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Die Waldorfschule

Reden und Aufsätze von Rudolf Steiner über sein Konzept der Waldorfpädagogik

AutorRudolf Steiner
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl187 Seiten
ISBN9783746096476
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Rudolf Steiner ist der Begründer der Anthroposophie und Vordenker der Waldorfpädagogik. Die Anthroposophie hat in den letzten Jahren immer mehr Einfluss gewonnen. Rudolf Steiner findet Anhänger in der bildenden Kunst, der Literatur, der Ernährungswissenschaft und vor allem in der Reformpädagogik. Die Pädagogik der Waldorfschulen basiert auf den Gedanken Rudolf Steiners. Rudolf Steiner strebt eine ganzheitliche Menschenbildung an, bei der Leib und Seele durch eine entwicklungspsychologisch fundierte »Erziehungskunst« harmonisch ausgebildet werden. Im Band enthalten sind die beiden zusammenfassenden Artikel über »Die pädagogische Grundlage der Waldorfschule« und »Die pädagogische Zielsetzung der Waldorfschule in Stuttgart«. Der dritte Teil enthält acht Vorträge unter dem Titel »Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung«. Rudolf Steiner erläuterte den Lehrern der Freien Waldorfschule Stuttgart in einer einwöchigen Veranstaltung sein Konzept der Waldorfpädagogik.

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Leseprobe

DIE PÄDAGOGISCHE ZIELSETZUNG DER WALDORFSCHULE IN STUTTGART


 Erstveröffentlichung: „Soziale Zukunft“, 5.-7. Heft, Februar 1920

Wer sich auf den heutigen Bildungsanstalten für den Beruf des Pädagogen vorbereitet, nimmt viele gute Grundsätze über Erziehungswesen und Unterrichtskunst ins Leben mit. Und der gute Wille, diese Grundsätze auch anzuwenden, ist zweifellos bei vielen vorhanden, denen dies als Aufgabe zufällt. Dennoch ist eine weitgehende Unbefriedigtheit auf diesem Lebensgebiete vorhanden. Immer neue oder neu erscheinende Zielsetzungen tauchen auf; und Anstalten werden begründet, welche den Forderungen der

Menschennatur und des sozialen Lebens besser Rechnung tragen sollen als diejenigen, welche aus der allgemeinen Zivilisation der neueren Menschheit hervorgegangen sind. Unbillig wäre es, nicht anzuerkennen, dass die Erziehungs- und Unterrichtskunde seit mehr als einem Jahrhundert die edelsten, von hohem Idealismus getragenen Persönlichkeiten zu ihren Pflegern gehabt hat. Was der Geschichte von diesen einverleibt ist, stellt einen reichen Schatz von pädagogischer Weisheit und von begeisternden Anweisungen für den Erzieher-Willen dar, die der angehende Lehrer aufnehmen kann.

Man wird kaum in Abrede stellen können, dass für jeden Mangel, den man im Felde des Erziehens und Unterrichtens findet, sich leitende Ideen bei den bisher führenden großen Pädagogen aufweisen lassen, durch deren Befolgung Abhilfe geschaffen werden könnte. Die Unbefriedigtheit kann nicht in dem Fehlen einer sorgsam gepflegten Erziehungskunde liegen; sie kann auch nicht auf dem Mangel an gutem Willen bei denen beruhen, die im Erziehen und Unterrichten tätig sind. Aber sie ist doch nicht unberechtigt. Das beweisen die Erfahrungen des Lebens jedem Unbefangenen.

Von solchen Empfindungen sind diejenigen durchdrungen gewesen, die an der Begründung der Waldorfschule in Stuttgart beteiligt sind. Emil Molt, der Begründer dieser Schule, und der Schreiber dieses Artikels, welcher der Erziehungs- und Unterrichtsart die Richtung geben durfte, und der sich an der Fortführung dieser Richtung weiterhin beteiligen darf: sie wollen mit dieser Schule eine pädagogische und eine soziale Aufgabe lösen.

Bei dem Versuch, die pädagogische Aufgabe zu lösen, kommt es darauf an, den Grund zu erkennen, warum die guten Erziehungsprinzipien, die vorhanden sind, in so weitgehendem Maße zu nicht befriedigenden Ergebnissen führen. - Es wird doch zum Beispiel allgemein anerkannt, dass die sich entwickelnde Individualität des Kindes für die Gewinnung der leitenden Ideen im Unterrichten und Erziehen beobachtet werden müsse. In allen Tonarten wird dieser Gesichtspunkt als ein richtiger hingestellt.

