|7|Geleitworte
Psychotherapie, Wissenschaftsmodelle und Argumentationslust
Prof. Dr. Christoph Flückiger, Universität Zürich
Psychotherapieforschung ist ein Paradebeispiel interdisziplinärer Forschung. Sie bietet eine hervorragende Illustration dessen, wie die Forschungsparadigmen der einzelnen Disziplinen die Interpretation der Forschungsresultate mit beeinflussen. In den USA wird Psychotherapieforschung vorzugsweise in drei akademische Schulen betrieben, die sich unter anderem an ihren basalen Forschungsparadigmen orientieren: den Schools of Medicine, den Departments of Psychology und den Schools of Education. Während im deutschen Sprachraum die beiden ersten Schulen in der Psychotherapieforschung und den daran angegliederten psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen vertreten sind, wird hierzulande Psychotherapieforschung kaum als primärer Gegenstand der Erziehungswissenschaften wahrgenommen.
Dies ist insofern relevant, als sich die Autoren der englischen Ausgabe dieses Buches vorzugsweise als Vertreter der dritten Schule verorten lassen bzw. sich dort ihre akademischen Sporen verdient haben. Die University of Wisconsin-Madison ist in den Universitäts-Rankings eine der US-Top-Universitäten der Erziehungswissenschaften und will sich durchaus als empirische Speerspitze dieser Tradition verstanden wissen. Die Schools of Education haben substantiell zur Entwicklung und Verbreitung empirischer Arbeitsinstrumente in geschachtelten, hierarchisch gegliederten Versuchsdesigns beigetragen. Das Denken in Mehrebenenmodellen und die damit verbundene kritisch-rationale Interpretation von Forschungsresultaten ist fundamentaler Teil, wenn nicht gar Identifikationsmerkmal, der an diesen Schulen angegliederten akademischen Ausbildungen. Empirische Forschungsresultate lassen sich aus dieser Perspektive, etwas überspitzt ausgedrückt, grundsätzlich nur aufgrund der geschichtlich eingebetteten Wissenschaftsdiskurse und dahinter liegenden Forschungsparadigmen interpretieren. Was zählt, ist das Aufdecken der Argumentationslogiken und der dahinter liegenden Grundannahmen, die kaum noch hinterfragt werden. Das vorliegende Buch ist eine rigorose Anwendung dieses Spirits, insbesondere bezüglich des in der Psychotherapieforschung aktuell vorherrschenden „Medizinischen“ Metamodells.
Die Ausgangslage ist so einfach wie einleuchtend: Stellen Sie sich vor, ein charismatischer Lehrer würde eine Studie vorstellen, in der er seine eigens entwickelte Methode „A“ an acht Schülern anwendet und mit acht anderen Schülern kontrastiert, die er mit der Standardmethode „B“ unterrichtet. Die Randomisierung sowie die gesamte Studienverantwortung liegen beim selben Lehrer. Das Schulergebnis misst er mit Mitteln, die insbesondere auf seine Methode „A“ zugeschnitten sind. Zudem werden die Fortschritte der Schüler durch einen Mitentwickler der Methode „A“ beurteilt. Die Resultate eines wenig geläufigen statistischen Tests weisen darauf hin, dass die zugeschnittenen Messmittel einen Effekt in Richtung der Methode „A“ auf|8|weisen, die sich jedoch beim allgemeinen Lernfortschritt der Standardmethode „B“ nicht zeigen; weitere Maße zeigen keine Effektivitätsunterschiede zwischen „A“ und „B“. In den Limitationen wird darauf hingewiesen, dass möglicherweise weniger erfahrene Lehrer in der von den Autoren entwickelten Methode „A“ weniger erfolgreich sein würden. Der Lehrer interpretiert die Ergebnisse in die Richtung, dass seine Methode „A“ bei gut geschulten Lehrern der Standardmethode „B“ überlegen ist. Als Eltern eines Schülers würden Sie sich vielleicht einige Fragen stellen, wenn Sie aufgefordert würden, Ihr Kind unbedingt zu diesem Lehrer zu schicken. Beispielsweise: Lässt sich die Studie replizieren? Sind die Resultate auf andere Lehrer generalisierbar? Wer bestimmt den Schulerfolg? Zeigen sich die Resultate in geläufigeren statistischen Methoden? Will der Lehrer vorzugsweise seine Methode „A“ verkaufen? Ist mein Kind bei diesem Lehrer gut aufgehoben?
