Einleitung: Was ist Beziehung?
Die Frage ist nicht rhetorisch gestellt, sondern durchaus ernst gemeint und legitim bei einem Wort, das in der Alltagssprache weit verbreitet ist und als Begriff einen Schlüsselbegriff im Selbstverständnis gegenwärtiger psychodynamisch1 orientierter psychosozialer Medizin darstellt, die sich ja auch als Beziehungsmedizin (Weiner 1989; Kraus und Csef 1995) versteht. Beziehung wird dabei zumeist in einer Weise verwendet, als verstünde sich von selbst, was damit gemeint sei, und als handle es sich um einen Begriff, der keiner weiteren Explikation bedarf. Sucht man dann nach einer Definition dessen, wovon, womit und wofür psychosoziale Medizin – als Beziehungsmedizin – eigentlich die Medizin sein soll, wird man zunächst einmal enttäuscht: Beziehung ist kein Begriff im Hauptregister der Gesammelten Werke Freuds – obwohl Freud den Begriff verwendete2 – und weder als eigener Begriff im »Vokabular der Psychoanalyse« von Laplanche und Pontalis (1992), noch als Grundbegriff im »Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe« von Mertens und Waldvogel (2007) aufgeführt – Beziehung verteilt sich hier auf andere Begriffe wie Bindung, Interaktion, Objektbeziehung, Übertragung und Gegenübertragung, wird aber nicht als eigener Begriff geführt.
Die enorme Bedeutung der Beziehung für die Psychotherapie und psychosoziale Medizin unterstreichen nachdrücklich die klassischen Lehrbücher von Hoffmann und Hochapfel (2009), Ermann (2004), Schüssler (2011), Reimer und Rüger (2006), Wöller und Kruse (2010) und Thomä und Kächele (2006), doch was unter Beziehung genau zu verstehen und wie sie zu definieren sei, bestimmen sie nicht. Auch im Manual der OPD-2 (Arbeitskreis OPD 2006) werden von den drei psychodynamischen Achsen Beziehung, Konflikt und Struktur – die alle drei beziehungsbezogen sind – nur die Bedeutungen von Konflikt und Struktur, nicht aber die von Beziehung definiert. Beziehung wird zwar im Zusammenhang mit Übertragung und Gegenübertragung, Beziehungsmuster, Beziehungsverhalten, Beziehungswünschen und -ängsten vielfach umschrieben, doch nicht eigentlich definiert.3
Thomä und Kächele sprechen von einer »zerstrittene[n] Begriffs-Familie« (Thomä und Kächele 2006, S. 74) um den Terminus Beziehung herum und beschreiben historisch und klinisch sehr genau die Spannungen zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Familie, die da heißen: »reale Beziehung, therapeutische Allianz, Arbeitsbündnis und Übertragung« (ebd.), ziehen es dann aber vor, mit bewusstem Bezug auf einen zentralen Begriff M. Bubers »die Einzigartigkeit des Verhältnisses« von Patient und Therapeut als »besondere Form einer Begegnung zu bezeichnen« (ebd., S. 93).
Definitionen4 finden sich in dem ursprünglich von Uexküll herausgegebenen monumentalen Werk Psychosomatische Medizin (2011) und Küchenhoffs und Mahrer Klemperers Monographie über Psychotherapie im psychiatrischen Alltag (2009), doch sind diese Definitionen in beiden Werken sehr allgemein gehalten und gehen dabei auf die (anthropologische) Besonderheit der zwischenmenschlichen Beziehung gerade nicht ein. V. Uexküll und Wesiack definierten Beziehung in einem umfassenden Sinn zeichentheoretisch: Beziehung erscheint hier »als Begriff für den fundamental wichtigen Sachverhalt, dass sich Leben zwar auf jeder Integrationsebene in verschiedenartiger Erscheinung, im Prinzip aber in der gleichen systemischen Weise darstellt« (Uexküll und Wesiack 2011, S. 36). Beziehungen bestehen in dieser Perspektive »aus Zeichen bzw. Nachrichtenverbindungen« zwischen Molekülen, Zellen, Organen, Personen und Ökosystemen und »lassen sich als Fäden von Nachrichtennetzen beschreiben, die lebende Systeme mit anderen Systemen und mit ihrer Umgebung verknüpfen. […] Beziehungen sind Bedeutungsbeziehungen« (ebd.). Dabei zeige sich, »dass Beziehung dem Begriff Integration entspricht« (ebd.). Küchenhoff und Mahrer Klemperer (2009) beschreiben Beziehung ähnlich global als »Grundeigentümlichkeit von Lebensprozessen« und »nicht […] an den Kontakt zwischen Menschen gebunden […]. Eine recht allgemeine Definition von Beziehung kennzeichnet sie als Austausch zwischen einem natürlichen Gegenstand und seiner Umwelt oder seinen Umwelten« (Küchenhoff und Mahrer Klemperer 2009, S. 2 f.). Rudolf und Henningsen nähern sich der Beziehung als einem »vielschichtigen Geschehen« (Rudolf und Henningsen 2013, S. 319) über die verschiedenen Beziehungsebenen (Patienten- und Helferrolle, Grundhaltung, Beziehungsangebote, Übertragung und Gegenübertragung, Aushandlungsprozesse, Motivation). Steimer-Krause und Krause bezeichnen die Frage, was denn eine Beziehung sei, als »keineswegs trivial« (Steimer-Krause und Krause 1993, S. 74) und weisen auf die Schwierigkeit, Beziehung ähnlich präzise zu beschreiben wie den Affekt.5 Krause definiert Kriterien einer guten Alltagsbeziehung.6 Von dieser unterscheidet sich eine gute therapeutische Beziehung vor allem durch eine andere »unbewusste emotionale interaktive Antwort des Therapeuten auf die Beziehungsangebote der Patienten« (Krause 1997, S. 99).
