Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu wäre am 1. August 73 Jahre alt geworden. Er wurde 1930 in einem kleinen Ort der französischen Pyrenäen geboren und durchlief alsbald die komplette wissenschaftliche Karrierehierarchie Frankreichs, wo er sich auch aufgrund der Aufnahme in das „Collège de France“ 1982 schließlich zur Akademikerelite zählen durfte. Im französischen Ausland wurde er hauptsächlich durch sein materialreiches Werk „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ bekannt, in welchem er Forschungen über die Interdependenz zwischen sozialstruktureller Positionierung, der Ausprägung klassenspezifischer Geschmacksdispositionen und der sich darauf gründenden symbolischen Lebensführungsstile, bezogen auf die französische Gesellschaft der 60er und 70er Jahre, betrieb.
In den letzten Jahren seiner Arbeit wollte er sein Schaffen vor allem als Anthropologie verstanden wissen: Als umfassende Analytik des vergesellschafteten Menschen. Dabei nahm er eine Position ein, mit welcher er den Gesellschaftsmitgliedern eine soziale Praxis zuordnete, die durch systemische Befangenheit ausgezeichnet war. Er stellte bei diesen den „Sinn für das Spiel“ fest, der jegliche Handlung bestimmt und ihnen damit die Möglichkeit einer permanenten Selbstreflexion nimmt.
In seiner Antrittsvorlesung am „Collège de France“ referierte er in der „leçon sur la leçon“ über die Herrschaftsmechanismen von Vorlesungen, um damit der Akademikerwelt, der er ja selbst angehörte, die Neutralität zu nehmen. Die Erkenntnis und die Offenbarung dieser Wirkungen betrachtete er als Freiheitserhalt aufgrund der Reflexion des Selbst und der Dinge. Nur diese Reflexion, die er dem sozialisierten Akteur weitgehend abstreitet, ermöglicht es, die Herrschaftsmechanismen zu erkennen und zu überwinden, um nicht an der Reproduktion der Herrschaft beteiligt zu sein.
Mit dieser kritischen Haltung vor allem gegenüber dem Neoliberalismus hatte er das von ihm selbst gepflegte Ideal weltanschaulicher Neutralität abgelegt und so auch natürlich kritische Gegenreaktionen auf sich gezogen.
Um zu seinen Erkenntnissen über einen handelnden Akteur in der Gesellschaft zu gelangen, musste Bourdieu jedoch den Gegensatz von makrosoziologischen Gesellschaftsanalysen und mikrosoziologischen Handlungstheorien überwinden, da nur so der Beitrag der Gesellschaft im individuellen Handeln zu ermitteln ist.
In ursprünglichen, klassischen Theorien wurde versucht, Soziologie nur auf der makrosoziologischen (Durkheim, Parsons) oder nur auf der mikrosoziologischen (Mead, Schütz, Homans) Seite zu betreiben, was eine Einseitigkeit des jeweiligen Forschungsgegenstands mit sich brachte.
Eine logische Lösung konnte also nur in der Verbindung dieser beiden Gegensätze zu finden sein. So hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die gegenteiligen Ansätze zu überwinden, um so ein Gesellschaftsmodell aufzustellen, welches die Oberfläche der Gesellschaft in Form der Strukturen mit einem adäquaten Handlungsbegriff, der sozialen Praxis, verbinden sollte.
Über dieses Modell stellte er dann ein stark sozial determiniertes Subjekt fest, welches offenbar in erster Linie damit beschäftigt war, die Strukturen in Form der gegebenen Herrschaftsverhältnisse zu reproduzieren.
Diese Reproduktion steht nun im zentralen Interesse dieser Arbeit. Diese und die von Bourdieu herausgearbeiteten Zusammenhänge werden in den nächsten drei Kapiteln zu untersuchen sein.
In seiner eigentümlichen Praxeologie der Praxis stellte Bourdieu also einen Handlungsbegriff auf, durch welchen eine Reproduktion des Selbst und der Strukturen nahezu vorgegeben war. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stand dabei das theoretische Konstrukt des Habitus, über welches Bourdieu glaubte, jedes soziale Handeln erklären zu können.
In dieser Arbeit werden die theoretischen Erkenntnisse der Habitustheorie dann in Hinsicht der Leistung als adäquate soziologische Erklärung zu untersuchen sein.
Im zentralen Interesse wird dabei die über den Handlungsbegriff vermittelte Erklärungskraft stehen, die in der Habitustheorie zu finden ist. Dabei wird auf die Aussagen der erklärenden Soziologie zurückzugreifen sein. Deren Konzept ist ausgerichtet auf interdisziplinäre Kooperation, vor allem mit den Fachgebieten der Psychologie, der Sozialpsychologie, der Ökonomie, Recht oder Geschichte. Die erklärende Soziologie basiert auf Arbeiten von z.B. Boudon und Coleman; Vertreter in Deutschland sind z.B. Diekmann, Esser, Friedrichs u.a.
