Versucht man die Arbeit der Weltbank bei der Armutsbekämpfung zu analysieren, so muss vorher festgehalten werden, um was es sich bei Armut eigentlich handelt und wo diese anzutreffen ist. Daher versucht Abschnitt 2.1 eine Definition des Begriffes zu geben, während sich die folgenden Abschnitte mit der Entwicklung der Armut in den Jahren nach 1945 beschäftigen.
Der Begriff der Armut ist heute so weit gebräuchlich und dabei so vielschichtig, dass eine nähere Betrachtung notwendig ist. Als erste Unterscheidungsebene bietet sich dabei die Einteilung in absolute und relative Armut an (Vgl. Hanesch 2002: 19-51).
Unter absoluter Armut versteht man im Allgemeinen, dass ein Individuum auf Grund materieller und immaterieller Mangelerscheinungen in einer gegebenen Gesellschaft kein menschenwürdiges Leben führen kann. Darüber hinaus kann absolute Armut ein weiteres Mal unterschieden werden in absolute Armut im engeren Sinne und absolute Armut im weiteren Sinne (Vgl. Sautter/Serries 1993: 9f). In ersterem Fall ist die physische Existenz akut gefährdet, etwa durch die unzureichende Versorgung mit Energie in Form von Kalorien oder in Form von Wärme. Im zweiten Fall bezieht sich der Armutsbegriff auf einen Warenkorb notwendiger Güter und Dienste, mit dem ein soziokultureller Mindeststandard[2] erreicht werden kann (Vgl. Hanesch 2002: 50).
Die Form der relativen Armut hingegen bezieht explizit andere Individuen mit ein, indem die Wohlstandsposition des Einzelnen in ein Verhältnis gesetzt wird zum gesellschaftlichen Durchschnitt (Vgl. Sautter/Serries 1993: 10). So ist es zu erklären, dass Armut in einem Industriestaat, beispielsweise das Angewiesensein auf den Bezug von Sozialhilfe in der Bundesrepublik, materiell einen anderen Status beschreibt als die Versorgung eines relativ armen Bürgers in einem Transformationsland. Das Konzept der absoluten Armut (im engeren Sinne) hingegen ist über geographische und zeitliche Grenzen hinweg als konstant anzusehen.
Den Begriff der Armut jedoch nur auf die ökonomische Versorgung der Bevölkerung zu beschränken greift zu kurz, auch wenn dies die gebräuchlichste und zugleich am einfachsten zu messende Methode darstellt. Praktisch wird dies beispielsweise mit Hilfe der sog. Armutsgrenze getan, bei der als arm gilt, wem weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung steht (Vgl. Mankiw 2001: 460). Weitere Dimensionen, die 2001 von einer vom Development Aid Committee (DAC)[3] organisierten Gebergemeinschaft erarbeitet wurden, sind eine sicherheitsbezogene (Sicherheit, Verletzlichkeit), eine politische (Rechte, Einfluss, Freiheit), eine menschliche (Gesundheit, Bildung, Ernährung) und eine soziokulturelle Dimension (Ansehen, Würde). All diese Dimensionen stehen untereinander in enger Wechselbeziehung und sind keinesfalls isoliert zu betrachten. So wirkt sich beispielsweise Bildung positiv auf das Einkommen aus, was seinerseits positiv mit Größen wie einer gesunden Ernährung, Ansehen und meist auch Einfluss korreliert (Vgl. Durth, Körner, Michaelowa 2002: 10). Über die hier genannten Dimensionen hinaus wird derzeit immer wieder die Nachhaltigkeit[4] thematisiert (so bspw. im WDR 2003 „Sustainable Deveploment in a Dynamic World“, vgl. Weltbank 2003a).
Betrachtet man die Entwicklung der Armut im Laufe des 20. Jahrhunderts, so kann man das Jahr 1945 als Zäsur bestimmen. Mit der Beendigung des zweiten Weltkrieges kam es zur bereits angesprochenen Bildung dreier Blöcke, wobei sich der dritte Block (bzw. die Dritte Welt) als Residualgröße betrachten lässt. Auf dieser Basis ist die Entwicklung der Armut in drei mehr oder minder getrennten Bereichen zu analysieren[5].
Das erste Augenmerk soll dabei auf den kapitalistisch geprägten Block im Umfeld der USA fallen. Hier stand der Wiederaufbau Europas von den Verwüstungen des zweiten Weltkrieges an erster Stelle. Zu diesem Zweck wurden ab 1947 Mittel aus dem sog. Marshall Plan eingesetzt, um Westeuropa mit Kapital zu versorgen. Eine Beteiligung der sowjetisch besetzten Staaten stand diesen zwar theoretisch offen, wurde durch die UdSSR jedoch unterbunden. Den im Wiederaufbau befindlichen westeuropäischen Staaten kam in dieser Zeit zu Gute, dass die US-Wirtschaft durch den einsetzenden Koreakrieg (Kriegsbeginn 25.06.1950) nur eingeschränkt zur Produktion von Zivilgütern zurückkehrte. In dieser Situation kam es in Europa und Nordamerika in der Nachkriegszeit zu einem Wirtschaftswachstum, das die Möglichkeit eröffnete, die Armut zu besiegen. So halbierte sich in den Nachkriegsjahren bspw. der Anteil der US-Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze bis 1965 (Vgl. Samuelson/Nordhaus 1998: 431). Die Einführung bzw. der Ausbau von Sozialversicherungen taten ein Übriges, um den sozialen Absturz, wie er noch in den 1930er Jahren möglich war, zu vermeiden[6].
