Die Nachtwandelnde
Mit Miles Davis auf den Champs-Élysées
»Es heißt von mir, ich sei nicht artig.«
In den ersten Wochen des Jahres 1958 kam ein aufwühlender, dialogarmer Schwarzweißfilm in die französischen Filmtheater, in dem aus heiterem Himmel vieles, was bis dahin im europäischen Genre-Kino maßstabsetzend war und wie selbstverständlich zu gelten schien, radikal in Frage gestellt wurde. Angefertigt hatte ihn der gerade mal fünfundzwanzigjährige Louis Malle, für den es – nach der Mitwirkung an einem sogleich preisgekrönten Dokumentarfilm über den legendären Meeresforscher Jacques Cousteau – erst die zweite Regiearbeit war. Und zugleich die erste für einen Spielfilm. Malles ausgeprägter Stilwillen ließ augenblicklich aufhorchen, genauso wie seine Originalität und der spielerische, zitathafte Umgang mit Motiven der US-Filmtradition und des Gangster-Genres.
Reißerisch an diesem neuen Werk des Quasi-Debütanten war lediglich sein Titel: Ascenseur pour l’échafaud. Direkt übernommen von der Romanvorlage eines bulgarischen Exilanten, Noël Calef, der sich als Krimiautor in Frankreich hervorgetan hatte. Fahrstuhl zum Schafott, so seine deutsche Entsprechung, das klang vielversprechend und blutrünstig genug, um die Pariser Kinogänger in Scharen in die Kinos zu locken. Was sich also zunächst durchaus halbseiden und unseriös anhörte, wurde durch die souveräne und erstaunlich reife künstlerische Umsetzung aber rasch Lügen gestraft.
Auf den ersten Blick handelt es sich um einen raffinierten und unterhaltsamen Thriller mit starken Anklängen an die Tradition des Film noir, in dessen Zentrum eine verwickelte, spannende Ehebruchsgeschichte mit verbotener Liebe, einem geschickt ausgetüftelten Mord, schicksalhaften Ereignissen und zahlreichen Verwechslungen steht. Ein zweit-, wenn nicht drittklassiger Plot. Ein Groschenroman, dessen Versatzstücke durch die filmische Bearbeitung sozusagen geadelt werden. Amoralisch, kühl und, nur gelegentlich von schnellen Schnittfolgen unterbrochen und aufgelockert, merkwürdig langsam, ja von geradezu aufreizender Trägheit. Zwischen Expressivität, dokumentarischer Großstadtschilderung und Anklängen an den italienischen Neorealismus angesiedelt. Von einer Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben erzählend und vom tragischen Misslingen dieses schönen Plans aufgrund unglücklicher Umstände – die Chronologie eines Scheiterns, durchsetzt von kaltblütig ausgeführten Bluttaten. Extravagant und schonungslos.
Auf den zweiten Blick hat man es mit einem der ersten Vorläufer der Nouvelle Vague zu tun, zu deren mit einigen Konventionen und Standards der Filmkunst brechenden Vertretern der junge Malle, anfangs eher ein Außenseiter, auch später nicht notwendigerweise zählte. Auf den dritten Blick wird uns eine explizite Hommage an den Jazz dargeboten, bestimmt doch der ungewöhnliche und auch verführerische Soundtrack das Tempo und die Atmosphäre des Films. Coole, laszive Trompeten-Soli des seinerzeit gerade in Paris residierenden Ausnahme-Interpreten Miles Davis bilden die akustische Grundlage des Streifens, so dass die teils modalen, teils tonalen Einsprengsel dieser gestopften Trompete, kleinen Auftritten gleich, der Musik gewissermaßen die zweite Hauptrolle zuweisen. »Was [Miles Davis] machte«, so Malle, der den Musiker in einem Studio zu den bereits fertiggestellten, direkt vor ihm projizierten Filmsequenzen »live« improvisieren ließ, »war einfach verblüffend. Er verwandelte den Film. Ich erinnere mich [noch gut], wie er ohne Musik wirkte; als wir die Tonmischung fertig hatten und [Davis’] Musik hinzufügten, schien der Film plötzlich brillant.« Von einer Vertiefung der Emotionen, wie sie »Bilder und Dialog« vermittelten, durch die Jazzkommentare mochte Malle nicht sprechen, eher von einem anti-naturalistischen Effekt: Miles’ Einwürfe wirkten »kontrapunktisch, elegisch und irgendwie losgelöst«.
Auf den vierten Blick liegt ein bemerkenswertes, nüchternes Paris-Porträt vor, das mit »amerikanischen« Zutaten wie Hochhaus- und Büro-Szenen, grell ausgeleuchteten Lokalen, leergefegten, verwaisten Straßen, schicken Straßenkreuzern, Stadtautobahnen und sogar einem Motel aufwarten kann. Ein betont modernes Paris-Bild, das meilenweit entfernt ist von der so vertrauten, aber längst zum Klischee erstarrten Notre-Dame-, Montmartre- oder Eiffelturm-Romantik. Nichts mehr erinnert an den Moulin-Rouge-Kitsch der Vorgängerjahre, an die Valse-Musette-Seligkeit, an die unvermeidlichen Bootstouren auf der Seine oder an den noch immer weltweit die Vorstellungswelt beherrschenden Naturalismus von Pigalle, das raue Milieu der Édith-Piaf-Chansons oder an die Proletarier-Tristesse der Jean-Gabin-Vorstädte: Malles Paris ist eine entmenschlichte, kalt und emotionslos inszenierte Großstadt-Einöde. Ein Moloch ohne Seele. Aus dem nur eines von Beginn an prägnant hervorsticht und ihm eine zutiefst menschliche Note verleiht: das Gesicht von Jeanne Moreau – ein Gesicht, das man als Antlitz bezeichnen kann. Ein Gesicht, das vom Regisseur und seinem phänomenalen Kameramann Henri Decaë, einem Meister seines Fachs, manchmal minutenlang präsentiert, studiert, in all seinen Nuancen ausgeleuchtet und erschöpfend gefeiert wird. Dieser Film, so könnte man es zugespitzt formulieren, ist nicht mehr und nicht weniger als Malles gefilmte Aufforderung, in Jeanne Moreaus Gesicht spazieren zu gehen, es von Grund auf kennenzulernen und sich darin umzuschauen – eine Einladung, sich einzig und allein auf sie zu konzentrieren (wofür der Plot letztlich nur einen Vorwand liefert). Und gleichsam ein Befehl, in ihrer verstörten und bald auch zerstörten Seele wie in einem offenen Buch zu lesen. Mürrisch, schwermütig und sinnlich bietet es sich, bietet sie sich uns dar.
