ZWEITES KAPITEL
DIE DEUTSCHE REVOLUTION
Die Oktoberreformen 1918 hatten das doppelte Ziel verfolgt, dem Verlangen Präsident Wilsons nach Bildung einer demokratisch legitimierten Regierung Rechnung zu tragen und einen revolutionären Umsturz zu verhindern.1 Die Mehrheitsparteien waren entschlossen, auf der Grundlage der Parlamentarisierung von Reichstag und Bundesrat an der Hohenzollernmonarchie festzuhalten. Es zeichnete sich jedoch ab, daß dies nur möglich war, wenn sich Wilhelm II. bereit fand, zugunsten eines der kaiserlichen Prinzen oder eines Regentschaftsrates abzudanken. Indem sich der Kaiser durch die Reise ins Hauptquartier nach Spa dem Einfluß des Reichskabinetts entzog und von seinen Beratern, anfänglich auch vom Ersten Generalquartiermeister Wilhelm Groener, gedrängt wurde, an der Spitze des irrigerweise für zuverlässig gehaltenen Feldheeres die Herrschaft über Deutschland zurückzuerobern, zerschlug sich diese Möglichkeit.
Die Reichsleitung glaubte noch immer – trotz des sich verstärkenden Zögerns der Mehrheitssozialdemokratie, die am 7. November in einem Ultimatum die Abdankung des Kaisers verlangte, dessen Befristung sie zweimal um vierundzwanzig Stunden verlängerte –, durch den Rücktritt des Monarchen und die Einsetzung eines Regentschaftsrates oder eines Stellvertreters den Zusammenbruch des eben erst modernisierten wilhelminischen Verfassungssystems vermeiden zu können. Es ist jedoch zweifelhaft, ob ein Einlenken Wilhelms II., der bis zuletzt an der zweifelhaften Vorstellung festhielt, als Deutscher Kaiser, nicht aber als König von Preußen zurückzutreten, die anrollende revolutionäre Welle hätte abfangen können. Zu tief war die Person des Kaisers in die verhaßte Militärherrschaft verstrickt, die nun gleichsam über Nacht zusammenbrach.
Die Unschlüssigkeit des Monarchen zwang Prinz Max von Baden, von sich aus am Vormittag des 9. November, bevor das erwartete Telegramm aus Spa eingetroffen war, die Abdankung Wilhelms II. bekanntzugeben. Er hoffte, damit den Weg für eine Regentschaft freizumachen. Letztere fand jedoch nicht mehr die Billigung der Sozialdemokraten, die um die Mittagszeit ultimativ die ungeteilte Macht verlangten. Friedrich Ebert berief sich darauf, daß die in Berlin stehenden Truppenverbände auf die Seite der MSPD getreten seien. In der Tat war es Otto Wels gelungen, sich ihres Rückhalts gegenüber den auf einen revolutionären Umsturz drängenden Revolutionären Obleuten zu versichern. Für die Einsetzung eines Regenten war es jetzt zu spät.
Prinz Max von Baden war sich über die Tragweite seines Entschlusses, Friedrich Ebert um die Übernahme des Reichskanzleramtes zu ersuchen, voll im klaren. Er wußte, daß er damit selbst vom geltenden Verfassungsrecht abwich. Aber die Übergabe der Macht an den Führer der Mehrheitssozialdemokraten schien die einzige Möglichkeit zu sein, den Bestand des Reiches zu erhalten. Er knüpfte an die Beauftragung Eberts die Forderung, alsbald eine Verfassunggebende Nationalversammlung einzuberufen. Ebert stimmte mit Prinz Max in dem Willen überein, einen Umsturz soweit wie möglich zu vermeiden und die Oktoberverfassung aufrechtzuerhalten. Er dachte an die Bildung eines Koalitionskabinetts unter Beteiligung der bürgerlichen Parteien, aber mit einer sozialdemokratischen Mehrheit. Philipp Scheidemanns spontan gefaßter Entschluß, einer Aktion Karl Liebknechts zuvorzukommen und vom Balkon des Reichstagsgebäudes aus die Deutsche Republik auszurufen, wurde von Ebert mit Empörung aufgenommen, zumal Scheidemann im Zusammenhang damit eine rein sozialistische Regierung zugesagt hatte.2
Eberts Kritik, daß die Entscheidung über die künftige Staatsform nur der Verfassunggebenden Nationalversammlung zustehe, abstrahierte von der inzwischen eingetretenen politischen Lage. In Anbetracht der revolutionären Stimmung in der Arbeiterschaft und der von der MSPD selbst ausgesprochenen Generalstreikdrohung hatte Scheidemann richtig gehandelt. Ihm fehlte die Festigkeit der Überzeugung, die für Ebert charakteristisch war, aber er besaß ein besseres Gespür für die Stimmung der Massen und für die Notwendigkeit, daß sich die Sozialdemokratie an die Spitze der Protestbewegung zu setzen habe, wenn sie nicht in den Strudel des politischen Umsturzes hineingerissen werden wollte. Durch sein Drängen, die Initiative an sich zu ziehen, verhinderte er, daß die SPD das Vertrauen der Massen einbüßte, die in Wilhelm II. nurmehr ein Hindernis für die Beendigung des Krieges erblickten.
