I Die Schweiz zwischen Globalisierung und Sonderfalldenken
Karl Haltiner, Peter Gros, Fridolin Stähli
Im Jubiläumsjahr 2015 gedachte die Schweiz der Schlachten bei Morgarten 1315 und 1515 in Marignano, des Wiener Kongresses von 1815, an dem sie von den europäischen Mächten ihre Neutralität garantiert bekam, und des vor 70 Jahren unversehrt überstandenen Zweiten Weltkriegs. Mehr als 700 Jahre umfasst die Spanne, in der sich die nationale Seele und der Stil des europäischen Kleinstaates Schweiz herausbildeten. Ihre wichtigsten Signaturen sind Alpenidylle und bäuerliche Freiheitslegenden, Abgeschlossenheit und naturnahe Selbstgenügsamkeit, gekammerte Kleinräumigkeit, Selbstbestimmung und landschaftliche Melancholie, regionales Sprachtum und kulturelle Eigenheiten, religiöser Streit, Befreiungskriege und ausgreifende Eroberungszüge, eigene und fremde Richtersprüche, transalpiner Handel und Verkehr, politische Händel und diplomatisches Geschick, frühe Volksmitsprache und Trotz gegenüber Mächtigen von oben und aussen, Nichteinmischung und defensive Abschottung, Selbstgewissheit und gefährdeter Zusammenhalt.
Viele glauben, darin einen europäischen Sonderfall zu erkennen. Wie viel davon ist «Sonderfallphantasie»,1 wie Peter von Matt meint, wie viel hat einen realen Hintergrund? Was verbindet die Begriffe Sonderfall und Identität? Warum steht der Identitätsdiskurs derzeit nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit hoch im Kurs? Welche Wirkungen hat eine beschleunigte Globalisierung generell auf den Nationalstaat und seine Souveränität? Bildet die Schweiz eine Ausnahme? Welche Bedeutung kommt dem Sonderfalldiskurs hierzulande zu und worin unterscheidet sich der aktuelle von früheren? Und schliesslich: Gibt es Gründe anzunehmen, dass das schweizerische Selbstverständnis heute in einer Krise steckt? Wenn ja, was sind die Ursachen und was ist zu tun? Mit den Beiträgen der sieben Autorinnen und Autoren sowie einigen Vorüberlegungen zur Sonderfall- und Identitätsthematik versuchen wir, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Identität und Globalisierung
Die Politisierung des Wortes «Identität» hat in den Medien seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert Konjunktur. «Identitätskonstrukt», «Identitätskrise», «Identitätspolitik», «Identitätsgehabe», «Identitätsgeschwätz» sind Beispiele, die sich mühelos in der Wahlkämpfersprache der letzten zehn Jahre finden lassen.
Es ist kein Zufall, dass im politischen Diskurs der Begriff «Globalisierung» fast gleichzeitig mit jenem der «Identität» immer häufiger verwendet wird. Globalisierung bedeutet wachsende weltweite Vernetzung kommunikativer, ökonomischer, politischer, ökologischer und kultureller Handlungsfelder und Lebensbereiche. Wir werden immer grossräumiger miteinander vernetzt und voneinander abhängig. Dies mit doppelter Folge: Einerseits wirkt die Befreiung der Märkte aus lokalen, regionalen und nationalen Fesseln – beispielhaft sichtbar am europäischen Binnenmarkt – unzweifelhaft als Wohlstandsmotor. Das Weltsozialprodukt ist sowohl in der ersten neuzeitlichen Globalisierungswelle im 19. Jahrhundert als auch in der zweiten von 1945 bis heute fast explosionsartig gewachsen. Der Hunger wurde weltweit zurückgedrängt, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist gestiegen; die Kindersterblichkeit, die zwischenstaatlichen Kriege und die zwischenmenschliche Gewalt sind auf ein historisches Minimum gesunken, wiewohl uns die Schlagzeilen der Medien das Gegenteil suggerieren.2 Dieser Trend gilt allgemein, auch wenn die durch diesen Prozess generierten Ungleichheiten zwischen den Menschen, den Gesellschaften und den Regionen nicht zu übersehen sind.
Anderseits lassen innovative Techniken der Kommunikation, dramatisch gesunkene Informationskosten und die schnelle, arbeitsteilig-ökonomische Verdichtung die frühere Distanz zu den anderen rasant schrumpfen: Raum und Zeit werden komprimiert. Wir rücken näher zusammen. Die mediale Integration der Welt über das Internet und die sozialen Medien in ein informationelles globales Netzwerk hat sich in den letzten Jahren fast revolutionär vollzogen. Durch wachsende Nähe, sei sie räumlich, medial oder migratorisch, werden die Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen unmittelbarer sichtbar als früher. Kulturelle Verschmelzungsprozesse sind historisch zwar nichts Neuartiges, sie lassen sich über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg nachweisen. Neu an ihnen ist das Tempo, mit dem sich die Diffusions- und Homogenisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im neuen Millennium mithilfe der modernen Informationstechnologien ausbreiten.