Beziehung im Sinne von zwischenmenschlicher und therapeutischer Beziehung, so ein erster Befund, ist im wissenschaftlichen Sprachgebrauch der psychodynamisch orientierten psychosozialen Medizin zugleich von zentraler Bedeutung und oftmals überraschend unbestimmt und ungenau; eine nähere Beschreibung und Bestimmung des Beziehungsbegriffs mithin ein Desiderat der gegenwärtigen Psychotherapieforschung. Es geht in diesem Buch nicht darum, eine solche Bestimmung theoretisch schon ausformulieren zu wollen, sondern eher darum, die Fragestellung praxisnah genauer zu klären und eine mögliche Bestimmungsrichtung zu diskutieren. Dafür habe ich den Text grob in zwei Teile gegliedert: einen klinisch-historischen und -empirischen ( Kap. 1–3) und einen anthropologisch-systematischen ( Kap. 4). Dabei soll es um eine Diskussion der folgenden drei Hypothesen gehen:
1. Der gegenwärtige psychodynamische Diskurs ist Resultat einer »intersubjektiven Wende« (Altmeyer und Thomä). Beziehung erhält dadurch in diesem Diskurs eine basale anthropologische Bedeutung, die den Menschen als ein Wesen erscheinen lässt, das nur in und mit Beziehungen leben und gut leben kann: D. h. der Mensch erscheint in diesem Diskurs anthropologisch als eine Art animal relationale.
2. Animal relationale heißt dabei m. E. aber nicht nur, dass Menschen sich nur durch ihre unhintergehbare Bezogenheit verstehen lassen, sondern dass auch umgekehrt in dieser Bezogenheit, d. h. im Begriff der Beziehung, das spezifisch Menschliche sich abbilden lassen können muss: Die intersubjektive Wende bedarf für ihre Realisierung der Ergänzung durch eine anthropologische Wende. Hierfür ist aus meiner Sicht die Abstimmung mit anderen basalen anthropologischen Phänomenen (Grundphänomenen) erforderlich. Im vorliegenden Text soll es dabei um eine Abstimmung mit dem anthropologischen Phänomen der Normativität (Moralität) gehen. Dafür ist eine Berücksichtigung anthropologischer und philosophischer Positionen notwendig7.
3. Beziehung erscheint vor diesem Hintergrund charakterisiert durch eine bestimmte Qualität, die eine bestimmte Wertung enthält, d. h. Beziehung ist nie neutral oder indifferent, sondern immer schon ein wertorientiertes und wertevermittelndes, mithin genuin ethisches Geschehen.
1 Beziehung findet aber auch in der Verhaltenstherapie zunehmend mehr Beachtung, z. B. im Konzept der »komplementären Beziehungsgestaltung« (vgl. Znoj 2005). Zur systemischen Therapie s. Willi (2005).
2 Z. B.: »Für die Psychoanalyse ist die Beziehung zu einem Objekt das Wesentliche« (Freud 1905d, S. 82). »Was sind Übertragungen? […] Eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig […]« (Freud 1905e, S. 280).
3 Aber auch z. B. die Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, herausgegeben von Jürgen Mittelstraß (2005), das mit über 4000 Stichwörtern umfangreichste allgemeine Nachschlagewerk zur...