Trauerzug mit den Opfern des Januar-Aufstandes auf dem Weg zum Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde am 25. Januar 1919. (© ADN-Zentralbild, Berlin)
Ein frühzeitiger Thronverzicht des Kaisers hätte vermutlich an der Beseitigung der durch den Ausgang des Krieges diskreditierten Staatsform nichts geändert, obwohl die führenden Mehrheitssozialdemokraten in dieser Frage keineswegs endgültig festgelegt waren. Die Entscheidung über das Schicksal der deutschen Dynastien war durch die parallelen Vorgänge in den Bundesstaaten bereits präformiert. Obgleich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Bayern ausgeprägt gemäßigte Züge hatte, setzten sich hier die revolutionären Veränderungen am raschesten durch.3 Am 7. November benutzte der Führer der Bayerischen USPD, Kurt Eisner, der sich einen Namen als Schriftsteller gemacht hatte, eine gemeinsame Kundgebung der beiden Arbeiterparteien, die am Nachmittag des 7. November auf der Theresienwiese stattfand und den sofortigen Frieden verlangte, um in einer von ihm improvisierten Versammlung der Arbeiter- und Bauernräte im Landtag die Abdankung König Ludwigs III. zu fordern und die Bayerische Republik auszurufen.
Der Führer der Mehrheitssozialdemokraten, Erhard Auer, verschloß sich am 8. November nicht länger der ihm von der USPD angebotenen Koalition und verständigte sich mit Eisner, der von der Versammlung der bayerischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte zum vorläufigen Ministerpräsidenten ausgerufen worden war. In einem Aufruf an die Münchner Bevölkerung sicherte er die frühestmögliche Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung und eine Gewährleistung der öffentlichen Ordnung durch den provisorischen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat zu. Eisners Regierungsprogramm vom 15. November enthielt ausgeprägt föderalistische Elemente, faßte eine deutsche Donau-Föderation unter Auflösung des Reiches ins Auge, war jedoch in der Sozialisierungsfrage ausgesprochen zurückhaltend. Ludwig III. vermied einen förmlichen Thronverzicht, entband aber die Beamten ihres Treueids.
Ebenso wie die Wittelsbacher verzichteten die anderen einzelstaatlichen Dynastien auf den Thron und machten den Weg in die Republik widerstandslos frei. In den meisten Ländern kam es zur Bildung von Koalitionsregierungen zwischen SPD und USPD, in Einzelfällen zur Einbeziehung der bürgerlichen Linksparteien. Überall wurde der Umsturz durch spontan gebildete Arbeiter- und Soldatenräte ausgelöst, deren Initiative die beiden sozialistischen Parteien in Zugzwang brachte. Die Reichshauptstadt stand keineswegs an der Spitze der revolutionären Bewegung, obwohl die radikale Linke hier starken Rückhalt besaß. Die Revolutionären Obleute und die Anhänger des Spartakus-Bundes waren entschlossen, den Friedenswillen der Massen zur Durchsetzung einer sozialistischen Diktatur zu benutzen. Eine für den 4. November geplante Massendemonstration, die das Zeichen zum Sturz der Reichsregierung geben sollte, wurde auf den 11. November vertagt, da die Situation für den revolutionären Umsturz noch nicht reif zu sein schien. Beide Gruppen wurden von der Wendung, die die Dinge am Vormittag des 9. November nahmen, überrascht. Das galt gleichermaßen für die USPD, deren Vorsitzender sich zu diesem Zeitpunkt in Kiel aufhielt, ohne dort verhindern zu können, daß sich Gustav Noske an die Spitze des inzwischen gebildeten Kieler Arbeiter- und Soldatenrats stellte, dessen Forderungen mit der Befreiung der Inhaftierten, der Ausschaltung der Militärbefehlshaber und der Zusicherung demokratischer Reformen weitgehend erfüllt waren.
Die revolutionäre Erhebung, die sich in diesen Novembertagen vollzog und allerorten zur spontanen Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten führte, war nicht das Werk der organisierten Arbeiterbewegung. Die Agitation der radikalen Linken hatte seit Mitte Oktober zugenommen, zumal ihre Führer aufgrund der von den Mehrheitsparteien durchgesetzten Amnestie aus der Gefängnishaft freikamen, schließlich auch Karl Liebknecht. Er wurde in jenen Wochen von seiner Anhängerschaft, darunter Teilen der proletarischen Jugend, als Märtyrer der Militärdiktatur stürmisch gefeiert, war er doch der erste sozialdemokratische Abgeordnete, der die Kriegskredite konsequent abgelehnt und die Burgfriedenspolitik der Mehrheitssozialdemokraten schonungslos angegriffen hatte. Die bestenfalls einige tausend Anhänger umfassende Spartakus-Gruppe war nicht hinreichend konsolidiert, um eine maßgebende Rolle zu spielen. Dennoch machte der rasch anwachsende Antibolschewismus in erster Linie die »Spartakisten« für die revolutionären Unruhen der folgenden Monate verantwortlich.
Einflußreicher als die Spartakus-Gruppe, die bislang weitgehend unterdrückt war und nur über eine illegale Korrespondenz verfügte, waren die Revolutionären Obleute. Sie hatten insbesondere in Berlin...