Wie es sich findet
Die Moiren begleiten die Menschen, weil der Mensch sein Schicksal in sich trägt. Sie sind Gesetz, das über das Leben wacht!
»Das irdische Leben soll wachsen!«, verkündet die jüngste der Schicksalsgöttinnen. »Ich freue mich so sehr auf das neue Kind.«
»Das Ungeborene und seine Mutter bedürfen des unbedingten Schutzes«, spricht die Mittlere. Ihr liegt der Augenblick am Herzen.
»Die Familie bietet den Menschen Heimat«, spricht die Alte, die von der Vergangenheit weiß.
»Auch in den Lebensstürmen hält die Bestimmung Kurs. In der Bitternis des Seins existiert ein unverletzter Kern, der sich in seiner vollkommenen Schönheit entfalten kann. Denn die hohen Götter wachen darüber!«, erklingt es im Chor.
Die Göttin Artemis
Britta und Bernhard verlebten eine ruhige Zeit. Das noch ungeborene Leben wuchs erkennbar, wenn man Brittas Figur betrachtete. Sie spürten, wie sich damit ihre Familie vergrößerte. Gabriel wollte immer wieder den Bauch seiner Mutter streicheln. Es schien, als bereite er sich auf seine neue Rolle als älterer Bruder vor. Er malte viele Bilder vom Mond – Landschaften mit Seen, erhellt in silbernem Licht. Selbst wenn Gabriel Technik und Fertigkeit fehlten, so zeichneten sich seine Gemälde durch eine große Ausdruckskraft aus. Sie schienen ein Geheimnis zu verbergen, das sanft vom Mondlicht berührt wurde.
Eines Nachmittags ruhte Bernhard erschöpft vom Unterricht auf dem Sofa und betrachtete ein Bild, das Gabriel mit viel Liebe gemalt hatte. Kurz zuvor hatte er über die Göttin der Natur, der Jagd und des Mondes, Artemis, die Hüterin der Frauen und Kinder gelesen, und er meinte, ihren Ausdruck im Gemälde zu erkennen. Geheimnisvoll wirkte auf ihn, was sein Sohn mit Wachsstiften in Pastellfarben auf das Papier gebracht hatte: Er erkannte Wald, Vögel, Pfeil und Bogen, einen Jäger und den Mond in seiner silbrig glänzenden Schönheit. Reine Ursprünglichkeit zeigte sich dem Betrachter.
Die Gefühle, im silbernen Mond geboren, wollen uns Menschen auf Geschehen, das wir noch nicht kennen, verweisen, ging es Bernhard durch den Kopf. Wir spüren als unausweichlich, dass etwas auf uns zukommt, und mit Wünschen oder Ängsten belegen wir das Erahnte. Der Mensch fragt: Welchen Ereignissen werde ich begegnen und wohin führt mich mein Schicksal? In unserer Vorstellung können es die schönsten Hoffnungen oder die größten Bedrohungen sein – eine Idee von Vollkommenheit oder Schrecken. Stets ist das Kommende das Ungewisse. Es sind starke Gefühle der Erwartung, die wir spüren – freudige, ängstliche und allzeit unsichere.
Ein lebendig aufregendes Gefühl erfasste Bernhard. Es ist Angst, wenn ich verzage. Es ist Glück, wenn ich mutig bin, sprach er zu sich selbst. Der Verstand kann mir nicht helfen! Ich weiß nicht, was dieses Gefühl bedeutet.
Der silbrige Mond schickt uns Menschen auf große Fahrt. Es ist die wunderbare Reise zu uns selbst, auf der sich zeigen und entfalten darf, was unser Leben ist – mit unendlichen Variationen, Erlebnissen und Erfahrungen; ein steter Übergang, Veränderung, Sterben, Gebären, Aufblühen, Verblühen; ein schicksalhafter Rhythmus.
Wir Menschen werden bei unserer irdischen Entwicklung geleitet. Es ist ein für uns ungewisser Pfad, der sich zeigt. Ein Weg, der zu allen Erfahrungen führt; er fordert, lässt leiden und schenkt Glück. Ihn zu gehen ist unsere Aufgabe! Dann schien es Bernhard, als würde die silbrige Mondkraft zu ihm sprechen.
»Ich bin das Unbekannte und nicht Fassbare. Könnt ihr die Dinge an sich erkennen? Könnt ihr verstehen, was hinter den Erscheinungen steht? Oder bleibt dies für euch allzeit verborgen?
Alles ist Erfahrung und wird auf diese Weise zu eurer Wirklichkeit! Wie könnt ihr das erfassen? Durch euer Erleben mit mir in euch! Dazu diene ich, die Kraft des Mondes, die Göttin des Mondes, als Spiegel. Der nächste Schritt zu neuer Erfahrung kommt stets aus dem zuvor Erlebten. Es ist nie ein beliebiger Schritt. Ihr nennt das Schicksal! Mit dieser Abfolge der Geschehnisse müsst ihr euch abfinden, denn ihr selbst erschafft eure Bestimmung! In der Welt und in den anderen Menschen entdeckt ihr euch und damit euer Eigentliches. Das ermögliche ich, die Mondgöttin. Das bin ich und bei dieser Entdeckung leite ich euch sanft.«
Bernhard fühlte sich zutiefst von der ihn umgebenden Atmosphäre eingenommen. Das sind wunderbare, poetisch vorgetragene Gedanken der Mondkraft, überlegte er. Natürlich gibt es so viel auf der Welt, das uns Menschen verwirrt. Vielen Erscheinungen begegnen wir das erste Mal. Darüber gewinnen wir Erfahrungen und können uns und die Welt erkennen.
