KRIBBELN
In Chicago wurde es Winter, während ich über den Bewerbungsunterlagen für diverse Business Schools brütete. Ich hatte gedacht, durch die Berufserfahrung, die ich nach dem College gesammelt hatte und auf die ich ziemlich stolz war, wäre dies ein Klacks, doch das Ganze stellte sich als mühsam, frustrierend und nervtötend heraus. Ich musste mich den paar notenmäßigen Ausrutschern stellen, die mir während der vier Jahre College passiert waren – ein paar miese Zensuren reckten nun ihre hässlichen Köpfe und versperrten mir den Zugang zu jenen Unis, wo ich meiner Meinung nach hingehörte. Noch quälender war, dass ich mir diese Noten geholt hatte, als ich versucht hatte, etwas zu sein, das ich nicht bin. Ich hatte mein Grundstudium mit dem Ziel begonnen, Ärztin zu werden, denn das wollten meine Eltern aus mir machen.
In einem düsteren Vorlesungssaal, der nach altem Holz und Desinfektionsmittel roch, stießen mich die Kommilitonen im Anatomiekurs immer in die Rippen, wenn meine tiefe Atmung in rasselndes Schnarchen überging. Die Professoren fand ich uninspirierend, den Unterricht todlangweilig, aber der eigentliche Grund für meine ablehnende Haltung war, dass ich mich unheimlich schwer damit tue, irgendwo eingesperrt zu sein. Bei dem stundenlangen Auswendiglernen hatte ich das Gefühl, förmlich zu ersticken. Dafür war ich viel zu kreativ und impulsiv. Ich erinnere mich noch an ein Gespräch mit meiner Beratungslehrerin gleich im ersten Studienjahr. Es ging darum, dass jeder für irgendetwas eine Leidenschaft hegt, ich aber in der Hinsicht die große Ausnahme war.
»Wenn du genügend Straßen erkundest, wirst du für dich die richtige finden, und hoffentlich hast du dann den Mut, den Zeichen zu folgen und dein Ziel zu erreichen«, sagte sie.
Ich erwiderte, dass die Verkehrszeichen, die mich in Richtung Arztberuf führten, ein großer weißer Balken auf rotem Grund – Durchfahrt verboten! – und U-Turn-Pfeile seien, die heller leuchteten als alle Lichter auf dem Las Vegas Strip zusammen.
Mit einem schweren Seufzen sagte sie: »Ich kann dir nur einen Rat geben – du bist dein eigener Boss und bestimmst über dein Leben, und am Ende musst du allein herausfinden, was richtig für dich ist.«
Ich nahm mir ihre Worte zu Herzen und schnupperte im nächsten Semester in Kunstgeschichte, Literatur, Volks- und Betriebswirtschaft hinein. In meinem ersten Seminar über Unternehmensführung fand ich schließlich meine Berufung. Ich setzte mich im Kursraum von hinten nach vorn und fand Herausforderung, Gefahr, Leidenschaft und Freiheit, indem ich eine Geschäftsidee entwickelte und diese dann mit einer Mischung aus Entschlossenheit, richtigem Timing und Glück in die Tat umsetzte. Noch während meines Studiums gründete ich meine eigene kleine Firma. Es war eine Gratwanderung zwischen Erfolg und Scheitern, ein Kreuzungspunkt, an dem all meine Leidenschaft gefragt war.
Doch nun, sieben Jahre später, gingen die Business Schools meine akademische Vergangenheit mit »ts, ts« oder einem vielsagenden Kopfschütteln durch, und mir war klar, dass das Gespräch beendet war, bevor es überhaupt begonnen hatte. Meine schlechten Zeugnisse machten sie blind für das, was in mir steckte, aber ich wusste, dass ich – ähnlich wie zuvor mit meinem kleinen Unternehmen – mit Entschlossenheit, dem richtigen Timing und Glück irgendwann auch einen Studienplatz bekäme. Wenn der direkte Weg versperrt ist, muss man eben eine Umleitung nehmen.
Ich komme aus einer Familie von Ehrlichkeitsfanatikern. Selbstverständlich will ich, dass man aufrichtig zu mir ist, aber oft sehne ich mich nach Ohrenschützern, um nicht hören zu müssen, wie das eine oder andere Familienmitglied sich mein Leben vorstellt – immer schön verpackt in einer ordentlichen, brav den Konventionen entsprechenden Schachtel.
Mein Vater wurde in einem Flüchtlingslager geboren, seine Eltern waren beide Holocaust-Überlebende. Seine Weltanschauung besteht aus harter Arbeit, für ihn ist das Leben ein ewiger Überlebenskampf. Man soll keine Ecken und Kanten zeigen und der Befehlskette folgen. Diesem Denken passt er sein Handeln an, persönlich wie beruflich. Meine Mutter hingegen wuchs in einer vermögenden, gut situierten Familie mit Gartenpartys, Konzertbesuchen und Weltreisen auf. Schon früh wurde ersichtlich, dass mein Bruder, der bereits im Mutterbauch beschlossen hatte, Investmentbanker zu werden, ein Klon meines Vaters sein würde. Meine Abstammung war jedoch nicht so offensichtlich. Ich war einfach anders.
Als meine Eltern mich mit fünf Jahren zum Ballett anmeldeten, verstand ich nicht, warum die Lehrerin so verflucht ernst war. Wo war ihr Lächeln? Was hatte es mit diesem hochmütigen Blick auf sich? Ich beschloss, ein bisschen Spaß in ihr Leben zu bringen: Während die anderen rosafarbenen Tutus rund herum Pirouetten drehten, schlug ich ein Rad und machte die Tutus nacheinander platt. Von diesem Moment an betrachtete mein Vater mich eher skeptisch. Mein erster Tag im Ballett war also auch mein letzter, aber Rad schlug ich weiterhin.
