Jelena und der Schimmel
Jelena, die Kleinmagd, wusch sich an der Wasserpumpe. Es war Winter. Es war kalt, und das Fenster seiner Dachkammer, durch das Loisl hinunter auf die Pumpe in der Hofecke schielte, beschlug sich sofort von seinem raschen, heißen Atem. Jelena war es gewohnt, sich auch bei Frost im Freien zu waschen. Sie war es gewohnt, im Winter einen Tiegel heißes Wasser vom Herd oben in die Pumpe zu schütten. Das brachte das Eis in der Pumpenröhre zum Schmelzen, der Schwengel ließ sich bewegen. Bei jedem Auf und Ab gab die Pumpe zuerst ein hohes, langgezogenes Ächzen von sich, das fast so klang wie das Stöhnen eines brünftigen Esels. Dann zog die Pumpe das Wasser aus der frostfreien Tiefe hoch. Eiskalt, aber kein Eis.
Jelena hatte ihr Unterhemd aufgeknöpft und bis zu den breiten Hüften heruntergestreift. Sie wusch sich wie immer vom Wohnhaus abgewandt. Von seinem Ausguck sah Alois den weißen Rücken der Magd, fast so weiß wie der Schnee auf den Schindeldächern. Doch manchmal, wenn Jelena sich mit dem Waschlappen unter den Achseln einseifte, drehte sie sich erschauernd leicht nach rechts oder links. Und wenn sie sich nach links drehte, sah der Loisl für einen Moment ihre großen, hellen Brüste wie eine jähe Verheißung und er musste seine Oberschenkel zusammenpressen.
Er war sechzehn, mittelgroß, kräftig, mit ein paar Pickeln rund um die Nase. Er hatte reiten gelernt. Sein Vater hatte ihm einen schönen Schimmel mit schlanken Fesseln gekauft zu einem Spottpreis. Mehr oder weniger eine Draufgabe zu den vier schweren Rössern für die Holzfuhrwerke, die er teuer genug bezahlen musste. Da konnte der Pferdehändler leicht großzügig sein. »Ja, Bub, wenn du unbedingt ein Pferd willst, ob wir da eins mehr durchfüttern oder nicht, macht keinen Unterschied. Aber du kümmerst dich darum. Und wehe, du schlägst es!« Vater war stolz, dass der Loisl aus dem Gymnasium in Prachatitz gute Noten nach Hause brachte. Da gab er dem Drängen seines Sohnes gern nach, es sei doch besser, eine halbe Stunde in die Schule zu reiten, anstatt eine Stunde zu laufen.
Als Alois eines Morgens gegen acht zum ersten Mal vorritt am schönen neuen Gymnasium von Prachatitz und dann vor dem Schultor ein wenig steif und linkisch herunterkam vom hohem Ross, rissen seine Mitschüler aus der Stadt die Augen auf. Ein paar Unterklässler brachen in mehr oder minder geglückte Imitationen von lautem Wiehern aus. Die Lehrer, die sich Professoren nannten, reckten die Hälse aus den Stehkragen und nahmen die Kneifer ab: Ich glaube, ich seh’ nicht recht! Wo war der Herr Direktor?
Der Herr Direktor bog um die Ecke, gerade als die Schulglocke zum ersten Mal läutete und Alois nicht wusste, wohin mit dem Pferd. Er musste jetzt hinein zu Homer, zu Pythagoras und hatte noch immer den Zügel seines Schimmels in der Hand. Der Direktor kam immer näher, mit ihm der bedrohliche Ernst des Pennälerlebens. Der Direktor schaute so verdutzt wie streng und versuchte sich zu erinnern, ob das Vorreiten laut Gymnasialordnung verboten war. Unerhört war es auf jeden Fall. »Guten Morgen, Herr Direktor«, sagte Alois mit gebotener Reverenz , doch bänglich. Denn er wusste, mit einem Pferd am Zügel würde der Gruß nicht reichen, um den Direktor ohne besondere Vorkommnisse an sich vorbeigehen zu lassen.
Er musste den Schimmel loswerden, schnell. Und dann nichts wie rein. Und so packte er den Zügel, schaute nach einem festen Halt aus und fand ihn im kunstvoll geschmiedeten Schultor. Mit fliegenden Händen machte er die Lederriemen ausgerechnet um die Taille der Athene fest, die als schmiedeeiserne Göttin der Weisheit und des Kampfes das Eingangstor zum Prachatitzer Bildungstempel zierte. Dann rannte er in Panik nach drinnen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Innen angekommen, setzte sich der Loisl auf seinen Platz, klappte automatisch sein Geometriebuch auf, erhob sich mit den anderen, als der Mathelehrer eintrat – »Guten Morgen, Herr Professor!« – und wusste: Dies würde nicht die Stunde des Pythagoras werden. Es klopfte. Fräulein Horowitz, die Direktoratssekretärin, steckte ihren Kopf herein, schaute einmal unheildrohend in Richtung Alois und sagte: »Der Herr Direktor bitten Herrn Professor Hanik in fünf Minuten zu einer außerordentlichen Sitzung. Es werde nicht allzu lange dauern, sagt der Herr Direktor.« Der Professor ermahnte seine Klasse, sich still mit Pythagoras zu beschäftigen, und entschwand. Alois hätte sich heute gern in a2 + b2 = c2 versenkt, obwohl er die Geometrie in ihrer Abstraktheit sonst hasste. Alles, sogar Geometrie, war besser als seine standrechtliche Hinrichtung und die würde jetzt im Lehrerzimmer schnell und ohne Rekurs auf Berufung beschlossen.