Die Göttin Artemis trat aus dem Mondlicht heraus vor das geistige Auge Bernhards.
»Ihr Menschen gehört einer Seele an«, hörte Bernhard in sich die Stimme der Artemis. »Die Seele ist wie das Wasser – ein Tropfen, ein See, ein Bach, ein Fluss, das Meer. Für den Menschen ist sie als Tropfen überschaubar oder als Meer unendlich. Sie kann Tiefe und Größe besitzen oder begrenzte Formen. Ihr könnt die Seele mit euren Händen schöpfen oder in sie eintauchen. Nie besitzt die Seele die Erscheinung, die ihr Menschen vermutet, sondern wie das Wasser kennt sie keine Grenzen.«
In Bernhard entstand das Bild einer vom Mond beleuchteten Seenlandschaft. Er saß vorne in einer Pferdekutsche und befand sich auf dem Weg nach Hause. Ich sitze auf dem Kutschbock und kann die Pferde lenken, sprach er zu sich. Allein, wie ist das, wenn ich den Weg nach Hause nicht kenne?
»Dann lass die Pferde laufen. Sie finden den Weg«, vernahm er als Antwort. »Sei aufmerksam, damit kein Unfall geschieht. Du sollst dort lenken, wo du den Weg kennst. Den Weg, den die silberne Mondkraft weist, den kennst du noch nicht. Deshalb hab Vertrauen. Die Pferde wissen, wo sich ihr Stall befindet.«
Bernhard dachte an seine schwangere Frau. Kann sie die Geburt des Kindes lenken?, fragte er sich. Nein, das muss sie anderen Kräften überlassen.
Bernhard betrachtete die vom Mondlicht beschienene Göttin Artemis. Sie erschien ihm in kräftiger Gestalt mit einem silbernen Bogen in Form der Sichel eines Halbmonds in der Hand.
»Schau auf die Schönheit der Natur«, sprach sie. »Wie diese besitze ich viele Gesichter und bleibe euch Menschen Geheimnis. Die Männer liebe ich in ihrer Stärke und Schönheit und zugleich halte ich sie mir fern.«
Bernhard nahm die kraftvolle Göttin fasziniert wahr. Sein Körper spannte sich an.
»Respektiere mich«, wandte sich Artemis direkt an Bernhard. »Respektiere die Natur, sonst musst du sterben!« Ein feines Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht. Es gab ihr einen überlegenen Ausdruck.
»Mein Zwillingsbruder Apollon schenkt euch Gesang und Dichtkunst, Musik und Weissagung, Heilung und Licht. Er ist milde und rein. Ich, Artemis, vertrete die Rechte der Natur, auch von euch Menschen, da ihr Teil von ihr seid. Erzürnt mich nicht durch Missachtung.«
Bernhard hörte mit großem Respekt auf die Worte der Göttin.
»Tut mir, den Frauen und Kindern kein Leid an. Seid gewarnt! Meine Pfeile finden ihr Ziel! Ihr Männer, die ihr den Frauen Schmerzen bereitet – ich nehme Rache an euch. Durch euch Männer erfahren die Frauen den Schmerz der Geburt. Euer Samen macht das Weibliche zum Träger neuen Lebens und bindet die Frau in Abhängigkeit, dem zu dienen.«
Tief entschlossen blickte Artemis. Dann wurde ihr Ausdruck milder. »Stelle dich dem Schicksal zur Verfügung. Diene dem Weiblichen!«
»Ein wenig Bitterkeit spricht aus dir«, wandte sich Bernhard an Artemis – leicht erschrocken über ihre zum Teil harschen, den Männern drohenden Worten.
»Das Weibliche ist oft eingesperrt und zur Abhängigkeit verurteilt. Ist das gerecht? Nicht selten fehlt die Achtung! Die Frau soll Kinder gebären, sie versorgen und sich völlig für die Familie hingeben. Es ist bitter, wenn dann alle Hingabe und Liebe nichts fruchten, sondern Aussichtslosigkeit für alle Zeit besteht. Dies kennen die Frauen nur zu gut. Das ist ein bitterer Weg, denn wie viel Hoffnung, wie viele Wünsche, wie viel Verlangen wurden an das Außen gerichtet. Trotzdem führt der Pfad weg von der Erfüllung. Es fehlen Kraft, Freude und Lust. Die Gefühle sind eingeschränkt und dringen nicht nach außen: Schweigen, Rückzug, Anhalten, Verweilen. Die Natur will sich nicht einsperren lassen durch die Regentschaft der Menschen – die Frau will sich nicht durch Herrschaft begrenzen lassen. Das Weibliche trägt eine tiefe Wunde!«
Die Göttin war nun aus dem Mondlicht herausgetreten. In ihrer linken Hand hielt sie einen Busch Wermutkraut. Dunkler Wald umgab die Gottheit und wie eine Schamanin, die die Geister...