|15|1 Einführung
Nach einer kurzen Einführung in die Themen „Gesundheitsförderung“ und „Inklusion“ soll dieses Buch
Sie mit den Ansatzpunkten von Gesundheitsförderung und Prävention vertraut machen, die über die gesundheitlichen Grundbedürfnisse der Menschen mit Behinderung hinausgehen.
Ihnen einen Überblick über die Epidemiologie wichtiger Erkrankungen und psychischer Einschränkungen (einschl. Suchtverhalten) bei Menschen mit Behinderung verschaffen.
Den Umgang mit einschneidenden Ereignissen, Altern und Tod thematisieren.
Probleme aufzeigen, die für Menschen mit Behinderung bei Kontakten mit Ärzten, Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen bestehen.
Ihnen dabei helfen, die Gesundheit der Betreuungskräfte als wichtigen gesundheitsfördernden Ansatzpunkt wahrzunehmen.
Ihnen zeigen, welche Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention in den einzelnen Themenbereichen sinnvoll sein können.
Ihnen deutlich machen, dass gesellschaftliche Teilhabe und politische Einflussnahme hier Ansatzmöglichkeiten sein können.
Sie in die Lage versetzen, das Gelernte zum Thema „Gesundheitsförderung in Behindertenwohneinrichtungen“ sinnvoll einzusetzen, um daraus schließlich ein Gesamtkonzept für eine Einrichtung erarbeiten zu können.
| Definition „Epidemiologie“ Die Epidemiologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Verteilung von Gesundheitszuständen in einer Bevölkerung beschäftigt sowie mit den Faktoren, die diese Verteilung beeinflussen. |
1.1 Kurze Einführung in die Grundlagen der Gesundheitsförderung in der Behindertenarbeit
Gesundheitsförderung und Prävention sind Teile von Public Health, einer anwendungsorientierten Wissenschaft, die nicht den einzelnen Menschen im Blick hat, sondern „die Bevölkerung“ bzw. bestimmte Bevölkerungsgruppen. Ein zentrales Ziel von Public |16|Health ist es, die Gesundheit der Menschen in einer Bevölkerung zu verbessern, indem sie ihre Gesundheitsressourcen stärkt und die Entstehung von Krankheiten verhindert. Die Gesundheitschancen sind in unserer Gesellschaft jedoch noch immer sehr ungleich verteilt. Eine Bevölkerungsgruppe mit deutlich schlechteren Gesundheitschancen sind Menschen mit Behinderung.
| Definition „Gesundheitsförderung“ Der Begriff der Gesundheitsförderung umfasst alle Aktivitäten und Maßnahmen, die der Stärkung der Gesundheitsressourcen und -potenziale der Menschen dienen. Gesundheitsförderung soll somit einen Prozess in Gang setzen, der allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglicht und sie dadurch zu einer Stärkung ihrer Gesundheit befähigt. Darüber hinaus soll Gesundheitsförderung die gesellschaftlichen Bedingungen so verändern, dass sich die gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen verbessern. |
| Definition „Ressourcen“ Im Bereich von Public Health versteht man unter Ressourcen Einflussfaktoren, die die Gesundheit eines Menschen fördern können. Man unterscheidet hierbei personale, soziale und materielle Ressourcen. Externale Ressourcen sind Ressourcen, die in der Umwelt eines Menschen liegen (z. B. das soziale Umfeld eines Menschen, die ökonomischen und ökologischen Bedingungen, in denen er lebt, sein berufliches Umfeld und die soziale Unterstützung, die er durch die Menschen in seiner Umgebung erfährt). Internale Ressourcen liegen im Menschen selbst. Hierzu gehören neben den genetischen Anlagen eines Menschen auch andere individuelle Ressourcen, wie z. B. soziale Kompetenz, Selbstvertrauen, Problemlösefähigkeit, Lernbereitschaft, Kooperationsfähigkeit sowie auch seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten. |
