Drei Frauen
Der Novembertag hatte kühl und klar begonnen. Im Lauf des Vormittags, hieß es, sollten die Temperaturen in Wiesbaden an diesem Montag auf zwölf Grad ansteigen. Carmen Everts stand in ihrer Neubauwohnung im südhessischen Erfelden vor dem Spiegel und machte sich für den mutmaßlich größten Auftritt ihres bisherigen Lebens zurecht. Nein: ohne jeden Zweifel für den größten Auftritt ihres Lebens.
Nicht dass sie sich darauf freute. Aber Angst hatte sie seltsamerweise auch nicht.
Im Fernsehen möchte man gut aussehen – schon gar in einem Zeitalter, in dem sogar Bundeskanzler vor Gericht erstreiten, dass ihre Schläfen nicht mehr grau sind. Aber so einfach war das an diesem Morgen nicht. Hinter Carmen Everts lagen harte Wochen und ein noch härteres Wochenende. Sie hatte in letzter Zeit ungeheuer abgenommen, was ja zunächst erfreulich sein mochte. Aber jetzt hatte sie seit Tagen Magenprobleme.
Sie war sehr blass. Die Haut ihrer Unterarme und Hände war heller als das Gesicht, fast so weiß wie Schnee.
Everts hatte sich schön zurechtgemacht. Sie pflegte Kleidung, Schmuck und Make-up mit Sorgfalt aufeinander abzustimmen. An diesem Montag trug sie ein kurzes schwarzes Etuikleid und darunter eine grüne Bluse, am Hals eine Kette aus verschieden grünen Steinen und Ohrstecker mit dunkelgrünen, sattleuchtenden Kristallen. Zusammen mit dem kurzen roten Haar, dem Lippenstift und der natürlichen Blässe ihres schmalen Gesichts schuf das einen hübschen Kontrast.
Doch beim Blick in den Spiegel bewegte sie ein anderer Gedanke – ein Gedanke wie ein Gefäß, in das die Hoffnungen und Sorgen dieses Morgens immer wieder strömten: als sie die Wohnung aufräumte, in der alles so vertraut war, als sie den Koffer für ihre Reise in die Schweiz packte, als sie den Arztbrief des Internisten aus Biedenkopf bereitlegte, um ihn anschließend in ihrer Hausarztpraxis abzugeben und die Überweisungen abzuholen, und auch jetzt, beim Blick in den Spiegel: Ihre Welt würde nicht mehr dieselbe sein, wenn sie hierher zurückkehrte. Das ging ihr an diesem Morgen unzählige Male durch den Kopf.
Seit zwanzig Jahren hatte Carmen Everts Politik gemacht, «für die Politik gelebt». Andere sagten, sie sei mit der Politik verheiratet. Mann und Kinder hatte sie nicht. Und in diesem Jahr 2008 hatte sie den ersten richtig großen Sprung geschafft, gleichsam in die politische Selbständigkeit. Sie war Landtagsabgeordnete geworden – und Abgeordnete haben keinen Herrn mehr über sich. So ungefähr steht es jedenfalls in der Verfassung. Außerdem war Everts durch das Landtagsmandat endlich imstande, von dem zu leben, was sie am liebsten tat und am besten beherrschte. Sie hoffte, nicht ganz und gar aufgeben zu müssen, was sie sich aufgebaut hatte. Aber zugleich kannte sie alle Gründe dagegen. Dass nichts so bleiben würde wie vorher, war fast schon das wenigste, was passieren konnte; ihre Welt würde eine andere sein; eine Rückkehr ins Vertraute würde es nicht geben. Und würde sie dieselbe bleiben?
Wenn irgendetwas die Frau auf dem Beifahrersitz des schwarzen Busses, der an diesem Morgen aus dem nordhessischen Hinterland nach Wiesbaden rollte, nicht beschäftigte, dann das: Silke Tesch schaute nie zurück, das war nicht ihre Art. Was geschehen ist, ist geschehen. Also nahm sie den Blick zurück auch nicht vorweg.
