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Die Story

Wie Gott mit uns Geschichte schreiben möchte

AutorThomas Weißenborn
VerlagFrancke-Buch
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783963629464
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Glaubenslehre: Dogmatik und Ethik für die Lebenspraxis »Beim Christentum geht es nicht in erster Linie um eine bestimmte Kultur, besondere Musikstile, Veranstaltungen, Einrichtungen und Moralvorstellungen, sondern darum, dass Menschen Jesus ähnlicher werden. Was immer dem dient, ist gut, was immer dem im Wege steht, muss verändert werden.« Thomas Weißenborn nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die Bibel von der Schöpfung bis zur Offenbarung. Dabei gelingt es ihm, uns in eine Geschichte der Sehnsucht hineinzunehmen, in der wir die Welt neu verstehen und unser Leben neu ausrichten können. Dazu müssen wir uns allerdings der unangenehmen Wahrheit stellen, dass wir uns in einem Aufstand gegen den Schöpfer befinden. Aber es gibt Hoffnung: Wir können uns befreien und von Jesus verändern lassen.

Thomas Weißenborn ist Dozent für Systematische Theologie und Neues Testament am Marburger Bibelseminar. Mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt er in Marburg.

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Leseprobe

Erkenntnis.

Eine alte Legende berichtet davon, wie ein Missionar zu einem Germanenstamm kam und dort das Evangelium predigte. Eines der Sippenoberhäupter rief daraufhin die Ältesten zu einem abendlichen Treffen in seiner Hütte zusammen, um zu beraten, ob die Großfamilie nun den fremden Glauben annehmen solle oder nicht. In der Sitzung ging es hoch her: Die einen verteidigten die alten Traditionen und Götter, die der Sippe bisher immerhin ein gutes Leben ermöglicht hätten. Andere fanden die von dem Missionar vorgetragenen Argumente recht überzeugend und wollten dem neuen Gott gern eine Chance geben. Eine dritte Gruppe schließlich verhielt sich abwartend und hätte den christlichen Prediger lieber noch ein weiteres Mal eingeladen, um sich genauer informieren zu können.

Mitten in diese Diskussion hinein platzte ein Vogel. Er war durch eine der Fensterhöhlen in den Raum hineingeflogen, flatterte ein wenig um das Feuer herum und verschwand dann durch eine andere Fensterhöhle wieder in der Dunkelheit der Nacht. In das Schweigen, das durch die unerwartete Störung entstanden war, soll einer der Ältesten hineingesprochen haben: „Gleicht unser Leben nicht diesem Vogel? Wir kommen aus der Finsternis, kreisen für eine kurze Zeit um das Licht und die Wärme des Feuers und verschwinden dann wieder in der Finsternis. Wenn es einen Gott gibt, der Licht in die Dunkelheit da draußen bringt, dann will ich ihn gerne annehmen.“ Daraufhin soll sich die gesamte Sippe zum Christentum bekehrt haben.

Mich fasziniert diese Geschichte aus verschiedenen Gründen. Legende oder nicht, die Situation ist mir sehr vertraut: Wo unser Leben herkommt, wo unsere Persönlichkeit, unser Ich, unsere Identität „gewesen“ sind, bevor wir geboren wurden, wissen wir nicht. Aber auch von der anderen Seite haben wir keine Ahnung. Es wäre schön, wenn die Toten irgendwo „im Himmel“ säßen, uns zuschauten und dort auf uns warteten, wie wir es Kindern gern erzählen, aber ob das tatsächlich so ist, wissen wir eigentlich erst dann wirklich, wenn es zu spät ist. Denn vielleicht ist das Leben ja nur Materie, ist das, was wir „Geist“ und „Charakter“ nennen, nur eine Reihe von Gehirnfunktionen, die „Seele“ ein Konstrukt und so etwas wie Liebe oder Zuneigung nur die berühmte „Chemie“.