Das in der erklärenden Soziologie aufgestellte „Modell der soziologischen Erklärung“ wird in dieser Arbeit die Grundlage bilden, um die Habitustheorie zu untersuchen. Dieses Modell enthält die Verbindung von Mikro- und Makroebene. Es entgegnet einer Gleichsetzung von Akteuren im methodologischen Individualismus und individuellen menschlichen Subjekten und betont eine Modellierung von unintendierten und unentrinnbaren Folgen situationsgerechten Handelns, um so gesellschaftliche Phänomene erklären zu können.
Das Ziel der auf diesen Modellen beruhenden Soziologie ist die Erklärung kollektiver Tatsachen als eigentlicher Gegenstand soziologischer Untersuchungen, was jedoch nur über die Gesetze des individuellen Handelns zu erreichen ist. Dieses Ziel ist auch der Praxeologie Bourdieu`s zu entnehmen.
In dieser Arbeit gilt es nun aufzulösen, inwiefern Pierre Bourdieu diesem Ziel nachkommt, bzw. ob die Habitustheorie eine adäquate soziologische Erklärung darstellt. Wird der Mikro-Makro-Gegensatz überwunden und kann der Handlungsbegriff Bourdieu`s soziales Handeln tatsächlich erklären, um so die Ermittlung des Beitrags der Gesellschaft in der individuellen Praxis adäquat zu ermöglichen?
Inwiefern die Habitustheorie nun als eine soziologische Erklärung im Sinne der erklärenden Soziologie betrachtet werden kann, wird also zu großen Teilen am Handlungsbegriff festzumachen sein. Die theoretische Priorität der Auflösung der gestellten Fragen wird daher auf der Individualebene liegen. Um diese Thematik nun zu bearbeiten, wird wie folgt vorzugehen sein.
Im nun folgenden zweiten Kapitel wird eine sehr ausführliche Beschreibung der Habitustheorie die Grundlage für die darauf folgende Diskussion sein. Dabei wird das als äußerst komplex zu betrachtende Werk Bourdieu`s in einer Weise dargestellt werden, die sowohl die Vielfalt seiner Forschungen und Analysen erkennen lassen, aber dennoch den konstruierten „theoretischen Werkzeugen“, mit denen er seine Theorie schließlich aufstellte, eine bestimmte Ordnung verleihen soll. Dazu werde ich zunächst auf die Soziologie, die Pierre Bourdieu betrieb, eingehen, um den Hintergrund bzw. die Ermöglichung der Habitustheorie überhaupt darzustellen.
Im darauf folgenden Abschnitt soll dann auf den Habitus eingegangen werden, der sich dann durch die ganze Vorstellung der Theorie ziehen wird. In den nächsten drei Abschnitten und ihren Unterabschnitten sollen daran anschließend die theoretischen Konstrukte des Kapitals mit seinen Unterformen, des Felds, der Klasse und des sozialen Raums aufgeführt werden, um daraufhin wiederum auf den Habitus und seiner Funktion bzw. Bedeutung nunmehr im Kontext dieser von Bourdieu konstruierten Werkzeuge einzugehen.
Das zweite Kapitel schließen wird dann die Erklärung der Reproduktion, wobei hier in erster Linie die Lebensstiltheorie dargestellt wird, und nur kurz der gesamte als Reproduktion zu bezeichnende Prozess, welchen die Habitustheorie beschreibt, angesprochen wird. Diese Zusammenfassung wird dann erst im nächsten Kapitel schon in Bezug auf die Logiken der erklärenden Soziologie gegeben.
Das dritte Kapitel wird sich hauptsächlich im Rahmen der kritischen Diskussion der Habitustheorie abspielen. Dazu soll im ersten Abschnitt zunächst nur kurz das Modell der soziologischen Erklärung dargestellt werden, um so einen Einblick in die Schritte und Logiken von diesem zu geben. Weite Teile werden dabei jedoch vorausgesetzt. Der nächste Abschnitt bezieht sich dann auf die angesprochene Zusammenfassung der Habitustheorie, welche hier bereits in vergleichbare Schritte eingeteilt wird, um eine anschließende kritische Diskussion zu erleichtern. Diese wird dann im darauffolgenden Abschnitt stattfinden und in die einzelnen Elemente und Schritte aufgegliedert sein, die einer soziologischen Erklärung entsprechen. Diesen Abschnitt und zugleich auch dieses Kapitel abschließend wird dann ein vorzeitiges Resümee diese Kritik in ihren wesentlichsten Merkmalen nochmals aufgreifen.
Im vierten Kapitel werden dann die aus den vorherigen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse dazu verwendet, diverse Verbesserungen im modelltheoretischen Bereich auf die Habitustheorie vorzuschlagen. Den zweiten und letzten Teil dieses Kapitels wird dann eine Anwendung der Habitustheorie mit Einbezug dieser Modifikationen auf die Elemente und
Schritte des soziologischen Erklärungsmodells darstellen.
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