| Definition „Prävention“ Ziel der (Krankheits-)Prävention, d. h. der Krankheitsverhütung ist es, durch soziale oder medizinische Maßnahmen bzw. Verhaltensweisen die Gesundheit zu fördern und die Entstehung von gesundheitlichen Schädigungen zu verhindern (Primärprävention). Darüber hinaus verhindern präventive Maßnahmen das Fortschreiten einer bereits bestehenden Erkrankung (Sekundärprävention) und/oder vermeiden Folgeschäden (Tertiärprävention). Verhältnisprävention will die Gesundheit von Menschen dadurch verbessern, dass sie ihre Umwelt sowie ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen positiv beeinflusst. Maßnahmen der Verhaltensprävention sind darauf ausgerichtet, das Verhalten der Menschen so zu beeinflussen, dass es ihrer Gesundheit dient. |
|17|In diesem Buch beschäftigen wir uns vorwiegend, aber nicht ausschließlich, mit Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen der stationären Behindertenhilfe (ab 2020 in Deutschland: in gemeinschaftlichen Wohnformen) leben. Es sind meist Menschen mit schwereren Beeinträchtigungen. Etwa 60 % hiervon sind Menschen mit geistiger Behinderung. Viele von ihnen haben auch zusätzlich körperliche Einschränkungen. Bei knapp einem Viertel der Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, stehen psychisch-seelische Einschränkungen im Vordergrund. Menschen mit ausschließlicher Körper- oder Sinnesbehinderung machen nur einen geringen Teil der Bewohner solcher Einrichtungen aus. Weniger als 5 % sind Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung.
An dieser Stelle wollen wir nicht näher auf die Grundlagen von Gesundheitsförderung und Prävention sowie auf die Definition des Begriffs „Behinderung“ eingehen und verweisen dazu auf Band 4 der Kompaktreihe Gesundheitswissenschaften „Grundlagen der Gesundheitsförderung in der stationären Behindertenarbeit“ (Habermann-Horstmeier, 2017c)des Hogrefe Verlages sowie auf das Glossar in unserem Buch. Dort wurde bereits näher erläutert, dass nach der UN-Behindertenrechtskonvention (Deutsche Version der UN-Behindertenrechtskonventionen, 2006) Menschen mit Behinderung auch im Hinblick auf Gesundheitsförderung und Prävention die gleichen Rechte (und entsprechend ihren Fähigkeiten auch die gleichen Pflichten) haben wie alle Menschen. Auch sie haben den Anspruch, in gesundheitsfördernden Lebenswelten (Settings) leben zu können, die entsprechend ihren Bedürfnissen und Wünschen gestaltet sind. Um dies zu erreichen, sollen nachhaltig gesunde Strukturen geschaffen und nicht nur kurzfristige Projekte durchgeführt werden.
Gesundheitsförderung in der stationären Behindertenarbeit (bzw. in gemeinschaftlichen Wohnformen) unterscheidet sich dabei jedoch aufgrund der individuellen und strukturellen Gegebenheiten in wichtigen Punkten von der allgemeinen Gesundheitsförderung. Sie erfolgt an einer Schnittstelle zwischen der Bevölkerungsebene und der Ebene des Individuums. Nur dann, wenn Gesundheitsförderung in der Behindertenarbeit jeweils auch die individuellen Faktoren der Menschen mit Behinderung sowie ihre Bedürfnisse und Wünsche bei den zu planenden Maßnahmen und ihrer Umsetzung mit berücksichtigt, können diese Maßnahmen zielführend sein. Gesundheitsförderung in der Behindertenarbeit findet dabei grundsätzlich in einem bestimmten Setting, einer Lebenswelt, statt (z. B. in einer Wohneinrichtung, einer Wohngruppe, einer Schule oder einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung). Hierbei werden die Stimmen der Menschen mit Behinderung – d. h. auch die der Menschen mit schwerer geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung – in gleichem Maße gehört wie die Stimmen der Menschen ohne Behinderung. Wenn ein Mensch mit Behinderung nicht, nicht immer oder nicht in allen relevanten Bereichen in der Lage ist, seine...