Wenn das so wäre, wäre mit dem Tod tatsächlich alles aus und mit dem Verwesen der sterblichen Überreste jede Existenz definitiv ausgelöscht. Auch das fällt uns schwer zu glauben – und sicher nicht nur, weil es eine „narzisstische Kränkung“ für unser Ego wäre, dem dieses Leben ohnehin schon zu kurz vorkommt. Nein, es fällt uns auch deshalb schwer, weil dann so vieles als vergeblich erscheinen würde, als sinnlos und beliebig, denn dann wäre in einer kaum vorstellbaren Radikalität tatsächlich alles zufällig und vergänglich. Wenn der Mensch nur Materie wäre, unterschiede er sich schließlich kaum von Tieren, Pflanzen und leblosem Material.

Natürlich könnte es aber auch ganz anders sein: Unser Schicksal in einem zukünftigen Leben könnte davon abhängen, ob wir den richtigen Gott bzw. die richtigen Götter auf die angemessene Weise verehrt haben. Möglich wäre auch, dass wir von einem endlosen „Rad der Wiedergeburten“ wieder und wieder in dieses Leben hineingeworfen werden, bis wir unseren endgültigen Platz gefunden haben oder in einen ewigen Abgrund stürzen, wenn wir uns in dieser Welt nicht die passenden Losungsworte und Handgriffe angeeignet haben, die die Türen zum Jenseits öffnen. All das sind Dinge, die Religionen im Laufe der Jahrhunderte vertreten haben und immer noch vertreten.

Umso erstaunlicher ist es, wie locker wir mit dieser Weisheit in der Regel umgehen. Während wir in anderen Bereichen Fachleute aufsuchen, wenn wir nicht weiterwissen – zum Beispiel Ärzte, Installateure oder Anlageberater –, scheinen wir religiöse Fragen eher mit uns selbst auszumachen. Hier kann jede und jeder angeblich glauben, was er oder sie möchte. Religion ist schließlich Privatsache, es sei denn, sie hat öffentliche Auswirkungen. Denn die hat eine Überzeugung natürlich.

Im Umgang miteinander spielt es eine große Rolle, ob man alle Menschen als gleich betrachtet oder einem bestimmten Geschlecht, Alter oder äußerlichem Merkmal einen Vorrang einräumt. Und es ist auch nicht egal, ob man den Sinn des Lebens eher im sozialen Miteinander sieht oder darin, die verschiedenen Aspekte der eigenen Persönlichkeit zu entfalten und auszuleben. Auch die Frage, ob man die materiellen Dinge als gute Schöpfung eines uns wohlgesinnten Gottes versteht oder eher als ablenkendes Durchgangsstadium in der Entwicklung des Geistes, wird enormen Einfluss in Bezug auf Umweltzerstörung und Nachhaltigkeit haben.

Mag man diese Probleme durch gesetzliche Vorgaben in Bezug auf Menschenbild, Miteinander, Umweltschutz und Ähnliches noch einigermaßen zufriedenstellend klären, bleibt dennoch die große Frage unbeantwortet. Auch in dieser Hinsicht finde ich die Legende von dem Vogel am Feuer faszinierend, weil sie uns so fremd ist. In unseren Gesprächen über Religionen und Weltanschauungen geht es um so viele Dinge: ob die jeweilige Ansicht dem Grundgesetz entspricht oder widerspricht, ob sie ein förderliches oder problematisches Menschenbild vertritt, ob sie ihre Anhänger glücklich macht oder nicht, ob sie zum Extremismus neigt und die Leute dadurch irgendwie komisch werden. Wir reden darüber, ob religiöse Vielfalt ein Segen ist oder eher nicht, ob man die unterschiedlichen Möglichkeiten, die wir heute haben, begrüßen sollte oder ob sie die Menschen eher überfordern. Nur über eine Frage bekomme ich nahezu keine Diskussionen mit: welche Ansicht denn nun wahr ist und welche es nicht sind.

Wenn die Welt nur aus der Hütte bestünde, in der unsere Ältesten ums Feuer sitzen, könnte man diese Frage tatsächlich vernachlässigen. In dieser Hütte kann einer, der über einen gewissen Wohlstand verfügt, sich darüber freuen, dass letztlich alles Materie ist und es deshalb darauf ankommt, aus diesem Leben etwas zu machen.

