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E-Book

Bliefe von dlüben

Der China-Crashkurs

AutorChristian Y. Schmidt
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644103511
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Journalist und Satiriker Christian Y. Schmidt kennt sich in China bestens aus, ist er doch mit einer Chinesin verheiratet und lebt in Peking. Hier beobachtet, probiert und kostet er, was er an typisch Chinesischem, an Seltsamem und Bemerkenswertem so vorfindet. Fünf Jahre lang berichtete er darüber in seiner «Titanic»-Kolumne «Bliefe von dlüben». Jetzt gibt er alles: Er hat ein ganzes Buch geschrieben. Und zwar das Handbuch für künftige Chinaversteher. Kultur, Alltag, Politik - kein Bereich wird ausgespart. Mit viel Charme und zuweilen grellem Witz erzählt Schmidt, wie er sich unerschrocken durch den chinesischen Alltag manövriert: Im Restaurant bekommt er lebenden Fisch serviert, und die Raubkopie von «Bridget Jones», auf die er sich so freute, hat «Piano»-Untertitel. Außerdem kennen Taxifahrer hier keine Anschriften; sie orientieren sich grob am Stand der Sonne, dem Vogelflug und den Gezeiten. Aber es geht Schmidt auch um ganz solide Fragen, zum Beispiel, welche Folgen die von der chinesischen Regierung initiierten Zivilisierungsmaßnahmen (nicht rotzen, nicht rauchen, nicht im Pyjama rausgehen) für Chinas Kultur haben. Kurz: In diesem Buch findet sich alles, was man über China wissen will - komisch, unterhaltsam, lehrreich.

Christian Y. Schmidt, geboren 1956, lebt als Schriftsteller in Berlin und Peking, daneben ist er Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur. Zuletzt erschien sein Roman «Der letzte Huelsenbeck », über den die FAZ meinte: «Ein Glanzstück.»

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Leseprobe

Der schnellste Weg zum China-Abitur


Seit mehr als dreißig Jahren öffnet sich China der Welt. Etwa genauso lange wimmelt es im Land auch von westlichen Journalisten und Reportern, die unablässig Bericht erstatten. So sind auf westlichen Fernsehkanälen mittlerweile unzählige China-Features gesendet worden, und es ist tonnenweise Chinaliteratur erschienen. Trotzdem haben fast alle Besucher, die zum ersten Mal zu mir nach Peking kommen, keinen Schimmer, was sie hier erwartet. Kaum einem war vorher wirklich bewusst, dass in China momentan die größte materielle Umwälzung stattfindet, die die Welt je erlebt hat. Und die meisten staunen darüber, wie dieses Land jetzt aussieht und was das für seltsame Auswirkungen auf den Alltag der Chinesen hat.

 

Diese Ahnungslosigkeit hat mehrere Gründe. Einer ist, dass es einfach einen Haufen von Mythen und Legenden über China gibt, die sich in den Köpfen der Westler festgefressen haben und hier die Aufnahme neuer Informationen verhindern. Ein solcher Mythos ist zum Beispiel, dass die Chinesen rätselhafte Menschen sind, die wir kaum verstehen können. Ein anderer, Chinesisch sei eine nur sehr schwer erlernbare Sprache. Ein schönes Beispiel für eine im Westen nicht auszurottende Überzeugung ist auch der Glaube, die Chinesen könnten kein R aussprechen. Tatsächlich sind sie dazu sehr wohl in der Lage. Für die Pekinger ist das typische Pekinger «r», das sie im Mund rollen wie die Siegerländer, sogar so etwas wie ihr Dialektmarkenzeichen schlechthin. Sie lieben diesen Konsonanten so sehr, dass sie ein n am Ende eines Wortes gerne durch ein r ersetzen.

