I. Der helvetische Gedächtnisschwund
Eine strahlende Herbstsonne steht über dem Genfer See. Rot, gelb und orange glühen die Bäume. Der Himmel ist kristallklar. Die Gipfel der Savoyer Alpen am Südufer glitzern in der Sonne. Neuschnee ist in der Nacht zuvor auf das Vorgebirge des Mont-Blanc-Massivs gefallen. Ich sitze im Schnellzug Genf-Bern der Schweizerischen Bundesbahnen.
Der Zug rollt durch die Rebberge des Lavaux hoch über dem rechten Seeufer. Goldenes Licht spielt in den Reben. Es ist Montag, der 30. September 1996.
Das vergangene Wochenende habe ich mit der Vorbereitung meiner Parlamentsrede verbracht, zahllose Telefonanrufe besorgter Bürgerinnen und Bürger beantwortet und mit zwei Freunden aus einer Genfer Privatbank meine Dokumentation aufgearbeitet. Jetzt versuche ich meine Notizen zu ordnen, ständig abgelenkt von der schwelgerischen Pracht dieser Landschaft.
Auf dem Bundeshaus in Bern weht die große Schweizerfahne: weißes Kreuz auf rotem Feld. Das Parlament der Eidgenossenschaft tagt. Sitzungsbeginn: 14 Uhr 30. Angesagt ist die große Debatte betreffend »nachrichtenlose jüdische Konten« und Nazi-Gold in helvetischen Bankenkellern.
Kaum betrete ich die Wandelhalle, bemerke ich ungewohnte Nervosität. Kolleginnen und Kollegen stehen in Gruppen herum, tuscheln. Journalisten sprechen gereizt in ihr Handtelefon. Einige protestieren mit lauter Stimme. Andere schütteln bloß ungläubig den Kopf. Aufregung überall. Thomas Reimer, ARD-Korrespondent in der Schweiz, murmelt fassungslos: »Das darf doch nicht wahr sein!«
Herr Bigler, Bundesweibel in grüner Uniform mit goldener Kette, kommt auf mich zu. Wir mögen uns. Bigler ist verlegen: »Es tut mir leid, Sie können heute nicht reden. Es gibt keine Debatte.«
Ich traue meinen Ohren nicht: Über das Wochenende hat der Präsident, unterstützt vom Ratsbüro, beschlossen, eine allgemeine Parlamentsdebatte zu unterbinden. Reden dürfen allein Außenminister Flavio Cotti und je ein vorsortierter Sprecher einer jeden parlamentarischen Gruppe. Gewählte Volksvertreterinnen und Volksvertreter müssen schweigen. Ich stürme zur Präsidententribüne hinauf, protestiere heftig.
Jean-François Leuba, Jurist aus Lausanne und Parlamentspräsident, versteht meine Empörung nicht. Tiefes Erstaunen steht in seinem runden Gesicht. Mit vorwurfsvoller Stimme antwortet er mir: »Vous ne voudriez quand-même pas, que nous nous donnions en spectacle devant tous ces étrangers?« (»Sie wollen doch nicht, daß wir uns hier bloßstellen, vor all diesen Ausländern?«)
Tatsächlich. Da sitzen sie, die Feinde: internationale Journalisten.
Das Bundeshaus, ein Prachtbau aus der Zeit der Jahrhundertwende, beherbergt einen riesigen, holzgetäfelten Plenarsaal, der wie ein Amphitheater konstruiert ist: unten die Parlamentarier, Stimmenzähler, Dolmetscher, Sekretärinnen, die Weibel und die Regierung. Hoch darüber, rings herum abgesondert durch schützende Balustraden, die Tribünen für das Publikum, die Presse und die Diplomaten.
Auf den beiden Pressetribünen drängen sich die amerikanischen, englischen, französischen, deutschen Journalisten. Gleich gegenüber dem Fauteuil des Präsidenten, hoch oben auf der Zuschauertribüne, haben ausländische Fernsehgesellschaften Batterien von Kameras, Mikrophonen und Lichtständern aufgebaut.
Oben rechts im Saal, auf der Diplomatentribüne, sitzen, umgeben von ihren Mitarbeitern, der israelische Botschafter Gabriel Padon und Madeleine Kunin, Botschafterin der Vereinigten Staaten. Gebürtig aus einer jüdischen Familie aus Zürich war Kunin nach dem Krieg in die USA ausgewandert.
Jean-François Leuba gleicht einem der Kurienkardinäle, wie Tiepolo sie malte. Sein Leib ist rund, seine Bewegungen flink und gleichzeitig gemessen. Fröhliche, lebhafte Augen blicken aus seinem runzeligen Gesicht. Er strahlt Gelassenheit aus. Und Würde. Er glaubt an die Reinheit der Reinen. Zweifel sind ihm fremd. Leuba stammt aus dem »Pays de Vaud«, dem Kanton Waadt, der seit Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Einmarsch der napoleonischen Truppen 1798 bernisches Untertanengebiet gewesen war. Gehorsam liegt ihm im Blut.
Das eidgenössische Parlament kennt kein Unvereinbarkeitsgesetz. Zahlreiche meiner Kolleginnen und Kollegen verdienen jährlich Hunderttausende von Franken als Verwaltungsräte der Großbanken und der von diesen abhängigen Konzerne.
Sie strahlen stille Zuversicht aus. Kritisiert wird heute nicht – und sonst nicht oft.
Recht hat er, der große Vorsitzende Leuba mit seiner Zensur. Die Journalisten sind selber schuld, wenn es heute keine Debatte geben darf. Ihre Artikel in den vergangenen Wochen waren alles andere als erfreulich.
