Meine Sehnsucht nach Freiheit war stetig gewachsen. Ich fühlte mich wie ein Pferd, das in seinen Stall eingesperrt ist, aber davon träumt auszubrechen und mit wehender Mähne seiner Freiheit entgegen zu stürmen.
Während meiner Schulzeit starrte ich häufig aus dem Fenster oder malte Pferde in mein Heft, um mich daran zu erinnern, was für mich selbst wirklich wichtig war. So wie von jedem anderen wurde auch von mir in der Schule erwartet, dass ich lernte, was andere wichtig finden, um das zu tun, was von mir erwartet wurde. Wenn ich die Erwartungen der anderen nicht erfüllte, wurde das bestraft. Nicht mit einem Ruck am Gebiss, einem Schlag mit der Peitsche oder einem schmerzhaften Stich mit den Sporen in meine Rippen, sondern durch schlechte Noten oder andere Sanktionen.
Wenn ich morgens zur Schule ging, hatte ich oft meine Reitsachen statt der Schulbücher in meiner Schultasche. Ich fuhr mit dem Fahrrad heimlich zu dem Reitstall, in dem mein Pferd Natasha stand. Den ganzen Tag ritt ich dann mit Natasha über die Heide und durch die Wälder. Wenn im Sommer schönes Wetter war, nahm ich oft meinen Badeanzug mit, sodass ich in den kleinen Seen auf der Heide mit ihr schwimmen konnte. Ohne Sattel galoppierten wir so schnell wir konnten ins Wasser. Immer tiefer, bis Natasha den Boden nicht mehr fühlen konnte und zu schwimmen begann. Ich hatte meine Arme um ihren Hals geschlungen und ließ mich von ihr mitnehmen. Wenn wir uns ausgetobt hatten, setzte ich mich an den Rand des Sees und aß meine mitgebrachten Butterbrote, während sich Natasha genüsslich über das Gras und die Möhren hermachte, die ich mitgenommen hatte. Das war Freiheit für mich, das war Leben. Später, als ich erwachsen war und selbst bestimmen konnte, was ich tat, gelang es mir nicht, mich wirklich frei zu fühlen.
Mein Leben war in den Augen der anderen „perfekt“, und trotzdem fühlte ich mich immer mehr wie ein Pferd, das sich nach unendlicher Weite sehnt, um ausgiebig galoppieren zu können. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben von den Erwartungen bestimmt wurde, die mir von außen auferlegt wurden. Wie ein Pferd, das auch immer wieder Befehle ausführen muss; Befehle, die an dem vorbeigehen, was das Pferd wirklich will, auferlegt von den Menschen, die nie zufrieden zu sein scheinen, egal wie sehr das Pferd versucht, sein Bestes zu geben.
Mein wachsender Widerstand hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt immer nach innen gekehrt. Ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich zu einem ungewollten Familienbesuch „musste“, und Schmerzen im Knie, wenn ich meine Kinder zur Schule bringen musste. Es war so, als sei ich jahrelang ein braves Schulpferd gewesen, aber stets lahmer geworden. Tief in mir wuchs das Verlangen, aus allem auszubrechen. Ich wünschte mir, die Tür meines Stalles zu zertreten und meiner Freiheit entgegenzurennen. Ich spürte die Sehnsucht, ganz ich selbst sein zu können, ohne von irgendetwas gezügelt zu werden.
Die Sehnsucht, gesehen zu werden, als Mensch, als lebendiges Wesen, geschätzt für das, was ich bin, statt beurteilt zu werden nach dem, was ich tue.
Aufbruch in ein neues Leben
An diesem Punkt meines Lebens bekam mein Mann eine Stelle in Amerika angeboten. Dieses Angebot fühlte sich für mich so an, als hätte meine Stalltür gerade dem Tritt meiner Hufe nachgegeben und hinge offen in den Scharnieren. Es war, als ob ich in der Tür meines jetzt offenen Stalles stünde und es nichts mehr gäbe, was mich noch von meiner Freiheit abhalten konnte. Ich bestand allerdings darauf, dass ich nur dann umziehen würde, wenn ich Natasha (die ich inzwischen sechzehn Jahre hatte und mit der ich mich unendlich verbunden fühlte) würde mitnehmen können.
Als ich die Fluggesellschaft anrief, um zu erfahren, welche Möglichkeiten es gab, sie nach Amerika zu fliegen, wurde ich kurz in die Warteschleife gesetzt. Durch den Telefonhörer schallte das Lied von Randy Crawford: „One day I’ll fly away …“
Die Gefühle, die diese Worte in mir hervorriefen, waren zwiespältig. Ich selbst wollte nichts lieber, als von allem und jedem wegzufliegen, fragte mich aber, ob sich das für Natasha auch so anfühlte. Sie war inzwischen zwanzig Jahre alt, litt unter Arthritis und hasste es außerdem, zu reisen. Ich hatte also meine Zweifel.
Anfänglich planten wir, an die Ostküste Amerikas zu ziehen. Es gab Flüge, auf denen Pferde transportiert werden durften, die in Washington D.C. landeten. Von dort aus war es nur eine kurze Fahrt zu unserem Wohnort. Alles schien also machbar zu sein.
Im allerletzten Moment, nachdem wir alle Verträge unterschrieben und unser Haus verkauft hatten, änderte sich unser Ziel aber in Richtung des Nordwestens von Amerika. Durch die Reorganisation des Unternehmens, in dem mein Mann arbeitete, wurde nicht Washington D.C., aber Washington State unser neuer Wohnort.