»Ja Fidlär, das war schneidig, was du gämacht hast«, sagte der Wenzel aus der Bank hinter ihm in einer Mischung aus Bewunderung und Schadenfreude, kaum war der Lehrer draußen. »Aber jetzt, was wärden die tun?« Wenzel war der einzige Tscheche in der Klasse und ein netter Kerl, außer es ging um die Nationalitätenfrage. Alois nickte und lächelte das Lächeln von Verurteilten , wenn sie vor dem Richtblock ein letztes Glas Branntwein verlangen. Er wusste, dass er nicht aus Schneid sein Pferd am Tor angebunden hatte, sondern aus Panik. Doch das wollte er nun auch nicht zugeben. Wenn wenigstens Jelena seinen Ritt zur Schule gesehen hätte, Jelena mit dem breiten Lachen und den weißen Brüsten. Alois ließ die Schultern hängen. »Aber geh, nichts wird passieren, Fiedler«, meinte Ferdi, der Sohn vom Apotheker am Marktplatz, der bereits siebzehn war, manchmal ein Monokel trug und nach eigenen Angaben schon einmal in Prag »gewisse Damen« besucht hatte, »die trau’n sich doch nicht – wegen deinem Vater.« Ferdi rieb den Daumen am Zeigefinger mit einem Lachen, das er für zynisch hielt.
Alois mochte den Ferdi nicht besonders, mit seinem blöden Monokel und seinen blöden Sprüchen. Sein Vater, der immer nach Harz und Holz roch und ewig den gleichen Überzieher trug, er würde ihn nicht retten können vor all diesen Stehkragen, die jetzt im Lehrerzimmer über ihn zu Gericht saßen. Weil er so unglücklich war, hätte er dem Ferdi am liebsten eine in seine hochmütige Bubifresse gegeben. Zum ersten Mal schämte er sich fast ein bisschen für seinen Vater, diesen Bauern, und für sich selbst, den Bauernjungen. »Qidquid agis, prudenter agas et respice finem« – »Was immer du tust, handle mit Klugheit und bedenke das Ende.« Das hatte er nicht, weiter als bis zu seiner gloriosen Ankunft vor der Schule war seine Vorausschau nicht gegangen.
Doch Ferdi sollte recht behalten. Zwar bebte die Stimme des Direktors vor Entrüstung, als er dem Kollegium den unerhörten Vorfall schilderte. Andererseits gab die Schulordnung tatsächlich nichts her zu Gymnasiumstoren mit angehängtem Pferd, und der Paragraf »unbotmäßiges Betragen« passte eigentlich auch nicht, um mit ihm das Benehmen des Obersekundaners Alois Fiedler zu ahnden. »Wir müssen ein Exempel statuieren, meine Herren,« knarzte der fast pensionsreife Deutschprofessor Mannlicher. Er hatte als ganz junger Mann bei Königgrätz gegen die Preußen mitgekämpft und mitverloren und wollte seither fortwährend Exempel statuieren, ganz egal ob es gegen Preußen, Jesuiten, Ruthenen, politisierende Frauen oder sonstige Widersacher der k. und k. Welt ging.
Aber nur wenige Stimmen erhoben sich für eine Bestrafung. »Mein Gott, sagt dem Buben, er soll gefälligst die dummen Scherze lassen und seinen Gaul halt irgendwo in der Nähe unterstellen«, meinte Chemieprofessor Kovac.« Immer der Kovac, dachte der Direktor, der dem Kovac nicht besonders zugetan war, diesem Naturwissenschaftler, der glaubte, nichts sei so wichtig für das Vorankommen der Welt wie die Struktur der chemischen Elemente mit ihren Kernen und Elektroden oder wie diese unsichtbaren Dinger auch immer hießen. Außerdem hieß es, der Kovac wähle trotz seiner Pensionsberechtigung sozialdemokratisch. Doch dann fiel dem Direktor rechtzeitig ein, dass die Spielwarenfabrik Jungbauer jedes Jahr das Schulfest unterstützte, auch regelmäßig für die Bildungsfahrten des Oberstufenchors spendete und der Vater des Alois Fiedler trotz seines bäuerlichen Habitus Großaktionär der Firma war. »Meine Herren, wir wollen Gnade vor Recht ergehen lassen«, sagte er, »der Schüler Fiedler wird mit einem Verweis bestraft und angehalten, ein für allemal sein Pferd von unserer Schule fernzuhalten«. Das Kollegium nickte einvernehmlich, nur Mannlicher knurrte halblaut noch etwas von »Verfall der Sitten, Exempel.«
Professor Hanik ging zurück zu seiner Klasse, die sich bei seinem Eintreten wieder schnell über die Geometriebücher beugte, winkte den Loisl heraus und sagte im langen, düsteren Korridor zum Zimmer des Direktors kein Wort. Dem Alois schien es, als würden ihn die Gipsköpfe der Habsburgerhäupter, die den Gang zierten, mit kalter, unbewegter Strenge anstarren. Wie erleichtert war er, als der Direktor es nach einer bedrohlichen Vorrede bei einem Verweis beließ. »Doch das Tier muss weg. Sofort.«
Alois bedankte sich für den milden Spruch des Hochgerichts. Begleitet von Hanik eilte er nach draußen. Dort war der Pedell inzwischen gut Freund mit seinem Schimmel geworden, immerhin hatte er ihn mit drei Metern Abstand zum Schultor und zu Athene nun schon länger am Zügel gehalten, ohne zu wissen, wohin mit dem Vieh. »Ich bring ihn zur Säge, Herr Professor«, sagte Alois. Hanik nickte, Alois schwang sich in den Sattel, der Schimmel schnaubte froh und ließ zum Glück keine Rossäpfel fallen. Erst schaute der Vater streng, als Alois mitten während der Unterrichtszeit antrabte und ihm beichtete, was passiert war. »Meiner...