Das Wildern im Spiegel der Zeit
DIE WILDERER KANNTEN NUR EINEN HERRN –
DIE MIT IHREN GEWALTEN UND SCHRECKNISSEN SIE
ZÄHMENDE NATUR.
SIE KANNTEN NUR EINEN FREUND –
IHREN KUGELSTUTZEN.
SIE KANNTEN NUR EINEN FEIND – DEN JÄGER.
PETER ROSEGGER
Eswar ein kalter Morgen, leichte Nebelschwaden lagen noch über dem Tal. Der Wald lag so still vor mir, daß ich meinen eigenen Atem hören konnte. Ich blieb stehen und versuchte mich im Dickicht der Sträucher und Bäume zurechtzufinden. Und tatsächlich, ich hatte die richtige Stelle wieder gefunden. Vor einigen Tagen schon hatte ich an der Lichtung vor mir einen prächtigen Zwölfender gesehen. Ich wußte, daß der Aufsichts-Jäger auf dieses Tier besonders achtete, aber um so größer war für mich der Reiz, den kapitalen Hirsch zu erlegen. Im Wald war ich immer alleine unterwegs, die Gefahr, von einem zweiten als Wilderer verraten zu werden, war einfach zu groß. Plötzlich tauchte das imposante Tier vor mir auf. Ich war ihm so nah, daß ich meinte, es würde mich sofort wittern und sein Heil in der Flucht suchen. Meine Anspannung war groß, ich wagte kaum noch zu atmen. Automatisch brachte ich mein Gewehr in Anschlag, nahm das Wild ins Visier und drückte ab. Ich hatte perfekt gezielt, tödlich getroffen brach der Hirsch zusammen. Nun hieß es warten, war mein Schuß gehört worden? Die Minuten des Wartens kamen mir wie Stunden vor. Ganz langsam nur, so schien es mir zumindest, bewegten sich die Zeiger meiner Uhr weiter. Weit und breit war nichts Verdächtiges zu hören oder zu sehen. Vorsichtig näherte ich mich meiner Beute. Ich beeilte mich, mein Jagdmesser aus dem Rucksack zu holen, um dem Tier das Haupt abzuschneiden. Ein Ritual, bei dem mir jedes Mal die Knie schlotterten. Wenn mich jetzt jemand entdecken würde, hätte ich keine Chance zu leugnen. Plötzlich knackte es hinter mir, erschrocken drehte ich mich um und … beinahe blieb mir vor Angst das Herz stehen. Ein kleines Kaninchen war vor Schreck wie erstarrt, und ich weiß nicht, wer sich in diesem Moment mehr gefürchtet hat. Als ich schallend zu lachen begann, lief das kleine Tier, wild Hacken schlagend, davon.
So schilderte uns ein Tiroler Wilderer, der verständlicherweise ungenannt bleiben möchte, eines seiner Erlebnisse beim illegalen Jagen und seine Gefühle beim Wildern. Eine Geschichte von vielen? Oh ja, auch wenn man von Jäger-Seite meist hört, daß gar nicht so viel gewildert wird. Meist käme es nur alle paar Jahre zu illegalen Abschüssen, aber, wird dann eingeschränkt, im Wald wäre es eben auch schwierig, immer den Überblick zu behalten. Von der anderen Seite hört man natürlich genau das Gegenteil. Natürlich wird nach wie vor gewildert. In Tirol etwa gilt für Schwarzschützen das Motto – „Ich lebe, also wildere ich“ – und in Gosau (Oberösterreich), einer Gegend, wo es gehäuft zu Wilddiebstählen kommt, gilt ein Bursche ab 16 Jahren ohnedies erst als Mann, wenn er selbst einmal gewildert hat.
Die Geschichte des Wilderns
Das Jagen wird seit Menschengedenken zum Zwecke der Selbsterhaltung betrieben. Und solange es Wild gibt, wird in den Wäldern und Bergen weiterhin gejagt werden. Aber nicht nur offizielle Jäger sind im grünen Tann unterwegs. Seit der Beschneidung des uralten Volksrechtes der freien Jagdausübung im Frühmittelalter wird ebenso fleißig gewildert. Die Wildschützen vergangener Tage waren verwegene Burschen, die gegen die gesellschaftliche und soziale Unterdrückung rebellierten. Sie nahmen einfach das Recht in Anspruch, sich zu holen, was die Natur für alle bereithielt.
Einst war es sogar üblich, die Tradition des Wilderns innerhalb einer Familie, von Generation zu Generation, weiterzugegeben. Es schien beinahe so, als verfügten vorwiegend die männlichen Mitglieder einer Familie über genetische Erbinformationen, die sie zu geborenen Schützen machten.
Das Wildern im Blut
Über fünf Generationen läßt sich auch die Familienchronik unseres Vorwortverfassers Karl Auer, und somit die Leidenschaft für die Wilderei, zurückverfolgen.