Dafür ist im Westen kaum bekannt, dass viele Südchinesen kein Sch sprechen können, worüber sich die Nordchinesen nicht wenig lustig machen. Und keiner außer mir weiß, dass meine anmutige Dolmetscherin eine leichte H-Schwäche hat. So sagt sie statt «Gehirn» «gering», was sehr lustig klingt. Ich muss trotzdem jedes Mal widersprechen. Gering ist das Gehirn meiner Dolmetscherin nämlich nicht, denn sonst könnte sie mir ja wohl kaum Chinesisch so perfekt ins Deutsche übersetzen. Andererseits können tatsächlich manche Chinesen kein R schreiben, wie man auf dem chinesischen Cover einer Johnny-English-DVD nachlesen kann: «He kmows no feal, he knows no dangel, he kmows nothing», vgl. auch Seite 71. Nur aus diesem Grund ist das L-Wortspiel im Titel dieses Buches auch gerade noch so gerechtfertigt. Eigentlich wurde es aber nur um der besseren Verkäuflichkeit willen gemacht. In Deutschland findet man halt Bücher über China mit R-L-Fehlern sehr komisch.

 

Ein anderer Grund für die Unkenntnis im Westen ist paradoxerweise die Berichterstattung etlicher Journalisten. Dabei ist den wenigsten, die mit mir in China leben, etwas vorzuwerfen. Die meisten sind alte China-Hasen, die ihre Kundschaft zu Hause nach bestem Wissen und Gewissen mit Nachrichten und Einschätzungen beliefern. Das falsche Bild wird in der Regel zu Hause gemalt, von den Redaktionen, die die Informationen auswählen, kommentieren und bewerten. Menschenrechtsverletzungen, Umweltskandale, Bauernaufstände und Krawalle von Minderheiten gehen bei ihnen immer gut, gern wird auch etwas Folklore genommen. An positiven Meldungen, wie und warum China wirklich funktioniert und wie der durchschnittliche chinesische Großstädter so lebt, besteht dagegen weniger Interesse.

Dazu kommen die Berichte von Journalisten, die sich nur für ein paar Wochen in China aufhalten und sofort meinen, den vollen Durchblick zu haben. Ein schönes Beispiel für diese Spezies sind die Talkshowtante Sandra Maischberger und der Sportchef des Hessischen Rundfunks, Ralf Scholt. Beide glaubten offenbar, geschätzte zehn Minuten China-Briefing reichten aus, um die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking kommentieren zu können. Beim Einmarsch der Nationen ins Olympiastadion erzählten sie ihrem Millionenpublikum neben vielem sonstigen Unsinn, die deutsche Delegation würde das Stadion später als bei anderen Spielen betreten, weil sich die Reihenfolge der Mannschaften nach dem «chinesischen Alphabet» richte. Nun haben die Chinesen überhaupt kein Alphabet, sondern Zeichen, was etwas radikal anderes ist. So konnte sich der Einmarsch eben nicht nach der Reihenfolge der Anfangsbuchstaben der Ländernamen richten, sondern musste sich an der Komplexität der Zeichen orientieren, die im Chinesischen für das jeweilige Land stehen. Die Länder, deren Zeichen sich aus wenigen Strichen zusammensetzen, liefen also zuerst ins Stadion ein, die mit vielen Strichen erst später. Weil aber das Zeichen für Deutschland

mit fünfzehn Strichen bereits ein hochkomplexes ist, kam die deutsche Delegation kurz vor Schluss. So einfach war das, aber offenbar für Frau Maischberger und Herrn Scholt bereits zu hoch, um es vor der Moderation zu lernen.

Erzählen die Quatsch, weil sie es nicht besser wissen, tun andere das, weil ihr Unsinn einfach besser zu einer These passt, die sie sich schon zu Hause zurechtgelegt haben. So behauptete im August 2008 ein Redakteur der Süddeutschen Zeitung, der für die Olympischen Spiele offenbar kurzfristig nach Peking verschickt worden war, in seinem Blatt: «In der 17-Millionen-Einwohner-Stadt ist der Mundschutz zum ganz gewöhnlichen Kleidungsstück geworden – so wie Sonnenhüte am Strand oder Wollschals an der Skipiste.» Das ist nun schlicht erfunden. Mundschutz wird in Peking höchstens bei SARS-Epidemien, den Sandstürmen im Frühjahr und Erkältungswellen oder aber von ganz wenigen überkandidelten Damen getragen, sonst nicht. Zwar scheint diese Falschmeldung auf den ersten Blick nicht weiter dramatisch, doch impliziert sie auch, dass bei uns in Peking die Luft so schlecht sei, dass sich niemand mehr ohne Mundschutz auf die Straße traue. Dazu kann ich nur sagen: Die Luft hier ist zwar oft wirklich nicht besonders, aber längst nicht so miserabel, wie die westlichen Medien immer tun.