Betrachtet man die Lage in der Zweiten Welt dagegen, so fällt als erstes die dürftige Verfügbarkeit seriöser Daten auf – der eiserne Vorhang wirkte auch in dieser Hinsicht. Doch es lässt sich festhalten, dass die Versorgungslage in den kommunistisch geprägten Staaten als ausreichend einzuschätzen ist. Dies gilt jedoch nur im Bereich der materiellen Versorgung. Andere Dimensionen, wie Freiheitsrechte u. ä. waren teils auf das Äußerste eingeschränkt. Weiterhin ist festzuhalten, dass im Bereich des Konsums, insbesondere bei Luxusgütern, große Defizite gegenwärtig waren. Zentrale Planungssysteme dienten vornehmlich dem Aufbau der Großindustrie; Konsumgüter wurden als nachrangig betrachtet. Als größte Verdienste dagegen konnte neben einem ausgebauten Gesundheitssystem das Schulsystem gelten. So herrscht in den ehemals sowjetisch geprägten Staaten noch heute eine beinahe vollständige Alphabetisierung (Vgl. UNDP 2003: 200-202).
Die Dritte Welt hingegen hatte von Beginn an in weiten Teilen mit den Folgen der Dekolonisation (mit Ausnahme Lateinamerikas), wie kriegerischen Auseinandersetzungen, politischer Instabilität u. ä. zu kämpfen. Auf dieser Basis ist es nicht verwunderlich, dass Armut und vor allem Hunger in diesen Ländern nicht nachhaltig bekämpft werden konnten. Positive Ausnahmen stellen die Länder Ostasiens dar, die ab den 1960er Jahren dauerhaftes Wachstum verzeichnen konnten. In Südasien hingegen, wie auch im Afrika südlich der Sahara[7], konnte die durchschnittliche Versorgung mit Kalorien zwischen 1965 und 1985 nur marginal verbessert werden (Vgl. Globale Trends 1991: 65f). Gerade die 1980er Jahre wurden in diesem Zusammenhang oftmals als das „verlorene Jahrzehnt“ für weite Teile der Dritten Welt bezeichnet, in dem anfängliche Erfolge zunichte gemacht wurden (Vgl. Böhler 2003: 18).
Allein mit der Analyse der Verteilung eines so komplexen Phänomens wie der weltweiten Armut, könnte man mehrere Arbeiten dieses Umfangs zu füllen. Daher muss und soll sich der folgende Abschnitt auf wenige, ausgewählte Größen konzentrieren, die helfen, den Umfang einzuschätzen. Die Angaben verzichten dabei explizit auf Vollständigkeit.
In den entwickelten Staaten lässt sich in den letzten 15 Jahren eine erneute Zunahme der Armut und Ungleichheit feststellen. Gründe dafür finden sich vor allem in niedrigen Wachstumsraten, die von einem Abbau sozialstaatlicher Leistungen flankiert werden. Weitere Stichworte sind die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (Vgl. Kress 1998: 499f), dauerhafte Erwerbslosigkeit und das Phänomen der „working poor“[8]. So gehen Schätzungen davon aus, dass in den westlichen Industrieländern mittlerweile wieder neun Millionen Menschen hungern (Vgl. Deutsche Welthungerhilfe 2006: 23). Besonders gefährdet von Armut in den OECD Staaten sind dabei Alleinerziehende, Frauen und Kinder, so dass man von Scheidung als Armutsrisiko sprechen kann (Vgl. Andreß/Güllner 2001: 169-197).
Eine ähnliche, wenn auch ungleich dramatischere Lage findet sich derzeit im ehemaligen Ostblock. In Folge der Wirren der 1990er Jahre hat die Ungleichheit dort in erschreckendem Maße zugenommen[9]. So zählt alleine Moskau nach seriösen Schätzungen etwa 30 Milliardäre. Doch die Kolonnen deutscher Luxuslimousinen verdecken kaum die geschätzten 28 Millionen, die derzeit in den Transformationsländern hungern müssen (Vgl. Deutsche Welthungerhilfe 2006: 23). Zu den ökonomischen Missständen addiert in vielen Fällen die Armut in den anderen Dimensionen wie die der persönlichen Freiheit. Positive Gegenbeispiele finden sich hier jedoch in den neuen EU-Mitgliedsstaaten (Erweiterungsrunden 2004 und 2007).
So unbefriedigend diese Erkenntnisse sind, so darf nicht vergessen werden, dass der überwiegende Teil der weltweiten Armut sich auf die Entwicklungsländer konzentriert. Wenige Zahlen können dies illustrieren: So ist die Lebenserwartung in den Entwicklungsländern um ca. 12 Jahre geringer und das Bruttosozialprodukt (KKP) pro Kopf war in den Industriestaaten 2004 beinahe sechsmal so hoch. Während in den Industriestaaten praktisch 100% der Bevölkerung...