Der noch weitgehend unbekannte Louis Malle hatte Jeanne Moreau, damals in erster Linie eine versierte und auch in Fachkreisen angesehene Theaterschauspielerin, in der von dem britischen Avantgarde-Regisseur Peter Brook inszenierten, umstrittenen und heiß diskutierten französischen Erstaufführung von Tennessee Williams’ Katze auf dem heißen Blechdach im Pariser Théâtre Antoine in der Rolle der Maggie erlebt und ihr, auf der Stelle, die Hauptrolle in seiner Calef-Verfilmung angetragen. »Er schrieb mir einen Brief, in dem er mich bat, in einem Thriller mitzuwirken. Ich traf mich mit ihm.« Moreau hörte ihm aufmerksam zu und wurde neugierig auf sein Projekt. Ihr promptes Einverständnis überraschte sie dann selbst. »Ich wusste sofort, dass ich die Rolle annehmen musste.« Einwände und Vorbehalte von Ratgebern und Kollegen schlug sie in den Wind, ignorierte die Warnungen ihres wütenden Agenten, der der Meinung war, diese Kooperation mit einem Unbekannten würde ihrer Karriere schaden: »›Welche Karriere?‹, erwiderte ich und nahm mir einen anderen Agenten.« Sie ließ sich, trotz der prekären Finanzierungsbedingungen für den Film und der relativen Unerfahrenheit des Regisseurs, mit ihrer Zusage spontan auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ein – von einer angemessenen Gage ganz zu schweigen.
Die Rechnung ging denn auch, allerdings auf ganz andere Weise, auf: Moreaus Gesicht wirkte in der Tat neu, frisch, unverbraucht, überraschend – wohl nur eingefleischte Filmliebhaber, die sich für Krimis und auch für B-Movies erwärmen konnten oder die ein Faible für gut gespielte Nebenrollen hatten, würden sich an sie, die schon in wenigen guten, meist aber in einigen mittelmäßigen, kurzlebigen Streifen auf der Leinwand zu sehen gewesen war, überhaupt erinnern. Denn als Malle sie für seinen Fahrstuhl-Thriller besetzte, 1957 also, konnte sie zwar bereits auf knapp zwanzig Filme zurückblicken, in denen sie Stichwortlieferantinnen, »flotte Bienen«, Gangsterbräute und austauschbare Charaktere gespielt hatte. Keinen einzigen Part aber konnte sie vorweisen, der ihrer außerordentlichen Begabung, die immer auch ihre Persönlichkeit gewesen war, in vollem Umfang entsprochen hätte. Und sie war auch noch auf keinen Spielleiter gestoßen, der sie und ihr Talent mit Leib und Seele gefordert hätte. Dagegen war ihre Theaterlaufbahn schon von vielen (Achtungs-)Erfolgen gekrönt gewesen.
Nun aber prangte ihr Konterfei, eine Woche nach ihrem dreißigsten Geburtstag, auf einmal von den Werbetafeln der Pariser Großkinos. Und wurde, während sich die Zuschauer noch verwundert die Augen rieben, von einem Teil der Kritik enthusiastisch gefeiert. Wie das Opus selbst. Malle wollte die Filmwelt herausfordern und um jeden Preis Aufsehen erregen, und es war ihm aus dem Stand heraus gelungen – mit einer kühnen Ästhetik, in der Authentizität, Schock und Satire gleichermaßen ihren Platz hatten, mit einem Blickwinkel der Verengung, wobei die Kamera bevorzugt eingesperrte oder unerfüllt Liebende in all ihrer Hoffnungslosigkeit zeigt, indem sie durch Schächte oder Gitter späht, mit einer streckenweise realistischen, dann wieder verfremdeten Sittenschilderung und einer kleinen Portion Gesellschaftskritik. Ohne dabei gewisse Vorbilder und Einflüsse zu verleugnen. Geschickt und intelligent kalkuliert, mit einem Beinahe-Justizirrtum als finaler Pointe. Und mit einer durch und durch glaubwürdigen Protagonistin, Jeanne eben, die hier Florence heißt und den Film mit einem erotisch gehauchten »Je t’aime, Julien« in Großaufnahme eröffnet.
»Das Gesicht von Jeanne Moreau«, so brachte es der unvergessene deutsche Filmkritiker Michael Althen vor langer Zeit einmal auf den Punkt, »erzählt die ganze Geschichte« von Mord, Betrug und Verwechslung »als Dialog mit einem abwesenden Geliebten. Ihr Gang auf...