Hier wurzelt die gesteigerte Bedeutung des Identitätsbegriffs, ja seine Transformation in einen Kampfbegriff.3 Denn in dem Masse, in dem wir mit dem Fremden und Andersartigen konfrontiert werden, wird das eigene Selbstverständliche und Unhinterfragte, nämlich das, was man bislang als das begriff, was das eigene Selbst ausmachte, was einem wert und Heimat war, hinterfragbar, «fragwürdig» im Sinne des Wortes. Unser kollektives Selbstbild leitet sich aus der Unterscheidung vom anderen bzw. von den anderen ab. Die Werte und Institutionen, die unsere Identität konstituieren, kontrastieren mit denjenigen der anderen. Jeder Identitätsfall bildet somit definitorisch einen Sonderfall.
Ein Bild, das vor einigen Jahren durch die Weltmedien geisterte, bringt diesen Sachverhalt eindrücklich auf den Punkt: Ein mit einem Bogen bewaffneter Krieger der australischen Aborigines steht mit aufgerissenen Augen vor einem TV-Gerät, auf dem ein Bild einer weissen Frau flimmert, die ihre blonden Haare föhnt. Das Foto gibt einen Eindruck vom Kulturschock, der entstehen kann, wenn unser «Ich» sich einer unerwarteten Andersartigkeit gegenüber sieht. In der Haltung des Aborigine-Mannes manifestieren sich Abwehr und Widerstand. Das Motiv, sich das Eigene nicht einfach so nehmen zu lassen, sich zu behaupten, auf dem Fundament der eigenen Kultur zu beharren, leuchtet reflexartig auf. Statt des Aborigine-Kriegers könnte auch ein anderes Bild erwähnt werden, das in den Schweizer Medien die Runde machte: Ein blonder, etwa zehnjähriger Knabe in einem roten T-Shirt mit weissem Brustkreuz streckte anlässlich des Eidgenössischen Schwingfestes 2013 einem ausländischen Fotografen mit trotzigem Grinsen den Stinkefinger entgegen.
Die Erkenntnis, dass Toleranz gegenüber anderen eine Voraussetzung dafür ist, dass die anderen die eigene Eigenartigkeit tolerieren, dürfte erst als zweiter Gedanke auftauchen. Und dass die in der Erkenntnis des Andersseins steckende kulturelle Offerte womöglich etwas darstellt, das es wert ist, geprüft zu werden, setzt bereits den Individualisten der postmodernen westlichen Gesellschaften voraus, der sich seinen Lebensstil, sprich seine Identität und die Elemente dafür, auch aus einer anderen Kultur eklektisch zusammenstellt.
Kulturelle Homogenisierung und Modernisierung als Bedrohung
Identitäten konstituieren sich über Werte. Werte bilden das ab, was einem Individuum bzw. einem Kollektiv wichtig ist. Zwischen unserer Identität und dem Wert Sicherheit besteht ein enger Zusammenhang. Erst die Wahrnehmung einer Gefährdung dessen, was uns lieb und teuer ist, lässt uns gewahr werden, wer wir sind und was uns wie viel wert ist. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob die Bedrohung real oder nur imaginiert ist. Es gilt das Thomas-Theorem:4 Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich. In den genannten Bildern des australischen Eingeborenen wie des Schweizer Knaben manifestiert sich die Janusköpfigkeit des weltweiten Modernisierungsprozesses. Während die Handelsschranken zwischen den Nationen fallen und die Welt arbeitsteilig zu einem einzigen Werkplatz zusammenwächst, in dem es immer schwieriger wird, die Heimat eines Produkts auszumachen, verbreiten sich rund um den Erdball westlich geprägte Lebensweisen und Massenprodukte und bedrohen in der Wahrnehmung der betroffenen Menschen und Gesellschaften eigene kulturelle Gewohnheiten und Traditionen. Das Englische wird – auch in der nichtenglischen multikulturellen Schweiz – zur Zweit- und Weltsprache. Die global anschwellenden Migrationsströme, die vorab von den armen Peripherien in die reichen Zentren verlaufen und die Multikulturalisierung der Gesellschaften dieser Welt vorantreiben, bewirken, dass die zwischengesellschaftlichen Unterschiede abflachen, während die innergesellschaftlichen Unterschiede in Teilen der Welt derzeit fast sprunghaft wachsen. Die ethnische Vielfarbigkeit der europäischen Fussballmannschaften, auch der Nationalmannschaften, dokumentiert diese Tendenz eindrücklich. Der Globalisierungsdynamik wohnt offensichtlich eine erhebliche individuelle und kollektive Verunsicherung inne.
Der Nationalstaat als Auslaufmodell?
Die Welt ist staatlich geordnet. Der territorial definierte Nationalstaat hat im Europa des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug angetreten und ist zum Ordnungsprinzip schlechthin avanciert. Dies, obwohl rund ein Drittel der 200 Staaten dieser Welt als fragil oder «failed» zu gelten hat. Von der Geburt bis zum Tod ist der Staat in unseren Breitengraden die determinierende Institution. Dass der einzelne Nationalstaat für die Lösung der grenzüberschreitenden Weltprobleme – sei es die Klimaveränderung, die Migration, kriegerische Konflikte, neuartige Epidemien, Armutsbekämpfung, Terrorismusbekämpfung u. ä. – zunehmend zu klein ist, für die sogenannten grossen Sorgen der kleinen Leute...