Einleitung
Einmal habe ich ein Fernsehinterview gegeben, das ein bisschen unangenehm begann. Als ich im Studio ankam, war der Moderator schlecht gelaunt und abgelenkt. Er sortierte seine Papiere, trank hastig seinen Kaffee und sah so aus, als ob er am liebsten woanders wäre. Sobald er aber sein Stichwort erhalten hatte, dass er gleich live auf Sendung sein würde, setzte er sich aufrecht hin und sagte mit einem breitem Lächeln heiter: »Guten Morgen allerseits!« in die Kamera. Von dieser schlagartigen Verwandlung war ich so überrascht, dass ich ein, zwei Minuten brauchte, um mich in dieser Interviewsituation zu entspannen.
Wir wissen alle, wie ein echtes Lächeln aussieht. Es kommt von Herzen und strahlt Offenheit, Leichtigkeit und Wärme aus – ein spontanes Lachen. Die Augen strahlen und stellen Blickkontakt her. Die meisten Menschen können gar nicht anders, als das Lächeln zu erwidern, wenn sie ehrlich angelächelt werden. Das Lächeln dieses Fernsehmoderators hatte aber nichts mit authentischer Freude oder Lebendigkeit zu tun. Es war oberflächlich, gezwungen und übertünchte bloß seine schlechte Laune. Natürlich hatte dieser Mann gelernt, wie man ein breites, heiteres Lächeln aufsetzt, aber er hat nicht gelernt, wie man dabei Zugang zu echter Warmherzigkeit findet.
Wie vielen Menschen graut es davor, jeden Morgen zur Arbeit zu gehen? Vielleicht haben wir den ganzen Tag ein professionelles Lächeln auf dem Gesicht und bringen jeden Abend unseren Stress und unsere Unzufriedenheit mit nach Hause. Obwohl wir, äußerlich betrachtet, alles haben – Arbeitsplatz, Zuhause, Familie –, kann es sein, dass wir uns innerlich düster und deprimiert fühlen. Wir mühen uns damit ab, unser Glück zu finden und sind nie mit dem zufrieden, was wir haben. Das Gefühl, unverbunden und unzufrieden zu sein, scheint in unserer Gesellschaft heute weit verbreitet. Viele Menschen führen ein aktives Leben und erreichen viel. Trotzdem fällt es wohl uns allen schwer, unseren Schmerz und unsere Unzufriedenheit zu erkennen und zu reflektieren oder zu begreifen, was die Ursachen dafür sind.
Uns entgeht etwas ganz Wesentliches, das sich tief in unserem Inneren befindet: Spontaneität, Kreativität, Leichtigkeit und Verspieltheit. Dies sind Qualitäten unseres natürlichen Seins-Zustandes, doch wir merken das nicht. Wenn wir die Verbindung zu unserem natürlichen Zustand verlieren, verlieren wir aus der Perspektive des tibetischen Bön unsere Seele. Das Gute daran ist, dass wir das Verlorene komplett zurückholen können. Versuchen Sie einmal, sich an einen Moment in Ihrem Leben zu erinnern, in dem Sie sich als Mensch vollständig fühlten – zufrieden, rundum lebendig und bei sich selbst zu Hause. Stellen Sie sich vor, dass Sie sich nicht nur hin und wieder so fühlen können, sondern fast immer. Das hat die Praxis der Seelenrückholung zu bieten.
Was ist die Seele?
Bei der Bön-Praxis der Seelenrückholung wird die Seele (tibetisch la) als das Gleichgewicht der subtilen Energien und der damit verwandten Qualitäten der fünf Elemente verstanden: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum. Die alten tibetischen Lehren vermitteln uns, dass alles im Leben – im Grunde überhaupt alles, was es im Universum gibt, und jede unserer Erfahrungen – aus diesen fünf Elementen besteht. Ohne die äußeren Elemente Erde, Wasser, Luft und die Wärme der Sonne könnten wir nicht existieren, uns am Leben erhalten oder Nahrung finden. Genauso wenig kann unsere Seele ohne die inneren Essenzen der fünf Elemente genährt werden.
Innerlich erleben wir diese elementaren Qualitäten als ein Gefühl von Geerdetsein und Verbundenheit (Erde), von Wohlergehen und Fließen (Wasser), Freude und Inspiration (Feuer), Flexibilität und Bewegung (Luft) und als ein Gefühl der Offenheit und des Annehmens (Raum). Wenn uns eines dieser fünf natürlichen Elemente fehlt oder nur noch vermindert vorhanden ist, schädigt das unsere Seele. Wenn diese Qualitäten wieder ins Gleichgewicht gelangen, heißt es, dass unsere Seele geheilt ist. Bei den Praktiken der Seelenrückholung sind es die Qualitäten dieser fünf Elemente, die wir zurückgewinnen. Es ist möglich, dass Sie nur eine einzige Qualität zurückholen müssen, um alle anderen Qualitäten wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Ursachen für Seelenverlust
Nach den traditionellen tibetischen Lehren vermindert ein Schaden an Ihrer Seele auch Ihre Lebenskraft – Ihre Lebendigkeit. Seelenverlust kann zu körperlicher Schwäche und zu Krankheiten führen. Dadurch können Sie emotional, energetisch, psychisch und spirituell beeinträchtigt werden. In extremen Fällen kann Seelenverlust sogar zum Tod führen. Die mit dem Seelenverlust verbundene Unausgewogenheit der Elemente ist meist Ergebnis der unvermeidlichen Herausforderungen, vor denen wir im Leben stehen. Das kann alles sein: angefangen von einem nicht verarbeiteten Kindheitstrauma bis hin zu einem plötzlichen Schock, wie etwa der Tod eines geliebten Menschen. Ein Seelenverlust kann auch ganz allmählich eintreten – als Folge von angestautem Stress. Selbst ganze Nationen können infolge von Kriegen und Naturkatastrophen kollektiven Seelenverlust erleiden.