Als Jugendliche wollte ich dann Eiskunstläuferin werden. Ich verliebte mich sofort in diesen Sport, auch wenn die kurzen, neonfarbenen Röckchen für mich nicht tragbar und die Pirouetten und Salti nicht machbar waren. Eines Tages nahm mich meine Trainerin zur Seite und gab mir zu verstehen, dass mein Hintern und meine Schenkel zu dick seien für eine gute Eisläuferin, ich müsste also ein paar Pfund abnehmen und versuchen, mich anmutiger zu bewegen. Aus den Augenwinkeln nahm ich auf der angrenzenden Eisfläche ein Eishockeyteam wahr, die Spieler schmetterten sich gegenseitig an die Bande. Ich sah meine Trainerin an und sagte: »Ich glaube, ich sollte Eishockey spielen.«
Ihre Antwort war wohl typisch für die Neunzigerjahre: »Das ist ein Sport für Jungs! Geh nach Hause, und rede mit deinen Eltern über das, was ich gesagt habe. Ich bin mir sicher, wir kriegen dich so hin, dass du eine Chance hast, eine gute Eiskunstläuferin zu werden.«
Zumindest hatte ich es so verstanden. Noch bevor ich vom Eis war, warf ich die Kunstlaufschlittschuhe weg. Ich hatte mich in Eishockey verguckt. Ich ging nach Hause und schilderte meinen Eltern die Situation:
»Meine Trainerin hat gesagt, ich sei zu fett für eine Eiskunstläuferin.«
Meine Mutter sagte: »Nun, das war nicht nett, aber es würde dir guttun, ein bisschen abzunehmen.«
Mein Vater stieß in dasselbe Horn: »Du kannst nicht einfach alles hinschmeißen! Iss weniger und streng dich mehr an!«
Ihre Ratschläge stießen auf taube Ohren.
»Ich habe beschlossen, Eishockey zu spielen.«
Meiner Mutter klappte die Kinnlade herunter. »Eishockey! Nein, Mindy! Du bist ein Mädchen!«
Mein Vater gab auch seinen Senf dazu: »Du wirst zur Lesbe, wenn du Eishockey spielst.«
»Beim Kunstlaufen komme ich mir vor wie ein Trampel«, widersprach ich. »Ich werde nie super gut darin sein, nicht mal halbwegs gut, und Spaß macht es auch keinen!«
Während meine Eltern weiter versuchten, mich eines Besseren zu belehren, fand ich eine andere Lösung: die Großeltern anrufen. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte Verständnis für meine Chuzpe, und innerhalb weniger Wochen hatte ich eine Eishockeyausrüstung und eine Trainerin. Dieser Sport mit seiner Kombination aus Zielgenauigkeit und Draufgängertum tat mir in der Seele gut, und ich trat der einzigen Mädchenmannschaft in meiner Gegend bei. Wir wurden im Lauf der Zeit ziemlich gut, fuhren zu Spielen sogar an die Ostküste, aber das reichte mir nicht. Als ich kurz darauf in die Highschool kam, hatte in der näheren Umgebung jede Schule eine Eishockeymannschaft – außer meiner. Das war inakzeptabel. Als ich meinen Schulleiter darauf ansprach, meinte er nur, dass nicht ausreichend Interesse bestehe, um eine Mannschaft zu bilden.
»Ich glaube nicht, dass Sie damit recht haben, Mr Marco.«
Er sah mich verständnislos an, zuckte mit den Schultern und entließ mich. Meine Eltern, die mittlerweile von meinem Eifer überzeugt waren, halfen mir dabei, Unterschriften zu sammeln, einen Trainer zu finden und Geld für die Ausrüstung der Schulmannschaft aufzutreiben. Bei so viel Rückhalt konnte der Rektor unmöglich Nein sagen. Der Plan ging auf. Ich spielte in der Highschool drei Jahre lang als einziges Mädchen in einem Jungenteam.
Anstatt mich für die Zeit nach dem College auf ein Praktikum mit Aussicht auf eine geregelte Vollzeitarbeit zu bewerben, beschloss ich, selbst eine kleine Firma zu gründen: einen Wäscherei-/Lagerhaltungsservice für Studenten. Es gab nur ein kleines Problem – ich müsste die Idee schnell umsetzen und ein paar Monate bei den Seminaren und Vorlesungen pausieren, und das ausgerechnet in meinem Abschlussjahr. Wie zu erwarten, bekamen meine Eltern einen Anfall. Zwei Monate lang rief mich meine Mutter mindestens ein Dutzend Mal am Tag an und hielt mir mein drohendes fatales Scheitern vor Augen, während ich meinen Geschäftsplan erstellte.
Obwohl ich wegen der zusätzlichen Arbeit mit einem neu gegründeten Unternehmen offiziell erst ein Semester später meinen Abschluss machen konnte, schaffte ich es durch Verhandlungsgeschick trotzdem, bei der feierlichen Verabschiedung meines Jahrgangs mit dabei zu sein. Nachdem ich mein Diplom in der Hand hatte, drehte meine Mutter ihr Fähnchen und wurde zum größten Cheerleader meines Unternehmens. Wochenweise flog sie nach Chicago, um mir zu helfen – angefangen bei der Mail-Korrespondenz mit Kunden bis dahin, dass sie mir ein dickes, kuscheliges Kissen besorgte, weil ich oft unter dem Schreibtisch...