Prolog
Die Retter der Welt sind zum Risiko geworden
Wir leben in extremen Zeiten – in extrem interessanten Zeiten, in extrem aufregenden Zeiten und in extrem gefährlichen Zeiten. Seit dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise hat sich im öffentlichen Leben und an den Märkten vieles geändert. Grosse Fehler wurden jedoch bereits Jahre, ja sogar Jahrzehnte vorher gemacht. Sie blieben allerdings weitestgehend unbemerkt. Die wenigen Kritiker fanden kein Gehör, nicht in der Finanzbranche, nicht in den Medien und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Seit Mitte der 1980er-Jahre bekämpften die internationalen Notenbanken, vor allem jene der USA, jede Krise an den Finanzmärkten – dies fing in den USA an, und zwar mit dem Crash im Jahr 1987, setzte sich in den Folgejahren nach der Rezession 1991/92 fort, ging über die Asien- und Russlandkrise 1998 bis hin zum Platzen der New-Economy-Blase im Jahr 2000 und zu den Anschlägen vom 11. September 2001 – mit der immer gleichen Medizin: mit der Senkung der Leitzinsen und der Ausweitung der Geldmenge. Seit Ausbruch der Finanzkrise werden diese Fehler einmal mehr wiederholt.
Das Ziel war einerseits die Abfederung der genannten externen Schocks sowie andererseits die Erzeugung eines dauerhaften, rezessionsfreien Wachstums. Diese Phase von etwa 1990 bis zum Ausbruch der jüngsten Krise wird heutzutage gern als «the great moderation» bezeichnet. Die US-Notenbank meinte, sie könne das Wachstum steuern. Das war eine irrige Vorstellung, so als würde die Rezession nicht genauso zum natürlichen Konjunkturzyklus gehören wie der Boom. Über viele Jahre hinweg ging die Strategie scheinbar auf. In Anlehnung an den französischen Philosophen Voltaire hätte man diese Phase vor allem für die Aktienmärkte auch die «beste aller Welten» nennen können. Angetrieben von einem ordentlichen Wirtschaftswachstum, vor allem in den USA, sowie von einer positiven, aber relativ geringen Inflation stiegen die Kurse an den Aktienbörsen von Rekordhoch zu Rekordhoch. Bei dieser besten aller Welten handelte es sich jedoch um einen Trugschluss. Das relativ stetige Wachstum wurde nämlich zum Teil mit zu niedrigen Zinsen und daher zu billigen Krediten erkauft. Das förderte in den USA ein Leben auf Pump. Heutzutage würde man diese Periode wohl eher «the great manipulation» nennen. Irgendwann ist allerdings auch die schönste Party zu Ende – und die Rechnung muss unausweichlich bezahlt werden.
Dies geschieht seit dem Ausbruch der Finanzkrise. Doch auch auf diese heftigen Turbulenzen reagierten die internationalen Notenbanken mit den bekannten Mitteln. Sie stellten den Finanzmärkten nahezu unbeschränkt Liquidität zur Verfügung, senkten zum Teil panikartig die Leitzinsen und weiteten die Geldbasis (M0) stark aus. Und tatsächlich verhinderten die Präsidenten der Notenbanken damit in den dunkelsten Stunden der Finanzkrise im Herbst 2008 und in den Wochen nach dem Kollaps von Lehman Brothers noch Schlimmeres, nämlich den drohenden Systemzusammenbruch. Zu diesem Zeitpunkt war Ben Bernanke der Präsident der US-Notenbank (Federal Reserve), Jean-Claude Trichet der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und Mervyn King der Gouverneur der Bank of England. In der Eidgenossenschaft präsidierte die Schweizerische Nationalbank (SNB) damals Jean-Pierre Roth. Als die Welt am Abgrund stand und ein unkontrollierter Zusammenbruch des amerikanischen und europäischen, wenn nicht gar des globalen Finanzsystems drohte, drehten die Zentralbanker den Geldhahn voll auf. Dabei tat sich besonders Ben Bernanke hervor. Aber auch in Europa öffnete die Europäische Zentralbank die Geldschleusen.
Der Handel zwischen den Banken war praktisch zum Erliegen gekommen, da auch in diesem Sektor niemand wusste, welche Bank noch solvent war und übermorgen noch die Pforten öffnen würde. Geschäfte zwischen den Banken, die in normalen Zeiten am Ende des Tages, am Ende der Woche oder gar noch später verrechnet wurden, mussten nun sofort beglichen werden, teilweise sogar gegen Vorkasse. Da viele Kreditinstitute im Interbankenmarkt kein Geld mehr bekamen, waren die Notenbanken letztlich gezwungen, die Funktion der Liquiditätsbeschaffung zu übernehmen. Es bestand die Gefahr, dass auch gesunde Banken aufgrund eines Problems mit dem Cashflow, also mit dem Geldfluss für die laufenden Geschäfte, in die Pleite getrieben würden.