Die Nachfrage bei dem Transportunternehmen zeigte, dass diese Reise noch viel mehr Stolpersteine haben würde. Der Flug, den Natasha machen müsste, würde viel länger dauern. Außerdem ist Los Angeles der einzige Flughafen an der Westküste, auf dem Pferde landen dürfen. Natasha müsste dort sechs Wochen in Quarantäne bleiben und ich könnte sie wegen der großen Entfernung nicht besuchen. Anschließend müsste sie dann noch zwei Tage mit dem Lastwagen transportiert werden, um dorthin zu kommen, wo wir in Zukunft wohnen würden. Es machte mich nicht glücklich, mir vorzustellen, wie dies alles für sie sein würde.
Ich konnte den Gedanken daran, dass dieser Plan nicht wirklich im Interesse von Natasha war, nicht mehr unterdrücken. Ich wollte sie aber auch nicht zurücklassen. Es schien, als gäbe es keine gute Lösung für mein Dilemma, und weil es auch kein Zurück mehr gab, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich tun sollte. Ich lief heulend in den Stall, wo Natasha genüsslich ihr Heu kaute. Ich schlang meine Arme um ihren Hals und schluchzte, weil ich fest davon überzeugt war, dass sie nicht ohne mich und ich nicht ohne sie würde leben können.
Natasha holte mich sofort wieder in die Wirklichkeit zurück, indem sie mir einen ordentlichen Stups mit dem Kopf gab, wodurch ich mit einem Plumps im Stroh landete. Ich fühlte mich abgelehnt und traurig und lief geknickt zum Haus zurück. Ich liebte Natasha und war mir sicher, dass sie mich genauso liebte. Drinnen ließ ich mich aufs Sofa fallen. Ich machte gedankenlos den Fernseher an und zappte durch die Programme, um etwas Belangloses zu finden, was mich auf andere Gedanken bringen könnte. So landete ich bei einer Dokumentation über einen Natural-Horsemanship-Trainer in Amerika, Tom Dorrance. Tom, ein alter, freundlicher Mann mit einem großen Cowboyhut, stand mitten in einem Roundpen (einem rund eingezäunten Platz mit einem Durchmesser von ungefähr fünfzehn Metern) und erzählte über seine Arbeit mit Pferden. Sofort widmete ich mich mit aller Aufmerksamkeit diesem Bericht. Das war genau das, wonach ich schon seit Jahren suchte. So wollte ich mit Pferden arbeiten: so natürlich und frei wie möglich.
Ich hatte immer versucht, Natasha so viel Freiheit wie möglich zu geben, was mir aber nur bis zu einer gewissen Grenze gelungen war. Ich ritt sie am langen Zügel, sah in manchen Situationen aber keine andere Möglichkeit, als die Zügel doch anzunehmen. Ich gönnte ihr alle Freiheit, fragte mich aber gleichzeitig, ob ich ihr etwas geben konnte, was ich selbst in meinem Leben noch nicht gefunden hatte.
Ich fühlte, dass mich Amerika wie ein Magnet anzog, und ich spürte auch, dass die „wilde“ Westküste ein viel besserer Ort für mich sein würde als die konventionellere Ostküste. Es war das Gebiet der wilden, ungezähmten Natur, der Cowboys, der Natural-Horsemanship-Trainer und nicht zuletzt der Pferde. Gleichzeitig fragte ich mich, was ich da sollte, wenn ich mein eigenes Pferd nicht würde mitnehmen können.
Am nächsten Morgen war ich schon wieder besserer Stimmung – ein guter Schlaf kann Wunder wirken. Ich ging in Natashas Stall und begann sie zu putzen und zu satteln, weil ich einen Ausritt mit ihr machen wollte. Als ich sie nach draußen geführt hatte, lehnte ich meinen Kopf an ihren Hals, während ich sie in Gedanken fragte, was ich tun sollte.
Ich will nur das Beste für dich, Natasha; ich will die richtige Entscheidung treffen. Ich will tun, was dich glücklich macht. Wofür soll ich mich um Himmels willen entscheiden? dachte ich.
Ich gab ihr einen Kuss, stellte meinen Fuß in den Steigbügel und stieg auf. In dem Moment, in dem ich losreiten wollte, hörte ich ganz deutlich in meinem Kopf: „Liebe Nanda, das Universum ist vollkommen. Alles ist miteinander verbunden, und wenn du dir, so wie wir Pferde es auch sind, dieser Verbundenheit bewusst bist, dann weißt du auch, dass alles gut ist, so wie es ist. Ich habe dir alles beigebracht, was ich dir beibringen konnte, und unsere Wege trennen sich hier. Wenn du mich an Marijke abgibst, kann ich ihr auch zeigen, was ich dir gezeigt habe. Dadurch würde mein Leben doppelt so wertvoll werden.
Am anderen Ende der Welt wartet eine weiße Araberstute schon sehnsüchtig auf dich. Sie braucht dich sehr und wird auch deine neue Lehrmeisterin sein. Wenn du mich wirklich liebst, kannst du es beweisen, indem du mich loslässt, denn mein Leben geht hier weiter, so wie dein Leben dort weitergehen wird. Du wirst mich nicht verlieren, aber dadurch, dass du mich loslässt, werde ich dir näher sein, als ich es jemals war.“
Dann war es still. Mir fehlten die Worte, aber ich wusste, was ich zu tun hatte.
Marijke war eine nette, herzliche Frau, die im selben Dorf wohnte wie ich. Ich kannte sie schon lange vom Sehen, aber erst vor Kurzem waren...