Ein Chinese namens Bo Diu-I, er lebte im 8. Jahrhundert, war 66 Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb, das Günter Eich übersetzt hat:
»An 70 Jahren fehlen mir noch vier.
Lohnt sich’s, von diesem Leben noch zu sprechen?
Die Trauer sucht mich heim bei fremdem Tod,
und wiederum frohlocke ich: Noch atm’ ich hier.
Wie kann man schwarz das Haupthaar
sich bewahren?
Was ist zu tun, dass nicht das Aug sich trübt?
Von den Gefährten blieben Seelentafeln,
indessen Knecht und Magd Urenkel wachsen sehn.
Im magern Kreuz drückt wie Metall die Schwere,
an den verfallnen Schläfen häuft sich Schnee.
Was ist zu tun, wenn sich Gebrechen mehren?
Zeit ist’s, dass ich mich anvertrau dem Tor
der Leere.«
Als ich selbst jugendliche 66 Jahre zählte, schrieb ich ein kleines Buch mit der Behauptung: »Ich werde gerne alt.« Damals sagte mir eine befreundete Dame von 90 Jahren: »Du weißt ja gar nicht, wie das Altsein ist.« Inzwischen sind 23 Jahre ins Land gegangen, und ich bin 89. Die Freundin ist ihren Weg längst zu Ende gegangen, heute hätte sie vielleicht nichts mehr dagegen einzuwenden, dass ich über das Altsein schreibe. Und ob ich es noch gerne bin? Heute, da ich es länger bin, als es manchem an meiner Stelle vielleicht recht wäre?
Damals habe ich auf den ersten Seiten beschrieben, wie ich mit dem Älterwerden umgehen wollte:
»Es ist deutlich: Ich werde alt.
Ich stand im Garten, die Rebschere in der Hand,
neulich, an einem lauen und schönen Abend.
Drei Schritte seitwärts meine Frau.
Sie sagte etwas, aber ich verstand sie nicht.
Man hört nicht mehr wie früher. Ich frage zurück.
Sie möchte wissen, ob ich Mittwochabend Zeit hätte.
Müllers wollten vorbeischauen.
Der Kalender liegt im Untergeschoss.
Ich gehe die Treppe hinab und merke unten:
Ich habe vergessen, weshalb ich herabkam.
Es fällt mir wieder ein: Ach ja! Müllers.
Beim Griff nach dem Kalender stelle ich fest:
Die Brille liegt oben.
Ich gehe also nach oben, sie holen,
und komme wieder.
Schließlich finde ich den Mittwoch.
Während ich zum zweiten Mal nach oben steige,
Stufe für Stufe, fühle ich einen feinen Druck
in den Knien.
Und oben fange ich an zu suchen:
Wo habe ich nur die Rebschere gelassen?
Kein Zweifel: Ich werde alt.«
Der Text von damals geht sehr zuversichtlich weiter:
»Aber merkwürdig: Ich finde es schön.
Was schadet’s, dass mir Namen entfallen,
die mir gestern genannt wurden?
Dass alles langsamer geht, auch mühsamer natürlich?
Ich werde gerne alt ...«
»Ich brauche nur noch am Schreibtisch zu sitzen,
wenn mich die unbändige Lust zu arbeiten überfällt.
Ich reise nicht mehr zu geschwätzigen Konferenzen.
Ich brauche nichts zu werden. Nichts zu erreichen.
Niemand braucht mich gut zu finden.
Was ich tat, tun nun die Jungen.
Sie machen fast alles anders. Gut.
Ich habe seinerzeit auch fast alles anders gemacht
als die Alten. Ich wünsche ihnen ein gesegnetes Tun
und Gottes Beistand.
Aber ich? Ich darf einfach ›sein‹.
Ist das nichts? Ich gedenke es zu genießen,
solange Gott mir seine Sonne scheinen lässt.
Ich werde vor dem Haus meiner Seele sitzen.
Die Figuren meiner Phantasie streifen
durch den Garten.
Die Gestalten meiner Erinnerung gehen aus und ein
und reden mit mir über längst Gewesenes.
Ich schaue den Bäumen zu, wie sie ausschlagen,
wie die Blätter fallen, wie Schnee sie deckt,
wie sie wieder grünen. Und allmählich wachsen.
Ich werde gerne alt
und danke Gott für jeden Tag.«
Dass das schwierig sein könnte, war mir dabei durchaus klar:
»Ich weiß, alt sein ist vielen Menschen zu schwer.
Einsam vor sich hinzuleben, verlassen,
hungernd nach einem Menschen,
nach einer Berührung.
Arm vielfach. Abgeschoben. Vergessen. Nutzlos.