Die Notenbanken stützten die taumelnden Grossbanken daher unlimitiert mit Liquidität, legten dem zum Teil stillstehenden Finanzkreislauf einen Bypass und versuchten, die verängstigten und hypernervösen Teilnehmer an den Finanzmärkten zu beruhigen. In der Krise gerieten die traditionell zurückhaltenden, ja fast drögen Währungshüter nicht nur zu Hütern des Finanzsystems, sondern avancierten zu den Rettern der Welt. Dabei waren und sind ihre Massnahmen und Verdienste in der heissen Phase der Krise im Prinzip unbestritten. Das Problem ist nun jedoch seit Jahren die Beendigung der aussergewöhnlichen Hilfen und die Rückkehr zur Normalität. Dahingehende Schritte leiteten die Verantwortlichen bis heute nicht wirklich ein. Im Gegenteil: Es wurden immer neue, noch nie ausprobierte geldpolitische Experimente gemacht. Durch ihre fortlaufende exzessiv expansive Geldpolitik, für die es bis heute keine historischen Präzedenzfälle und damit auch keine Erfahrungen gibt, sind die Retter mit ihrer ungeheuerlichen Ausweitung der Geldmenge und mit ihrer Aufblähung der Notenbankbilanzen längst zum Risiko für die Welt geworden.
Zuerst die US-Notenbank und die Bank of England, dann jedoch auch die Europäische Zentralbank führen derzeit wohl das grösste geldpolitische Experiment aller Zeiten durch – und werden damit womöglich die grösste Finanzblase aller Zeiten erzeugen. Die Schweizerische Nationalbank sass durch die zeitweilige Einführung einer Wechselkursgrenze zum Euro im Prinzip mit im Boot, wenngleich aus anderen Gründen. Manche Ökonomen fürchteten bereits im Jahr 2012 eine drohende «trifecta of bubbles» («dreifache Blase»), bestehend aus Aktien, Rohstoffen und Anleihen. Inzwischen wurde jedoch immerhin aus den Preisen im Rohstoffsektor durch eine Verschiebung von Angebot und Nachfrage sowie die deutliche Konjunkturverlangsamung in China bereits viel Luft abgelassen. Notenbanker sind zwar sehr geübt darin, mit einer zu losen Geldpolitik riesige Blasen an den Finanzmärkten zu erzeugen. Bereits die lockere Geldpolitik der US-Notenbank in den 1990er-Jahren hatte zur New-Economy-Blase an den Aktienmärkten beigetragen. Und die lange andauernde Niedrigzinspolitik nach dem Platzen der Internetblase und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 trug dann entscheidend mit dazu bei, dass es zu einer Blase am amerikanischen Häusermarkt und damit zu der folgenden Krise und der Rezession kam.
Ein grosses Problem der US-Notenbank ist, dass sie theoretisch unbegrenzt Geld drucken, aber letztlich nicht kontrollieren kann, wohin diese Mittel fliessen. Vieles spricht dafür, dass sich das Geld den attraktivsten Ort sucht und dass so die Flut an Liquidität primär in die Aktien- und Rohstoffmärkte sowie in die Schwellenländer schwappt. Die sich in Richtung Fernost, aber auch in die Schwellenländer Lateinamerikas ausbreitenden Kapitalwellen treiben dort ebenfalls die Aktienkurse und andere Vermögenspreise hoch. Bald könnten sie womöglich auch zu exzessiven Wechselkursschwankungen und zu einer finanziellen Instabilität führen. Notenbankkritiker meinen mit Recht, die US-Notenbank versuche die Probleme mit demselben Denken zu lösen, mit dem sie sie einst selbst geschaffen hat.
Anders als die beim Gelddrucken zumindest anfangs viel vorsichtigere Europäische Zentralbank ist die US-Notenbank um ihre Präsidentin Janet Yellen nicht nur der Geldwertstabilität verpflichtet. Sie soll auch für eine möglichst hohe Beschäftigung sorgen. Es ist aber immer schwierig, wenn nicht gar unmöglich, mit nur einer Variablen, nämlich mit dem Leitzins, zwei Ziele gleichzeitig erreichen zu wollen. Yellens Vorgänger Ben Bernanke rechtfertigte seine Politik oft mit dem Verhindern einer Deflation, worunter man ein breites, nachhaltiges Sinken der Preise für Waren und Dienstleistungen aller Art versteht. Von einer Deflation ist aber in den USA bislang nichts zu spüren. Disinflation, also eine auf niedrigem Niveau rückläufige Inflation, trifft die Lage bis zur Finanzkrise am besten. Und auch seit Ausbruch der Krise kann von Deflation keine Rede sein, wenngleich es einige deflationäre Tendenzen gibt, weil sich sowohl Staaten als auch Privathaushalte entschulden müssen. Eine Teuerung von knapp 1 Prozent ist per se noch nicht besorgniserregend, wie die Schweiz seit Jahren zeigt. Und selbst ein Mitglied der US-Notenbank, nämlich Thomas Hoenig, sagte im Oktober 2010 im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung, ein bisschen Deflation sei nicht schlechter als ein bisschen Inflation.
Wie normale Bürger, so sind auch Notenbanker Opfer der kollektiven historischen Erfahrungen und Erinnerungen. So fürchten sich die Amerikaner und die US-Notenbank aufgrund der grossen Depression in den 1920er- und 1930er-Jahren vor allem vor einer Deflation. In Europa ist es genau umgekehrt. Die bis 2010 besonders von Deutschland geprägte Europäische Zentralbank fokussiert sich primär auf eine zu hohe Teuerung. Die Deutschen und die Deutsche Bundesbank (beziehungsweise die damalige Reichsbank) haben aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Hyperinflation zur Zeit der Weimarer Republik vor allem Angst vor einer steigenden Inflation. Entsprechend steht bei den Amerikanern mental tendenziell der Kampf gegen die Deflation im Vordergrund und bei den Deutschen und den Europäern mental tendenziell der Kampf gegen die Inflation – zumindest galt das bis vor wenigen...