Woran merken wir, ob unsere Seele verletzt oder erschöpft ist? Häufig wird dies als tiefgreifende, chronische Unzufriedenheit wahrgenommen. Womöglich versuchen Sie, sich durch exzessives Fernsehgucken, Surfen im Internet, sinnloses Essen oder Trinken oder durch eine Reihe anderer Aktivitäten abzulenken. Trotzdem werden Sie im Hintergrund immer das Gefühl von Unzufriedenheit verspüren. Obwohl Sie die Ursache dafür nicht genau benennen können, wissen Sie, dass Sie nicht glücklich sind.
Auch Erschöpfung kann ein Anzeichen für Seelenverlust sein. Vielleicht haben Sie die Pflege eines älteren Elternteils übernommen und müssen zugleich versuchen, die Anforderungen Ihres eigenen Lebens damit unter einen Hut zu bringen. Sie haben zwar die besten und ganz richtigen Absichten, mitfühlend und großzügig zu handeln, aber Sie fühlen sich gestresst und ausgelaugt. Das Problem ist nicht die Menge der Zeit, die Sie mit der Unterstützung des anderen verbringen, sondern, dass Sie von einem Ort der Unverbundenheit aus agieren. Wenn Sie mit Ihrem natürlichen Zustand des Seins verbunden sind, ist es nicht stressig oder geistig erschöpfend, anderen etwas zu geben. Genau wie ein echtes Lächeln ergeben sich unsere Handlungen dann spontan, mühelos und aus Freude. Sie liefern sowohl dem Gebenden als auch dem Empfänger Energie.
Wenn wir uns aber unverbunden fühlen, entsteht ein Gefühl des Mangels; das Gefühl, dass wir für uns selbst mehr wollen oder brauchen. Dann kann es sein, dass Ihnen alles verkehrt erscheint: wo Sie sind, was Sie tun, mit wem Sie zusammen sind und wie Sie sich in Ihrer Haut fühlen. Vielleicht sind Sie einsam oder es fehlt Ihnen an Selbstvertrauen, an Vertrauen in andere und in Ihre Umwelt. Dieses chronische Gefühl, mehr zu brauchen, wird zu Ihrer Identität.
Wenn der Seelenverlust gravierend ist – wenn er etwa im Zusammenhang mit einem schweren Trauma eintritt –, kann er als posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zum Ausdruck kommen. Menschen mit PTBS haben mitunter wiederkehrende Albträume, Flashbacks oder lähmende Angst, und es fällt ihnen schwer, im Alltag zu funktionieren. Kriegsveteranen und Opfer von Gewaltverbrechen können unter solch einem schweren Seelenverlust leiden. Er kann auch durch ein traumatisches Ereignis ausgelöst werden, etwa wenn man Zeuge eines schrecklichen Autounfalls wird, plötzlich seinen Job verliert oder einen Herzinfarkt erleidet.3
Ein Pfad zur Heilung
Ganz gleich, was Ihnen im Leben geschehen ist, unter welcher Art von Schmerz Sie leiden oder wie stark beziehungsweise schwach der Schmerz ist – die Praktiken der Seelenrückholung in diesem Buch bieten Ihnen einen direkten Weg, um mit Ihrem Leiden umzugehen. Die Praktiken ermöglichen es, negative Emotionen und Energien, die Ihre freudvolle Natur blockieren, zu beseitigen und die elementa ren Qualitäten, die Sie nähren, zurückzugewinnen und zu pflegen. Der Akt der Rückholung ist für die Heilung entscheidend.
Das erste Kapitel, »Ihr Leben ganz genau betrachten«, hilft Ihnen festzustellen, welches Element Sie momentan für die Heilung Ihrer Seele am nötigsten brauchen. Das zweite Kapitel, »Die Seele in der Natur regenerieren«, erläutert, wie wir das Element, das wir brauchen, direkt aus unserer natürlichen Umwelt zurückgewinnen können. Dabei schöpfen wir nicht nur aus den grobstofflichen Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft oder Raum, sondern auch aus deren jeweiligen subtileren Essenzen. Wasser ist nicht nur die klare, lebenspendende Flüssigkeit, die durch Bäche und Flüsse strömt; Wasser hat auch fließende, wohltuende und entspannende Eigenschaften. Auf einer noch tiefgründigeren Ebene wird jedes Element mit einer bestimmten Art von Weisheit in Verbindung gebracht. Man kann Wasser als die spiegelgleiche Weisheit erleben oder als ein Gewahrsein, das alle Dinge reflektiert, ohne sie zu bewerten. Durch tiefe Meditationspraxis können Sie sich mit jedem Element in seiner reinsten Form verbinden – als eine Qualität von Licht oder von leuchtendem Gewahrsein.
Tabelle 1. Die fünf Elemente und ihre Eigenschaften, Weisheiten und reinen Lichter
Element * | Haupteigenschaften | Weisheit | reines... |