Einführung
„Frau, komm!“ lautete Ende 1944/Anfang 1945 der unmissverständliche und keinen Widerspruch duldende Befehl russischer Soldaten an diejenigen von ihnen gewollten deutschen Frauen und Mädchen, denen damit Vergewaltigung bevorstand. Die Formulierung „denen damit Vergewaltigung bevorstand“, nicht: „eine Vergewaltigung bevorstand“, ist hier bewusst gewählt; denn in ungezählten Fällen wurden die Frauen und Mädchen beim Einmarsch der sowjetischen Truppen nicht von einem russischen Soldaten einmal, sondern mehrmals vergewaltigt und in ungezählten Fällen nicht nur von einem Soldaten, sondern von mehreren. Eine Flüchtlingsfrau aus Danzig schildert in ihrem Erlebnisbericht über die Einnahme Danzigs durch die Rote Armee den Exodus von Flüchtlingen nach Langfuhr so:
Wenn wir aber dachten, etwas Ruhe zu finden, so irrten wir uns. In Gruppen von fünf bis sechs Russen kamen die Soldaten und nahmen uns unser bißchen Essen und was ihnen sonst noch gefiel, und dann hieß es wieder: „Frau komm!“ Wer nicht gleich mitging, wurde grausam geschlagen und letzten Endes doch gezwungen mitzugehen, meistens im Treppenflur oder auf der Treppe oder auch in den oberen zerstörten Stockwerken wurden die Frauen mißbraucht, tierisch die Brüste zerbissen und furchtbar gequält, gleich immer von vielen hintereinander.1
„Am Sonntagmorgen Fortsetzung von Plünderung und Vergewaltigung. ‚Frau, komm!‘ – wer nicht Folge leistete, wurde erschossen“ – so beschreibt ein Pfarrer aus Lauenburg in Pommern die Besetzung dieser Stadt.2 Uhren und Frauen waren Objekte unaufhörlichen Verlangens. Einem neunjährigen Mädchen prägten sich beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in einen Vorort von Berlin die Rufe „Uri, Uri! Frau, komm!“ als die häufigsten aus russischem Mund gehörten Worte ein.3 Das Aufstöbern einer sich in einem Dorf bei Neustrelitz in Pommern versteckt haltenden Gruppe von Flüchtlingen und die daraufhin erfolgte Vergewaltigung einer jungen Frau nahm ein damals zehnjähriges Mädchen so wahr:
In der Türöffnung stand der erste Russe. Alle schwiegen und harrten der Dinge, die jetzt passieren würden. Es begann damit, dass er erstmal seine Soldatenmütze abnahm und die oberen Knöpfe seiner Uniform öffnete. Dann schrie er laut in den Raum: „Frau, komm’ her“, und als sich niemand in der Runde erhob, schrie er fast kreischend: „Sofort Frau, komm, dawei!“ Die anwesenden Frauen versuchten, sich ängstlich weiter in die Ecke zu drücken, um sich hinter irgendwelchen Gegenständen in Sicherheit zu bringen. Damit war der Soldat keineswegs einverstanden und schnappte sich die ihm am nächsten sitzende Frau und schleppte sie in eine leere Bettstelle. Jetzt warf er sich über sie und es geschah das, wie alle um mich herum raunten, sie wurde vergewaltigt …4
Über Vergewaltigungen in einer Kirche in Lichtenhagen bei Königsberg ist zu lesen:
Überall waren huschende Gestalten zu sehen, Taschenlampen blitzten auf, „Frau, komm mit“, ertönte es immer wieder. Frauen wurden gewaltsam aus den Bänken gezerrt und ins Dunkel verschleppt, auf den Chor oder auf den Glockenturm. Und alles spielte sich gespenstisch leise ab, niemand wagte laut zu schreien … wir wagten kaum zu flüstern, um niemand auf uns aufmerksam zu machen … Das Grauen schlich auf lautlosen Sohlen durch die Kirche …, immer wieder hörte ich ein barsches „Komm mit!“.5
Der russische Schriftsteller Anatoli Streljanyi zitiert aus einem Gespräch mit einem anderen russischen Schriftsteller, der im Krieg in Deutschland war:
Ich erinnere mich jetzt auch oft daran. „Frau, komm!“ bedeutete, sich am Feind zu rächen. Abends erzählten wir uns: Ich habe mich heute dreimal gerächt, und du?6
Der Befehl „Frau, komm!“ führte bei den so angesprochenen Frauen und Mädchen zu Angst und Schrecken. Die Journalistin Margret Boveri (Tochter eines Deutschen und einer US-Amerikanerin) erinnert sich an 1945 in Berlin mit dem Satz: „, Frau, komm mit‘ – ein Schlachtruf, der uns alle erbeben macht …“7 In Christian Krockows „Die Stunde der Frauen“, einem Bericht aus Pommern, ist zu lesen:
Deutsche Frauen und Mädchen als „Freiwild“ für Rotarmisten: „missbraucht“, „gequält“ und „zutiefst gedemütigt“ (Ingeborg Grabow)