Bekannt ist soweit, daß ein Auer aus dem rumänischen Siebenbürgen nach Rottenmann in der Obersteiermark auswanderte. Heute noch leben in Siebenbürgen Nachkommen gebürtiger Obersteirer (vor allem aus dem Ausseerland), die zu Zeiten der Protestantenverfolgung Österreich verlassen mußten. Einige von ihren Nachkommen kehrten in die Heimat ihrer Väter zurück, so wie in diesem Fall der Großvater von Johann Auer, der als Nebenerwerbsbauer und Arbeiter in Strechau, unterhalb der gleichnamigen Burg, von 1880 bis 1969 lebte. Ob Johann Auer selbst, wie sein Vater und Großvater, ein Wilderer war, ist nicht bekannt. Wenn doch, dann war er es wie seine Vorgänger nicht aus purer Leidenschaft, sondern vielmehr aus reinem Überlebensdrang. Sein Sohn Siegfried Auer (1921–1974) und dessen unehelicher Sohn Siegfried, der beim Fensterln gezeugt wurde, waren aber aus Lust und Leidenschaft als Schwarzschützen unterwegs. Siegfried Auer sen. sorgte als erfahrener Wildschütz im Zweiten Weltkrieg dafür, daß seine abgeschnittene Kompanie an der Front nicht verhungerte. Statt sich auf den Feind einzuschießen, konzentrierte er sich lieber auf das Wild. Manchmal mußten auch die Hühner oder Ziegen der ansässigen Bauern daran glauben.
Sohn Siegfried, ein fleißiger LKW-Fahrer, lebte im Haus seines Großvaters, einem alten, heruntergekommenen Bauernhaus, das in den sechziger Jahren noch immer keinen Stromanschluß besaß. Siegfried jun. ging leise und unauffällig auf die Jagd. Mit seinem Schäferhund und einer kleinen, kaum 25 Zentimeter langen Armbrust war er im Wald unterwegs, das Wild starb lautlos. Wie es Tradition war, wußten nur die männlichen Familienmitglieder von der Wilderei, und die Leidenschaft für das illegale Jagen verbreitete sich bis in die weitverzweigte Verwandtschaft und deren Nachkommen.
Ein entfernter Verwandter der Familie aus einem Nachbarort von Liezen, erfolgreicher Gast- und Landwirt, verband die Leidenschaft fürs Wildern mit dem Geschäftlichen. Er wilderte erwerbsmäßig derart viel, daß es ihm zwei Jahre bedingte Haftstrafe und eine Geldstrafe von umgerechnet 10.000,- Euro einbrachte. Seine Art, Wild zu erlegen, galt aber selbst unter Wilderern als unehrenhaft. Er schoß im Scheinwerferlicht seines Autos, vom Fahrersitz aus, das Wild. Unterstützt wurde er durch seinen Komplizen, einen Fleischer aus dem Bezirk, der das illegal erlegte Wildbret gewinnbringend an den Mann brachte. Das Jagdgebiet war die Gegend um Lassing, Oppenberg und die Burg Strechau.
Pikanterie am Rande: Der Ort Rottenmann liegt ganz in der Nähe des Gebirgsortes Oppenberg, einer 300 Seelen-Gemeinde, die in den siebziger Jahren in die Schlagzeilen geriet, weil der deutsche Milliardär Friedrich Karl Flick im Seitental der Strechen sein Sommerhaus und Jagdrevier hat. Dem leidenschaftlichen Jäger Flick war nämlich die Rote Armee Fraktion und die Bader-Meinhof-Bande bereits in Vorarlberg auf den Fersen. Es gab konkrete Pläne und Aufzeichnungen, Flick zu entführen. Daraufhin baute der Milliardär sein Jagdhaus in der abgeschiedenen und dünn besiedelten Gegend bei Oppenberg. Der Hochsicherheitstrakt des Jagddomizils, 1978 um 600 Millionen Schilling (!) errichtet, war wohl zu jener Zeit das bestgesicherte Objekt in Österreich und dient seither als Hauptwohnsitz und Bunker für den milliardenschweren Industriellen. Prominente Politiker wie Franz-Josef Strauß oder der spätere Kanzler Kohl zählten ebenso zu den Gästen des Milliardärs wie hochrangige Wirtschaftstreibende und bekannte Schauspieler. Die Zusammenarbeit der Jäger der Forstverwaltung, der Staatspolizei sowie des Bundeskriminalamts in Sachen Terroristen funktionierte großartig. Was den wachsamen Augen aber entging, war die „Arbeit“ der mittlerweile verstorbenen Familienmitglieder der Auers. Klammheimlich und leise wilderten sie im Revier des superreichen Deutschen, ohne jemals erwischt zu werden.
Johann Auer, Enkel von Johann und der älteste von den insgesamt sechs Söhnen Siegfried Auers, (zwei starben sehr früh), war bereits im Kindesalter mit seinem Vater auf der Jagd. Beim Fischen in der Palten und im Strechen-Bach durfte Hans Schmiere stehen. Als Hirterbub in der Strechen versuchte er sich später selbst in Sachen Wildern. Ausgestattet mit einem Jagdmesser, welches er an der Palten ausgegraben hatte, lauerte er dem Jagdeigentum des Milliardärs Flick in der Strechen auf.
Den ganzen Sommer alleine auf der Alm, packte Hans die Jagdleidenschaft derart, daß er sich mit bloßen Händen an das Wild machte. „Ich war ständig auf der Lauer. Eines Tages war ich einem Reh ganz nah, nur wenige Schritte entfernt zückte ich das...