Aber es gibt heute gewichtige Hindernisse, diesen Gesichtspunkt einzunehmen. Er erfordert, um in wahrer Praxis zur Geltung zu kommen, eine Seelen-Erkenntnis, die wirklich das Wesen des Menschen aufschließt. Zu einer solchen führt die Weltanschauung nicht, welche die geistige Bildung der Gegenwart beherrscht. Diese Weltanschauung glaubt nur dann einen sicheren Boden unter den Füßen zu haben, wenn sie allgemeingültige Gesetze aufstellen kann. Gesetze, die man in festen Begriffen aussprechen und dann auf den einzelnen Fall anwenden kann. Man gewöhnt sich an das Streben nach solchen Gesetzen, wenn man seine Berufsbildung in den Bildungsanstalten der Gegenwart erwirbt. Auch die für den Erzieherberuf Vorgebildeten sind an das Denken in solchen Gesetzen gewöhnt. Aber die menschliche Seelenwesenheit widerstrebt der Erkenntnis, wenn man sie durch solche Gesetze fassen will. Nur die Natur ergibt sich diesen Gesetzen. Will man das Wesen der Seele durchschauen, so muss man das Gesetzmäßige mit künstlerischer Gestaltungskraft in der Erkenntnis durchdringen. Der Erkennende muss zum künstlerisch Schauenden werden, wenn er das Seelische erfassen will. Man kam dozieren: ein solches Erkennen sei kein wahres Erkennen, denn es beteilige das persönliche Erlebnis an dem Erfassen der Dinge. Solches Dozieren mag noch so viele logische Vorurteile für sich haben; es hat die Tatsache gegen sich, dass ohne die Beteiligung des inneren persönlichen, des schaffenden Erfassens das Seelische nicht zu erkennen ist. Man schreckt vor dieser Beteiligung zurück, weil man glaubt, damit unbedingt in die persönliche Willkür des Beurteilens hineinzukommen. Gewiss, man kommt in diese Willkür hinein, wenn man sich nicht durch sorgfältige Selbsterziehung innere Objektivität aneignet.

Damit ist aber der Weg angedeutet, den derjenige einschlägt, der neben der auf ihrem Gebiet berechtigten Natur-Erkenntnis eine wahre Geist-Erkenntnis gelten lässt. Und dieser kommt es zu, das Wesen des Seelischen aufzuschließen. Sie muss eine wirkliche Erziehungs- und Unterrichtskunst tragen. Denn sie führt zu einer Menschen-Erkenntnis, die so in sich bewegliche, lebendige Ideen hat, dass der Erzieher sie in die praktische Anschauung der einzelnen kindlichen Individualität umsetzen kann. Und erst wer dieses vermag, für den gewinnt die Forderung, nach der Kindes-Individualität zu erziehen und zu unterrichten, eine praktische Bedeutung.

In unserer Zeit mit ihrem Intellektualismus, mit ihrer Liebe zur Abstraktion wird man das hier Ausgesprochene mit Einwänden zu widerlegen suchen, wie etwa der ist: es sei doch selbstverständlich, dass man allgemeine Ideen, die man über das Wesen des Menschen auch aus der gegenwärtigen Zeitbildung heraus gewonnen habe, für den einzelnen Fall individualisiere.