Die Männer, die nun ins Zimmer drängen, schauen kurz in die Runde. Dann weist einer auf Marie: „Frau, komm!“ Sie kreischt auf, schlägt die Hände vors Gesicht. Vergebens. Schon wird sie hochgerissen, schon hinausgezerrt. Und gewiß nicht nur Marie ist betroffen. Das Schreien von Frauen gellt vielstimmig durchs Haus. Wie lange wohl? Irgendwann wird dieses Schreien schwächer, dann stumm. Irgendwann taumelt Marie ins Zimmer zurück; die Kleider hängen ihr in Fetzen vom Leib.8
Eine Frau aus Potsdam, die mit ansehen musste, wie ein betrunkener russischer Soldat eine Wöchnerin packte, schreibt in ihrem Tagebuch noch einige Zeit nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen: „‚Frau, komm mit!‘ Dieses grauenhafte Wort, vor dem sich noch heute jeder entsetzt.“9 Das „Frau, komm!“ hat sich tief in die Erinnerung der Betroffenen an die schlimmen Geschehnisse jener Zeit eingegraben. Die im Januar 1945 als 15-Jährige in einem Dorf in Westpreußen von russischen Soldaten mehrere Male vergewaltigte Gabi Köpp spricht deshalb das aus, was vermutlich alle ihre Leidensgenossinnen noch heute empfinden: „Und die herausgestoßenen gierigen Befehle ‚Frau, Frau – jung’ Frau, dawai‘ (was „komm“ heißt) werde ich nie vergessen.“10
Hinsichtlich der Zahl der 1944/45 von sowjetischen Soldaten vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen11 sind zwar weder in Deutschland noch (man muss dazu sagen: erst recht nicht) in der damaligen Sowjetunion statistische Erhebungen durchgeführt worden. Es gibt jedoch aufgrund von Hochrechnungen verlässliche Schätzungen. Die niedrigste besagt, dass insgesamt ca. 1,4 Millionen deutsche Frauen und Mädchen von russischen Soldaten vergewaltigt wurden.12 Eine andere Zahlenangabe nennt ebenfalls 1,4 Millionen, dies aber nur für die Gebiete jenseits von Oder und Neiße, und zusätzlich 500.000 im Gebiet der späteren sowjetischen Besatzungszone, zusammen also 1,9 Millionen.13 Wieder eine andere Zahl geht von insgesamt 2 Millionen Vergewaltigten aus.14
Jedoch kann es letztlich dahingestellt bleiben, ob „nur“ 1,4 oder 1,9 oder 2 Millionen Frauen und Mädchen 1944/45 von russischen Soldaten vergewaltigt worden sind. Schon jede Zahl über Hunderttausend oder gar über einer Million ist, da es sich ja hier stets um Einzelschicksale handelt, unvorstellbar hoch. Zwar sind auch in früheren Kriegen Frauen oft Opfer von sexueller Gewalt fremder Soldaten geworden. Aus neuerer Zeit sind z. B. die Vergewaltigungen chinesischer Frauen durch japanische Soldaten in Nanking 1937 zu erwähnen; die Vergewaltigung von Frauen in den besetzten Gebieten im Zweiten Weltkrieg durch deutsche Soldaten auf der einen Seite und durch französische und amerikanische Soldaten auf der anderen Seite15; die Vergewaltigung muslimischer Frauen durch serbische Soldaten im Bosnien-Krieg (hier mit der Besonderheit ethnischer „Säuberung“) und Vergewaltigungen in verschiedenen Bürgerkriegen in Afrika. Alle diese genannten Beispiele (weitere könnten noch hinzugefügt werden) sind schlimme Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen. Aber nie zuvor sind in einem einzigen Land und innerhalb eines so kurzen Zeitraumes so viele Frauen und Mädchen von fremden Soldaten missbraucht worden wie 1944/45 nach dem Einmarsch der Roten Armee in Deutschland. So gesehen waren die Massenvergewaltigungen16 deutscher Frauen und Mädchen schon vom zahlenmäßigen Ausmaß her gesehen beispiellos. Erschreckend war auch die Brutalität, mit der die Frauen und Mädchen missbraucht worden sind. Viele der Opfer wurden, wie bereits erwähnt, nicht ein Mal, sondern mehrere Male und nicht von einem, sondern von mehreren Soldaten vergewaltigt. Kinder und Greisinnen wurden nicht geschont. Beten und Bitten, Flehen und Weinen halfen nicht. Widerstand war zwecklos: Ehemänner, die ihre Frauen schützen wollten, Väter und Mütter, die sich vor ihre Töchter stellten, wurden kurzerhand erschossen. Nicht selten erfolgten die Vergewaltigungen vor den Augen der Angehörigen.
Man hätte annehmen können, dass das Ausmaß der Leiden der Opfer und das Ausmaß der Verbrechen der Täter zu einer besonders intensiven Befassung mit den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen...