinungen; diesmal war jedenfalls weder Rötung noch Schwellung festzustellen.
Will man trotzdem annehmen, dass meine Erkrankung durch Übertragung entstanden sei, so ist das Problem nur verschoben und tragt sich dann, ob der Mensch durch Wechselvorgänge zwischen seinem Bw und Ubw ansteckungsfähig werden kann, eine Frage, die ich bejahe.
Ebensogut wie das Es des Menschen, von dem er gelebt wird, auf bestimmte Sinneseindrücke oder unbewusste Gedankenreihen hin die Sekretion der Verdauungssäfte, die Blutverteilung, die Herztätigkeit, kurz das ganze organische Leben der Persönlichkeit immerfort umändert, ebensogut wie dieses Es in unübersehbarer Fülle sich schon gegen die Drohung chemischer und mechanischer und bakterieller Angriffe sichert, ebensogut vermag es, wenn ihm eine Erkrankung zweckmäßig erscheint, Verhältnisse herzustellen, die den pathogenen Keim zur Wirkung kommen lassen.
Ich halte es für einen grundsätzlichen und gefährlichen Irrtum, anzunehmen, nur der Hysterische habe die Gabe, sich zu irgendwelchen Zwecken krank zu machen. Jeder Mensch besitzt diese Fähigkeit und jeder verwendet sie in einer Ausdehnung, die man sich nicht groß genug vorstellen kann. Der Hysteriker, in geringerem Grade der Neurotiker, zwingt den Beobachter häufiger als andere Kranke zu der Vorstellung, dass es sich bei der Erkrankung um bewusste Absichten handle. Er hat auch selbst diesen beachtenswerten und keineswegs leicht zu erklärenden Gedanken. Wer jedoch tiefer in die verwickelten Formen des Seelenlebens eindringt, bemerkt bald, dass scheinbar bewusste Absichten doch nur Abkömmlinge unbewusster Kräfte sind, dass die vom Hysteriker hervorgerufenen Krankheitssymptome durchaus nicht seinen angeblichen Absichten entspringen, sondern genau so wie bei jedem andern Menschen tief verborgenen Entschlüssen des unbekannten Es. Ja, man kann sagen, dass es oft leichter ist, bei nicht neurotischen Personen Bruchteile solcher unbewussten Vorgänge zum Vorschein zu bringen, als bei Hysterikern, deren Maske sich schwer lüften lässt, weil sie sich schämen und gegen sich selber misstrauisch sind.
Wenn ich nun die Frage der Erkrankungsfähigkeit, der individuellen, örtlichen, zeitlichen Disposition in dem gegebenen Falle der Halsentzündung prüfe, so fällt zunächst einiges Licht auf die zeitliche Disposition.
An ein und demselben Tage sind durch besondere Umstände Komplexe aufgerührt worden, Dora—Freud und Charlotte-Scharlach, die beide in sich das Angstgefühl der Impotenz enthalten. Das Impotenzgefühl begleitet alle Menschen durch das Leben. Solange der Gedanke der Minderwertigkeit sich mit der Hoffnung verbindet, befördert er das Leben, macht in Ehrgeiz, Lernbegier, Streben nach Ausgleich der mangelnden Gaben seelische und körperliche Kräfte frei. Gesellt sich ihm der Zweifel oder gar die Verzweiflung zu, so sinkt die Fülle des Lebens. Das Es im Menschen spannt sich ab, es wirft ihn in Ermattung, Müdigkeit, und halb zur Entschuldigung des Mißerfolgs, halb um Zeit zum Sammeln neuer...