»Mord war ein Mittel der Politik«
Der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta über den Fehlstart der Weimarer Republik und die Ursachen ihres Scheiterns
Das Gespräch führten
Uwe Klußmann und Joachim Mohr.
SPIEGEL: Hielten es die Deutschen nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg eigentlich für zwingend, die Monarchie abzuschaffen und eine Republik zu gründen?
Pyta: Deutschland hatte im Oktober 1918, kurz vor Kriegsende, ja bereits den Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie vollzogen. Damit waren die verfassungspolitischen Forderungen selbst der Sozialdemokratie erfüllt. Deshalb war der spätere sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert im November 1918 auch gegen die Abschaffung der Monarchie. Gestürzt wurde die Monarchie vor allem, weil sie als Hindernis für einen schnellen Frieden mit den westlichen Kriegsgegnern angesehen wurde. Vor allem die US-Amerikaner drängten auf eine Änderung der Staatsform.
SPIEGEL: War das Volk von der Demokratie denn begeistert?
Pyta: Die erste deutsche Demokratie ist gewiss auf improvisierte Weise zustande gekommen. Aber sie erhielt ein nachträgliches demokratisches Mandat dadurch, dass bei der Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919 die überwältigende Mehrheit der Deutschen – darunter auch erstmals die Frauen – für diejenigen Parteien votierte, Sozialdemokratie, Liberalismus, politischer Katholizismus, die einen demokratischen Staat errichten wollten. Und bei den Beratungen dieser Nationalversammlung war bis zum Frühjahr 1919 durchaus Zuversicht zu registrieren, nicht nur ein abgewirtschaftetes System zu liquidieren, sondern einen politischen Neuanfang zu wagen.
SPIEGEL: Was war die leitende Idee der Mehrheit in der Nationalversammlung?
Pyta: Sozialdemokraten und andere Republikaner wollten der Welt ein Beispiel dafür geben, wie Demokratie mit sozialer Wohlfahrt einhergehen könnte. Das Erbe von Goethe und Schiller, das deutsche Bildungsgut, sollte sich mit politischer Teilhabe und Sozialstaat verbinden.
SPIEGEL: Deutschland als Kriegsverlierer wurden im Frieden von Versailles gewaltige Reparationsleistungen auferlegt. Was wog schwerer für die Deutschen, die materiellen oder die psychischen Folgen des Vertrags?
Pyta: Die psychologische Wirkung war gravierender. Denn in den Jahren 1919 und 1920 stand noch gar nicht fest, wie hoch die Reparationsforderungen sein würden. Deutschland war in Versailles gezwungen worden, einen ungedeckten Scheck in unbekannter Höhe auszustellen. Die Deutschen hatten nach den Versprechungen des US-Präsidenten Woodrow Wilson auf einen milden Friedensvertrag gehofft. Sie waren geradezu schockiert von den harten Bedingungen des Versailler Vertrags. Vor allem die Alleinschuld für den Krieg, die der Vertrag ihnen und ihren Verbündeten zuwies, empfanden die Deutschen aller politischen Lager als große Ungerechtigkeit. Die Wirkung war psychologisch und politisch verheerend.
SPIEGEL: Kurt Tucholsky schrieb im Mai 1919: »Wir haben in Deutschland keine Revolution gehabt, aber wir haben eine Gegenrevolution.« Hat das brachiale Vorgehen der Armee wie auch der rechten paramilitärischen Einheiten, der Freikorps, gegen linke Aufständische 1919 und 1920 große Teile der Arbeiterschaft der Republik entfremdet?
Pyta: Deutschland hat im November 1918 durchaus eine Revolution erlebt, diese hat das politische System grundlegend umgestürzt, durch eine Volksbewegung von unten. Die sozialen Verhältnisse aber blieben erhalten. Obwohl es Versuche gab, die Besitzverhältnisse radikal zu ändern, etwa ab April 1919 mit der Bayerischen Räterepublik, geführt erst von linken Dichtern, dann von Parteikommunisten, die sogar ein Hilfeersuchen an Lenin schickten. Aber wie die Wahlen eindeutig zeigten, fand die Forderung nach einer Räterepublik auch in der Arbeiterschaft niemals eine Mehrheit. Die Gegenrevolution, exekutiert von der Reichswehr, hatte hingegen eine breite Basis vor allem im Bürgertum.
SPIEGEL: Woher kam der Rechtsterrorismus mit den Morden an den republikanischen Ministern Matthias Erzberger und Walther Rathenau?
Pyta: In der Dynamik von Revolution und Gegenrevolution gab es massenhafte Gewalt mit dem Wunsch, den Gegner zu vernichten. Das war eine Folge des Ersten Weltkriegs, weil eine Kultur der Gewalt entstanden war, die sich in der Zivilgesellschaft fortsetzte. Die Mitglieder der rechtsterroristischen Organisationen waren Leute, die entweder am Krieg teilgenommen oder zu den Freikorps gehört hatten. Für sie war Mord ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung.
SPIEGEL: Während die Gerichte linke Revolutionäre nicht selten zu langjährigen Haftstrafen verurteilten, konnten rechtsextreme Täter hingegen meist auf Milde hoffen. Untergruben Richter so von Anfang an die Republik?