Doch um richtig zu individualisieren, so, wie es befähigt, die besondere Kindes-Individualität erzieherisch zu führen, dazu ist nötig, in einer besonderen Geistes-Erkenntnis den Blick für das erworben zu haben, was nicht als einzelner Fall unter ein allgemeines Gesetz gebracht werden kann, sondern dessen Gesetz erst an diesem Fall anschauend erfasst werden muss. Die hier gemeinte Geist-Erkenntnis führt nicht, nach dem Vorbilde der Natur-Erkenntnis, zum Vorstellen allgemeiner Ideen, um diese im einzelnen Falle anzuwenden, sondern sie erzieht den Menschen zu einer Seelen-Verfassung, die den einzelnen Fall in seiner Selbständigkeit schauend erlebt. - Diese Geisteswissenschaft verfolgt, wie sich der Mensch in seinem Kindes- und Jugendalter entwickelt. Sie zeigt, wie die kindliche Natur von der Geburt bis zum Zahnwechsel so geartet ist, dass sie sich aus dem Trieb der Nachahmung entfaltet. Was das Kind sieht, hört usw. erregt in ihm den Trieb, das gleiche zu tun. Wie sich dieser Trieb gestaltet, das untersucht bis ins einzelne die Geisteswissenschaft. Man braucht zu dieser Untersuchung Methoden, die in jedem Punkte das bloße Gesetzes-Denken in das künstlerische Anschauen hinüberleiten. Denn, was das Kind zur Nachahmung reizt und die Art, wie es nachahmt, lässt sich nur in dieser Art anschauen. - In der Periode des Zahnwechsels vollzieht sich ein völliger Umschwung im kindlichen Erleben. Es tritt der Trieb ein, das zu tun oder auch zu denken, was ein anderer Mensch, der von dem Kinde als Autorität empfunden wird, tut oder denkt, wenn er dieses Tun oder Denken als richtig bezeichnet. Vor diesem Lebensalter wird nachgeahmt, um das eigene Wesen zum Nachbild der Umgebung zu machen; mit dem Eintritt in dieses Alter wird nicht bloß nachgeahmt, sondern es wird das fremde Wesen mit einem gewissen Grade der Bewusstheit in das eigene Wesen hereingenommen. Doch bleibt der Nachahmungstrieb neben dem andern, der Autorität zu folgen, bis etwa zum neunten Lebensjahre noch bestehen. Geht man von den Äußerungen dieser zwei Haupttriebe für die beiden aufeinanderfolgenden Kindesalter aus, so fällt der Blick auf andere Offenbarungen der kindlichen Natur. Man lernt die lebendig-plastische Entwicklung der menschlichen Kindheit kennen.

Wer in diesem Felde seine Beobachtungen aus der Vorstellungsart heraus anstellt, die für Naturdinge, ja die auch für den Menschen als Naturwesen die richtige ist, dem entzieht sich, was das eigentlich Bedeutsame ist. Wer aber auf die für dieses Gebiet sachgemäße Beobachtungsart eingeht, der schärft sein Seelenauge für das Individuelle der Kindeswesenheit. Ihm wird das Kind nicht zum «einzelnen Fall», den er nach einem Allgemeinen beurteilt, sondern zum ganz individuellen Rätsel, das er zu lösen sucht.

Man wird einwenden, solches anschauendes Eingehen auf das einzelne Kind sei doch in einer Schulklasse mit einer größeren Schülerzahl nicht möglich. Ohne deshalb übergroßen Schülerzahlen in den Klassen das Wort reden zu wollen, muss doch gesagt werden, dass ein Lehrer mit einer Seelen-Erkenntnis, wie sie hier gemeint ist, leichter mit vielen Schülern zurechtkommen wird als der andere ohne wirkliche Seelen-Erkenntnis. Denn diese Seelen-Erkenntnis wird sich in dem Gebaren der ganzen Persönlichkeit des Lehrers offenbaren; sie wird jedem seiner Worte, allem seinem Tun das Gepräge geben; und die Kinder werden innerlich aktiv unter seiner Führung werden. Er wird nicht jeden einzelnen zur Aktivität zu zwingen haben, denn seine allgemeine Haltung wird auf das einzelne Kind wirken.

Aus der Erkenntnis der kindlichen Entwicklung ergeben sich sachgemäß Lehrplan und Lehrmethode. Durchschaut man, wie der Nachahmungstrieb und der Impuls, unter die Autorität sich zu stellen, beim Kinde in den ersten Volksschuljahren ineinanderwirken, so weiß man, wie man für diese Jahre zum Beispiel den Schreibunterricht zu gestalten hat. Baut man ihn auf die Intellektualität, so arbeitet man gegen die Kräfte, die sich durch den Nachahmungstrieb offenbaren; geht man von einer Art Zeichnen aus, das man allmählich in das Schreiben überführt, so entwickelt man, was sich zu entwickeln strebt. In dieser Art lässt sich der Lehrplan ganz aus der Natur der kindlichen Entwicklung heraus gewinnen. Und nur ein Lehrplan, der in dieser Art gewonnen ist, arbeitet...

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