Genauso könnte ein Armer sich dort damit trösten, dass er in einem nächsten Leben eine weitere Chance bekommt, die umso besser aussieht, je mehr er sich in diesem mit seinem Schicksal abfindet. Wieder ein anderer könnte dem Tod gelassen entgegensehen, weil er die richtigen Götter verehrt hat, während ein Vierter auf die Handgriffe vertraut, die er in einem Geheimorden gelernt hat. Wenn es nur um die Frage geht, mit welchem Gefühl im Herzen unsere Ältesten in die Dunkelheit hinaustreten, wenn ihre Stunde schlägt, ist es tatsächlich gleichgültig (im Sinne von gleich gültig), was einer glaubt, wenn es ihm denn nur beim Sterben hilft und das Leben vorher aus individueller Perspektive betrachtet als sinnvoll erscheinen lässt.

Aber die Hütte ist ja nicht alles, was es gibt. Sie repräsentiert vielmehr nur einen kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, nämlich denjenigen, der im Augenblick für uns sichtbar ist, aber eben nicht die ganze Wirklichkeit. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir ja noch nicht einmal, wie groß dieser sichtbare Ausschnitt im Vergleich zu dem für uns unsichtbaren ist. Wir sehen nur, dass der Vogel von irgendwoher kommt und irgendwohin fliegt. Es gibt da draußen also eine Welt, deren Existenz wir zwar ahnen, die wir aber im Augenblick nicht betreten können.

Wenn das so ist, dann stellt sich jedoch unmittelbar die Wahrheitsfrage, denn die Aussage, diese Welt da draußen sei für jeden in der Hütte grundlegend anders, kann ja nicht befriedigen. Im Bild gesprochen steht die Hütte entweder im Wald, auf einer Wiese, an einem Berghang, an einem Fluss im Tal oder an einem See. Wenn nun jeder der Ältesten in der Hütte eine von diesen Aussagen über die Welt draußen vertritt, könnte man zwar manche miteinander kombinieren – die Hütte könnte auf einem Berg und im Wald stehen oder am Fluss auf einer Wiese – allerdings schließen sich einige Aussagen wechselseitig aus. So kann keine Hütte gleichzeitig auf einem Berg und im Tal sein, auch kann ein Fluss zwar wie ein See aussehen bzw. ein See wie ein Fluss, aber er ist entweder das eine oder das andere. Zu sagen, für jeden der Ältesten in der Hütte sehe die Wirklichkeit außerhalb eben anders aus, weswegen alle ihre Aussagen gleichermaßen wahr seien, ergibt deshalb keinen Sinn.

Und bei der Frage nach der Wahrheit geht es um weit mehr als nur darum, wie man sich die Landschaft um eine Hütte herum vorstellt. Mit jeder religiösen oder weltanschaulichen Entscheidung können schließlich enorme Konsequenzen verbunden sein. Wenn dieses Leben hier zum Beispiel nur eine einmalige Veranstaltung ist, dann bekomme ich keine weitere Chance in irgendeinem nächsten Leben. Wenn es tatsächlich mehrere Millionen Götter gibt, wie es der Hinduismus lehrt, dann liegen Juden, Christen und Muslime falsch – und umgekehrt die Hindus, wenn sich der Monotheismus als wahr erweisen sollte. Und wenn die Atheisten recht haben und die ganze Idee eines Jenseits wirklich nur ein Hirngespinst ist, dann ist jede Religion nicht mehr als eine Augenbinde, mit der man sich über das Sterben hinwegtröstet, dem man besser sehenden Auges entgegengehen sollte.

Wenn man sich schließlich klarmacht, dass die Welt da draußen vor der Hütte nicht nur unbekannt, sondern unter Umständen sogar wild und gefährlich sein könnte, dann wird erst recht deutlich, was auf dem Spiel steht. Grob gesagt gehen ja alle Religionen davon aus, dass man wenigstens seine Bestimmung verfehlt, wenn man dem falschen Glauben anhängt, im schlimmsten Fall verlängert man sogar unnötig seine Leidenszeit bzw. lädt sie sich...

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