Pyta: Die Justiz hat in vielen Fällen mit zweierlei Maß gemessen. Das kann man exemplarisch am Hitler-Ludendorff-Putsch vom November 1923 sehen. Ludendorff galt als Held des Ersten Weltkriegs, und Hitler war Führer einer in Bayern populären Bewegung. Ludendorff wurde freigesprochen, Hitler zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg am Lech verurteilt, kam aber nach neun Monaten wegen guter Führung frei. Die vermeintlich vaterländische Gesinnung der Putschisten galt den Richtern als strafmindernd.
SPIEGEL: Die Justiz war auf dem rechten Auge also blind?
Pyta: Länder wie etwa Preußen und Baden haben sich später bemüht, Extremisten, auch Mitglieder der NSDAP, nicht in den Staatsdienst zu lassen. Die Republik hat sich durchaus gegen Radikale gewehrt, aber keineswegs immer und überall, wo dies notwendig gewesen wäre.
SPIEGEL: Bis zum Hamburger Aufstand der Kommunisten im Oktober 1923 und dem Hitlerputsch in München wenige Woche später gab es immer wieder bewaffnete Umsturzversuche. Hat die Angst vor allem der Bürgerlichen vor solch gewalttätigen Wirren dazu beigetragen, dass die Demokratie später widerstandslos abgeschafft werden konnte?
Pyta: Die bürgerlichen Kreise griffen zwar nicht selbst zum Mittel der Gewalt und waren irritiert, wie groß bei Kommunisten und Nationalsozialisten die Bereitschaft war, den politischen Gegner mit einem Bierseidel zu erschlagen oder ihn zu erstechen. Gewalt war aber nicht so geächtet, dass sich derjenige ins Abseits stellte, der sie propagierte oder gar anwandte. Das war fatal und hat die Demokratie sicherlich unterminiert.
SPIEGEL: Mit Kompromissen taten sich alle politischen Kräfte in der Weimarer Republik schwer. Viele Bürger sehnten sich nach Harmonie, etwa nach einer »Volksgemeinschaft«, von der selbst manche Sozialdemokraten schwärmten. Woran lag das?
Pyta: Der Erste Weltkrieg war eine Wegscheide. In allen kriegführenden Ländern gab es ein großes Bedürfnis nach nationaler Einheit. Daraus entstand in Deutschland der Begriff der Volksgemeinschaft, die alle Deutschen ungeachtet ihrer sozialen Herkunft und Konfession vereinen sollte.
SPIEGEL: Diesem Wunschbild stand die harte Realität gegenüber – eine in verfeindete Milieus gespaltene Gesellschaft. Revolutionäre standen gegen Reformisten, Vernunftrepublikaner gegen Rechtsextremisten. Gab es nichts Verbindendes zwischen den Lagern?
Pyta: Die meisten politischen Kräfte hatten ihr eigenes starres Verständnis vom Volkswillen und vom Volksstaat. Und wer dem nicht entsprach, der galt als Feind. So konnten politisch Andersdenkende als Feinde des Volkes denunziert werden.
SPIEGEL: Der Versuch, die russische Revolution nach Deutschland zu exportieren, scheiterte trotz mehrerer Versuche in den Jahren 1918 bis 1923. Schreckte die sowjetrussische Erfahrung mit Bürgerkrieg und Terror die deutschen Arbeiter ab?
Pyta: Für einen Teil der Arbeiter war die russische Revolution ein politisches Heilsversprechen. Das waren die Wähler der Kommunisten. Denn in Russland war zum ersten Mal ein bewusst antikapitalistischer Staat entstanden. Das faszinierte vor allem die Nicht-Facharbeiter, aber auch einen Teil der linken Intelligenz. Doch die Gewaltherrschaft der Bolschewiki schreckte die Sozialdemokraten und andere gemäßigte Linke ab. Viele Deutsche sahen in den Ideen der Kommunisten eine Kriegserklärung gegen die bürgerliche Gesellschaft, gegen das private Eigentum, gegen die Religion, gegen die persönliche Freiheit. Hinzu kam, dass in Deutschland Hunderttausende Emigranten aus Russland lebten, die den Schrecken des Revolutionsgeschehens kannten.
SPIEGEL: Die Mehrheit der Deutschen wählte 1925 den reaktionären und greisen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten. Der beschwor den »Geist von 1914«. Was trieb die Wähler zu ihm?
Pyta: Es war die erste Volkswahl eines Reichspräsidenten. Trotz der militärischen Niederlage genoss Hindenburg ein besonderes Ansehen: Er galt als Mann, der die Einheit der Nation und den Dienst an der Nation verkörperte. Hindenburg stand für preußische Tugenden und Disziplin. Der Protestant Hindenburg war selbst bei katholischen Wählern im Süden Deutschlands beliebt, sein Wählerpotenzial reichte weit über das rechtskonservative Spektrum hinaus.
SPIEGEL: Ab 1930 konnte die SPD als stärkste demokratische Partei keine ihrer beiden zentralen Funktionen mehr erfüllen: das linke Wählerspektrum abdecken und regierungsfähig sein. Als sie den...