Im Hamburger Spiegel stand zu lesen (Nr. 38, 1996): »Hitlers willige Hehler – Im Tausch gegen geraubtes Gold finanzierten die Schweizerische Nationalbank und die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr die Angriffskriege der Nazis.«
»Räuberhöhle Schweiz« betitelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 26.9.1996 eine Analyse der helvetischen Mithilfe zu den nationalsozialistischen Kriegsverbrechen. Und eine Woche zuvor die gleiche FAZ, ironisch diesmal: »Wenn die Wirklichkeit jeden Schmöker übertrifft ...« Die Zeit schrieb am 13.9.1996 in gewohnt distinguierter Art vom »langen Schatten des Holocaust«, der die Schweiz endlich eingeholt hätte.
Dieselbe Ausgabe von Die Zeit berichtete auch genüßlich von Hitlers eigenem Konto bei der Schweizerischen Bankgesellschaft, Filiale Bern, wohin seit 1926 bis zum Kriegsende die Tantiemen von »Mein Kampf« flossen, treuhänderisch verwaltet vom SS-Obersturmbannführer Max Amann.
Schlimmer noch gebärdeten sich die Angelsachsen. Von der »Helvetischen Neutralitätslüge« schrieb die New York Times, und im Londoner Evening Standard vom 13.9.1996 stand zu lesen: »Swiss neutrality: just an excuse to get rich.« Im Unterhaus war ein Labour-Abgeordneter aufgestanden und hatte die Eidgenossenschaft als »Paria Europas« beschimpft. Die Financial Times (13.9.1996) höhnte: bisherige Rechtfertigungsversuche der Schweizer Regierung seien bloß eine fieberhafte, aber vergebliche Übung in »damage limitation« (Schadensbegrenzung).
Selbst die einheimische Presse zeigte sich ungewohnt kritisch: Im Hebdo, der wichtigsten Wochenzeitung der französischsprachigen Schweiz, stand zu lesen: »Ohne die Hilfe der Schweiz wäre Deutschland bereits im Oktober 1944 besiegt gewesen ... Die Schweiz hat Nazi-Deutschland tatkräftig unterstützt: indem sie den Nazis die Nord-Süd-Verbindungen durch den Gotthard offenhielt, ihnen große Mengen hochwertigen Präzisionsmaterials, optische Instrumente etc. lieferte und die gestohlenen Vermögenswerte der Nazis weiß wusch, insbesondere durch den Umtausch des geraubten Goldes in nützliche Devisen.«
Auch aus Zürich, der Finanzmetropole des Landes, kamen böse Stimmen. Die Weltwoche (Nr.40, 1996): »Weshalb die Banken im Umgang mit der Vergangenheit versagen: Lemminge vor dem Abgrund.« In derselben Nummer der Weltwoche eine zweite Analyse zum Raubgold und den »nachrichtenlosen Vermögen«, unter dem Titel: »Wie unvergleichlich war die Raffgier der Gnomen?«
Über Vorvergangenes referierte Cash (Nr.39 und Nr.40, 1996), die größte Wirtschaftszeitung der Eidgenossenschaft: »Die Gier kannte keine Grenzen. Noch im März 1945 holte sich die Nationalbank Raubgold aus Deutschland. Mit Hilfe von Bestechung.« ... Und weiter: »Der Bundesrat [die Regierung] hat gelogen ... Holocaust-Gelder: Parlament getäuscht, vor den Banken gekuscht.« Ein anderer Cash-Titel: »Helvetias Kriegsgewinnler: Ohne die Golddrehscheibe Schweiz wäre der Krieg in Europa viel früher zu Ende gewesen.«
Die mit Abstand größte Schweizer Zeitung ist der Sonntags-Blick. Sie gehört dem Medienkonzern Ringier. Ringier-Generaldirektor und Starkolumnist des Hauses, Frank A. Meyer, schreibt in gewohnt prägnanter Sprache am 22. September 1996: »Die Schweiz hat die vor den Nazis flüchtenden Juden an der Grenze abgewiesen und so in den Tod geschickt. Das Gold, das die Nazis den toten Juden aus den Zähnen brachen, hat die Schweiz willig akzeptiert und gewaschen.«
Wer nährt diese internationale Sturzflut von Enthüllungen? Fanatische Schweizfeinde? Greise Exkommunisten mit einem unbändigen Haß auf die Schweizer Banken? Junge, wirre Linksextremisten, verbissen in ihren Kampf gegen das Kapital?
Nein, fast einzige – aber seit Sommerbeginn 1996 stets sprudelnde - Quelle dieser Dokumentenflut ist die amerikanische Regierung. Die Forscher (»investigators«) der Bankenkommission des amerikanischen Senats und des Jüdischen Weltkongresses gruben und graben in Washingtons Kriegsarchiven jede Menge belastender Dokumente aus. Sie schleusten und schleusen sie mit schöner Regelmäßigkeit in die Weltpresse.
Die Vorgeschichte: New York beherbergt nicht nur die größte jüdische Gemeinde der Welt, hier wohnen auch viele kritische Intellektuelle jeglicher Provenienz. Seit langem schon riefen sie nach einer vollständigen Aufklärung der Nazi-Verbrechen – insbesondere der Wirtschaftsverbrechen. Allen voran zwei New Yorker Parlamentarier nahmen sich der Sache an: der republikanische Senator (und Präsident der Bankenkommission) Alfonse D’Amato und die demokratische Abgeordnete des 14. Distrik (Upper East Side), Carolyn Maloney. Nichts ist wirksamer im amerikanischen politischen System als ein »bi-partisan-plea«, eine von den beiden großen Parteien unterstützte Forderung.
Am 3. Januar 1996 stimmten Repräsentantenhaus und Senat einstimmig einer Resolution zu, die die Offenlegung der gesamten Kriegsvergangenheit verlangt. Ich zitiere...