 

Diese Fehlerliste ließe sich noch lange fortsetzen, zumal bei der politischen Berichterstattung und Kommentierung. Und so werden die schönsten China-Irrtümer auch im Verlauf dieses Buches immer wieder ein Thema sein. An dieser Stelle soll nur noch kurz das kenntnisloseste Stück China-Impression gewürdigt werden, das mir bisher unterkam. Es handelt sich um die Tagebuchnotizen von Christine Morgenroth, einer Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hannover, die im September 2002 zusammen mit Oskar Negt und anderen in China unterwegs war. Abgedruckt ist der Bericht am Schluss von Negts Buch «Modernisierung im Zeichen des Drachen», das eigentlich ganz interessant ist. Die von Morgenroth verfassten vierzig Seiten aber strotzen von Fehlern und Plattitüden. Sie schreibt Namen von Menschen, Städten und Sehenswürdigkeiten falsch, sodass aus der Stadt Fengdu «Fangdu» wird und aus Baidi Cheng, der White Emperor City, die «White Conqueror City». Ein Mondkuchen, der alles Mögliche enthalten kann, aber in der Regel keinen Mohn, wird bei ihr nichtsdestotrotz zum «Mohnkuchen». In Shanghai meint sie eine «Hafenrundfahrt» auf dem «Yangzi» zu machen, der Fluss, auf dem sie herumschippert, heißt jedoch Huangpu. Außerdem will sie dem Leser einreden, der durchschnittliche Monatslohn eines Arbeiters in der Boomstadt liege bei hundert Yuan, also umgerechnet zehn Euro. Tatsächlich betrug er aber schon 2002 das Zehnfache. Sie staunt allen Ernstes darüber, dass es in China reiche Menschen gibt, erklärt ihren Lesern, das Vermieten von Wohnungen sei verboten («es wäre privates Unternehmertum»), und Taxifahrer in Shanghai nähmen aus Angst vor der Polizei keine ausländischen Touristen mit. Beides ist natürlich Quatsch.

Diese völlige Verkennung der chinesischen Verhältnisse wäre eventuell noch zu akzeptieren, wenn Frau Morgenroth ansonsten bei Lidl an der Kasse sitzen würde und ihre Eindrücke unter der Überschrift «Mein schlimmstes Ferienerlebnis» in ihrem Privatblog veröffentlicht hätte. Von einer Professorin aber, die einen Aufsatz in einem Buch publiziert, das in einem renommierten Verlag erschienen ist, sollte man eigentlich ein Minimum an Recherche erwarten. Stattdessen aber schlägt sie in ihrem Text einen Ton an, der in seiner Blasiertheit schwer zu übertreffen ist. Anlässlich eines Vortrages, den sie zusammen mit Oskar Negt an der Shanghaier Tongji-Universität vor chinesischen Akademikern auf Deutsch hielt, schreibt sie: «Die Bedeutung der wechselseitigen Abhängigkeit von Gesellschaftlichkeit und Subjektivität und die subtilen und differenzierten Formen der wechselseitigen Beeinflussung, über die wir ja ständig nachdenken und wofür wir Konzeptualisierungen entwickeln wollen und müssen, diese Frage stellt sich den Chinesinnen und Chinesen hier vom Denkerischen her zunächst überhaupt nicht.» In vernünftiges Deutsch übersetzt muss das wohl heißen: «So richtig gut denken können die Chinesinnen und Chinesen nicht. Auf jeden Fall nicht so gut wie ich.»

Man stelle sich vor, ein Professor würde Ähnliches über die USA und die US-Amerikaner verbreiten. Den Hudson River in New York würde er in Mississippi umbenennen, aus dem Mount Rushmore würde er Mount Rashmore machen, und außerdem würde er seiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass alle Amis «vom Denkerischen her» etwas minderbemittelt seien. Die Aufregung wäre sicher riesengroß. Über China dagegen kann man alles Mögliche behaupten, egal, ob es nun stimmt oder nicht, und es ächzt höchstens mal ein Sinologe zu Hause an seinem Schreibtisch.

 

Oder ich. Denn ich habe dieses Buch auch geschrieben, weil ich mit einigen falschen Vorstellungen und Behauptungen über China und die...

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