Vielleicht wären Sie bei der Beurteilung einer strukturell vergleichbaren Studie nachsichtiger, die nicht auf dem Gebiet der Grundschulpädagogik, sondern von einem der renommiertesten Herzchirurgen veröffentlicht wurde – in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift mit hohem Impact Factor? Vielleicht würden Sie Ihre Meinung nicht ändern wollen. Doch Hand aufs Herz, hätten Sie die Studie eines Herzchirurgen ebenso kritisch hinterfragt, wenn sie ohne den Vergleich mit der Lehrkraft eingeführt worden wäre? Und was wäre, wenn die Studie von einem anerkannten Psychotherapeuten veröffentlicht worden wäre?1
Auch wenn es sich bei der oben angesprochenen Studie ganz bestimmt um einen Einzelfall handelt, so lassen sich daraus für die Psychotherapie interessante, allgemeine Fragen ableiten: Wie wirksam ist Psychotherapie ganz generell? Lassen sich psychotherapeutische Ansätze ausmachen, die wirksamer sind als andere? Wie lassen sich Studien charakterisieren, die wirksamere Psychotherapien dokumentieren? Ist die höhere Wirksamkeit ein Effekt einer spezifischen Therapie oder eher Resultat der Wahl der Kontrollgruppe? Haben Forscher- und Therapeuteninteressen Einfluss auf die Forschungsresultate? Sind einzelne Ansätze uniform wirksam, oder unterscheiden sich die Therapeuten in ihrer Wirksamkeit? Haben soziokulturelle Aspekte einen Einfluss auf die Wirksamkeit von Psychotherapie? Und zu guter Letzt: Was macht psychotherapeutische Interventionen wirksam?
Dieses Buch versucht die oben gestellten Fragen mittels theoriegeleiteter, metaanalytischer Methoden zu beantworten. Metaanalysen fassen die Forschungsresultate einzelner Wirksamkeitsstudien systematisch zusammen. Die Autoren machen transparent, welche Einschluss- und Ausschlusskriterien für einen fairen Psychotherapiewirksamkeitsvergleich relevant sein können und verdeutlichen so, warum verschiedene Metaanalysen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen können. Aus dieser Perspektive bietet das Buch eine Einführung in metaanalytisches Interventionsdenken, das nicht nur für die Psychotherapie selbst, sondern auch für andere Humaninterventionen relevant sein kann. Aus gutem Grund hat die Methode der Metaanalyse ihre Geburtsstunde und ihre Bewährung auf dem Gebiet der Psycho|9|therapie erfahren, sodass daraus reichlich gelernt werden kann. Vorneweg: Psychotherapie ist ganz generell bei vielen Menschen, die unter üblichen psychischen Belastungsfaktoren leiden, erstaunlich wirksam.
Die vorliegende deutschsprachige Adaption der englischsprachigen Zweitausgabe der Great Psychotherapy Debate versucht einen soziokulturellen Spagat, der grundsätzlich nur scheitern kann. Die meisterhaft verfassten englischsprachigen Originaltexte beziehen sich vorzugsweise auf den US-Kontext; so beziehen sich viele exemplarische Beispiele und Veranschaulichungen auf die englischsprachige Hauptleserschaft. Diese Perspektive ist auch aus internationaler Sicht insofern berechtigt, als beispielsweise mehr als zwei Drittel der veröffentlichten Studien zum Zusammenhang zwischen der Arbeitsallianz und dem Therapieergebnis in Nordamerika durchgeführt worden sind. Aus diesem Blickwinkel ist es durchaus sinnvoll, den US-Kontext zu erwähnen und zu verstehen. Möglicherweise wären Sie jedoch trotzdem erstaunt, wenn in einer deutschen Eins-zu-eins-Übersetzung von „Rassenvergleichen“ die Rede wäre. Der Lesefluss würde wohl deutlich gehemmt.
Den Spagat versuchten wir so zu lösen, dass wir einerseits den US-Kontext beibehalten haben, andererseits jedoch versucht haben, ihn mit kürzeren Einführungen und Hinweisen zu deutschsprachigen Entwicklungen etwas aufzuweichen. Diese Hinweise und Ergänzungen sind jedoch nicht als umfassende Aufarbeitungen zu verstehen, sondern eher als Heftpflaster gedacht, um einige für deutschsprachige Ohren schmerzende Stellen etwas zu entschärfen. Dies ist uns nicht umfassend gelungen. Sie werden beispielsweise trotzdem lesen können, dass Freuds Vorlesung an der Clark University 1909 als ein Meilenstein der Psychotherapie genannt wird, ohne auf die viel früher publizierten Arbeiten zur Hysterie einzugehen. Nichtsdestotrotz versuchten das gesamte Übersetzerteam und ich, den Text so zu glätten, dass die Hauptaussagen und die möglichst universellen Argumentationslogiken ins Zentrum gestellt werden.
Personen werden im Text einfachheitshalber in männlicher Form ausgeschrieben (z. B. Therapeuten, Patienten, Beobachter); es werden damit jedoch alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen.
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