Dennoch hatte sie kaum ein Auge zugetan in dieser Nacht. Sie war froh, dass ihr Mann die 150 Kilometer von Kleingladenbach nach Wiesbaden fuhr. Und dass sie nicht allein war. Die beiden sprachen wenig; nach fast dreißig Jahren Ehe weiß man in so einer Lage, was dem anderen durch den Kopf geht. Im Übrigen gehörte Silke Tesch zu den Menschen, die erst denken, dann reden: sobald ihnen die Sache wirklich klar ist. Ihr Mann, ein knorriger Typ, hielt sowieso meistens den Mund.
«Ducati Performance» stand auf dem Bus. Er diente gelegentlich dazu, ein oder zwei dieser knallroten italienischen Motorräder mit dem narzisstischen Gitterrohrrahmen an den Nürburgring zu schaffen. Wenn auf einem Kleinbus, in dem Ducatis sind, auch Ducati draufsteht, kommt man ziemlich leicht ins Fahrerlager, auch als Hobby-Biker. Lothar Tesch fuhr nicht mehr gern auf der Straße, sondern lieber auf der abgesperrten Rennstrecke, weil das weniger halsbrecherisch ist. Im vergangenen Sommer hatte auch Silke nach langen Jahren mal wieder einige Runden in der Eifel gedreht. Als junge Mutter hatte sie das Motorradfahren aufgegeben, aber inzwischen war ihre Tochter erwachsen.
Im vergangenen Jahr, 2007, hatte sich über die ganze Bordwand des Busses noch ein knallroter SPD-Aufkleber gezogen: «Unsere Region in gute Hände». Auf dem Heck hatte das überlebensgroße Foto der Wahlkämpferin Tesch geprangt, das Bild, das auch auf ihrer Internetseite zu sehen war und als Abgeordnetenfoto diente. Es zeigt eine andere Frau: mit röteren Bäckchen und, vor allem, ohne Doppelkinn. Dass Frauen mit fünfzig ein Doppelkinn bekommen, hielt Tesch für eine der ganz großen, politisch noch nicht aufgearbeiteten Benachteiligungen von Frauen.
Vielleicht hatte Gott dem schweigsamen Ehepaar im VW-Bus trotzdem mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen, freilich nicht die Art Aufmerksamkeit, die man sich wünscht. Lothar Tesch hatte seinen Krebs nur dank einer Lebertransplantation überlebt; der drahtige Mann mit dem Vollbart war von Dächern und Leitern gefallen, hatte sich in seinem Beruf gleich reihenweise Wirbelknochen und Rippen gebrochen. Silke Tesch wurde als kleines Mädchen nach einem schweren Unfall ein Bein amputiert, das andere blieb nachhaltig geschädigt. Sie machten beide kein Aufheben davon.
Im Bus hatte Silke Tesch an diesem Morgen keine Schmerzen: Das Sitzen war kein Problem. Aber das Laufen. Im Spätsommer hatte sie eine neue Prothese bekommen; das war immer, um das Mindeste zu sagen, sehr lästig, aber diesmal war es extrem gewesen. Alle vier Jahre zahlt die Kasse so ein Ersatzteil. Und der technische Fortschritt ist wirklich beachtlich. Früher gab es das Holzbein, heute bewegen sich Prothesenfüße um drei Achsen im Raum und passen sich flexibel dem Boden an. Vom Südafrikaner Oscar Pistorius, der sich selbst «der schnellste Mann ohne Füße» nennt, weiß man, welche sportlichen Höchstleistungen mit Prothesen heutzutage möglich sind. Er war ohne Wadenknochen zur Welt gekommen, mit elf Monaten wurden ihm beide Beine knieabwärts amputiert. «Nur weil ich keine Beine habe, bin ich nicht behindert», sagte er.