Ich weiß.
Und dennoch: Ich werde gerne alt.«
So habe ich damals geschrieben. Da war vielleicht doch Manches ein wenig romantisch gesehen, so als Äußerung des kleinen ahnungslosen Moritz. Auch die Kritik jener alten Dame traf mich vielleicht doch nicht ganz zu Unrecht. Denn anschließend saß ich nicht auf der Bank vor meinem Haus, sondern brachte weitere zweiundzwanzig Jahre im Geschirr eines rastlos Arbeitenden zu. Ich konnte so tun, als sei ich gar nicht »wirklich« alt, bis mir mein Körper dann vor einem Jahr, nach vielen kleinen Zeichen, unmissverständlich klar machte, dass er diese Art des Altseins mit täglicher Arbeit nicht mehr mitmachen wollte.
Ich war gerade dabei, mich auf den ökumenischen Kirchentag vorzubereiten, der 2010 in München stattfand, und wollte dort das Meine sagen. Da traf mich ein Hirnschlag, einer von mehreren, die mich im Lauf der Jahre ereilten. Ich musste absagen. Freunde traten für mich ein. Zwei Wochen später gab es dann allerdings einen Herzinfarkt mit Notarzt und heulender Fahrt zum Krankenhaus. Dort sah ich verschreckte Gesichter bei Ärzten und Schwestern. Und die Auskunft: »Das kriegen wir hier nicht mehr hin.« Darauf dann ein eiliger Weg in eine Klinik, wo Operationen am offenen Herzen zum täglichen Brot gehören. Dort ein Gespräch mit einem Fachmann für solche Fragen, der die nötigen Schritte erklärte: Brustkorb aufsägen, Rippen aufklappen, dann suchen, woher frische Blutgefäße zu holen sein würden, die nötigen Nähte machen und schließlich alles wieder zurückbringen an seinen Platz. Er meinte, er habe diesen Eingriff schon oft gemacht und ich könne ruhig darauf vertrauen, nach der langen Narkose wieder aufzuwachen.
Nach vier Stunden Operation brachten sie mich tatsächlich wieder ins Bewusstsein zurück. Vier Bypässe habe er gelegt, erzählte mir der Arzt, aber erst viel später wurde ich dann ganz allmählich wach. Als erstes stellte ich fest, dass etwas an mir nicht in Ordnung war, denn überall trug ich Kabel, Leitungen, Schnüre. Das konnte nicht richtig sein. Ich stand also auf und zog sie einen nach dem anderen heraus, bis eine große Blutlache neben meinem Bett den schönen Boden verzierte. Ich erinnere mich an den Hilfeschrei einer Schwester. Alarm. Hektisches Rennen. Bluttransfusionen. Allmählich lernte ich, friedlich zu sein und die Kabel und Schläuche zu tolerieren. Und dabei doch immer weiter dieses zähe Aufwachen, viele Tage lang. Ein alter Körper wird nicht gerne aufgesägt, repariert und wieder vernäht.
Es gab aber auch Umstände, an die ich mich gerne erinnere. Meine Kinder, die ich sonst zu selten sehe, teilten sich darin, auf ihren alten Vater nachts aufzupassen. Und vor allem: Meine Frau durfte im selben Zimmer wohnen. So war es uns vergönnt, ein paar Wochen lang, auch in der anschließenden Kur, ein ruhiges, ungestörtes Leben miteinander zu führen und zu zweit in aller Stille die diamantene Hochzeit zu feiern.
Heute, ein Jahr später, sitze ich in meinem Arbeitszimmer im Untergeschoss des Hauses und lese noch einmal in jenem ersten Buch, in dem ich vor 22 Jahren beschrieb, wie ich mir mein Altwerden vorstellen wollte, und finde, das meiste sei richtig und berechtigt gewesen. So kann man über das Altwerden reden, jedenfalls solange die beschwerlichen Erfahrungen nicht zu viele werden.
Denn natürlich folgte schon damals der zuversichtlichen Einleitung viel an vorsichtiger Klage:
»Es ist nicht selbstverständlich,
dass einer gerne alt wird,
ich weiß. Die Kräfte nehmen ab.
Die Sinne werden müde,
Krankheiten kommen, Schmerzen.
Die täglichen Dinge machen Mühe,
das Gedächtnis täuscht.
Die Tage werden kürzer, die Nächte länger.
Die Freunde gehen. Die Geschwister.
Schwermut schleicht sich ein.
Angst vor dem, was kommt.
Man wird entbehrlich inmitten der Herablassung
und Gedankenlosigkeit jüngerer Leute.
Es ist ein langes Lied, das da zu singen ist....