So sah Silke Tesch das auch. Oder, andersherum: Sie konnte sich nicht für behindert halten. Sie würde sich nie so nennen. Auf ihrem Bus klebte kein Rollstuhlzeichen. Zwar hatte sie nicht vor, die hundert Meter wie Pistorius in weniger als elf Sekunden zu laufen, aber eine der modernen, sportlicheren Prothesen wollte sie sich schon zulegen, so ein «richtiges Hightechteil». Allerdings schreckte sie, wie die meisten Beinamputierten, vor dem Umstieg gleichzeitig zurück, sie bestellte sich nur alle sechs, sieben Jahre eine neue. Das Einlaufen einer Prothese ist mit Strapazen und Schmerzen verbunden.
Deshalb muten weniger disziplinierte Patienten sich das nicht zu. Andere gewöhnen sich nie an den künstlichen Körperteil, tragen ihre Prothese nicht und nehmen lieber beträchtliche Einschränkungen in Kauf, mit weiteren nachteiligen Folgen für die Gesundheit und Lebensqualität. Silke Tesch war anders, und sie hatte als Kind ohne Zweifel die besseren Chancen gehabt: Eine frühe Behinderung gleichen Körper und Seele besser aus als eine späte. Trotzdem ist das Einlaufen einer neuen Prothese so, als müsste man beständig Schuhe tragen, die nicht etwa nur eine, sondern gleich drei Nummern zu klein sind. Unvorstellbar! Und man muss immer wieder rein. So entstehen Druckstellen, Schwellungen, mitunter Wunden. Und mit dieser neuen Prothese, die durch Unterdruck halten sollte, wollte und wollte es nicht klappen.
Jetzt, im Wagen, im Sitzen, tat nur der Kopf noch weh, im Grunde auch schon seit Wochen. Als der Bus kurz nach neun nach Wiesbaden rollte, hoffte Silke Tesch, dass die Zeit der Kopfschmerzen endlich vorüber wäre.
Für Dagmar Metzger war das Schlimmste schon vorbei. Das Schlimmste: die Einsamkeit. Seit sie im März ihr Wahlversprechen bekräftigt hatte, Andrea Ypsilanti nicht gemeinsam mit den Abgeordneten der Linkspartei zur Ministerpräsidentin zu wählen, war sie in der SPD-Fraktion und im ganz überwiegenden Teil der Partei dramatisch isoliert worden, in einer Art, für die sich in der Geschichte der Bundesrepublik kein Beispiel nennen lässt. Gewiss: Eine Partei schöpft ihre Kraft aus der Gemeinschaft, sie ist ein Personenverband. Gemeinsam sind wir stark, das ist das Motto. Darum nennen Sozialdemokraten sich von alters her «Genossen». Aus dieser Gemeinsamkeit auszuscheren stellt das Grundprinzip der Partei in Frage. Jeder Partei. Entsprechend heftig sind die Reaktionen. Die Partei schließt sich zusammen, sie wird zum Kampfverband. Und der richtet seine ganze geballte Wut und Kraft nicht mehr nach außen, gegen andere mächtige Institutionen, die sich ihrer Haut schon erwehren können, sondern nach innen, auf eine Einzelne.
Durch ihr Abgeordnetenmandat wurde Dagmar Metzger allerdings zumindest rechtlich vor der Rache bewahrt, denn das Mandat gehört einer anderen Sphäre an, der des Staates. Und das gilt sogar für die Fraktion, den Zusammenschluss der Abgeordneten im Parlament. Die stammen zwar in der Regel aus einer Partei. Aber die Fraktion ist kein Teil der Partei, sondern des Parlamentes, sie ist ein Verfassungsorgan.
Von der Verfassung geschützt, konnte Dagmar Metzger dem Zorn der Partei standhalten. Aber sie wurde als Ausgestoßene behandelt. Kaum einer aus der eigenen...