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E-Book

Die Zukunft der Rebellion

Eine Anleitung

AutorMicah White
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783841214614
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Nahezu alles Gute in dieser Welt ist das Ergebnis von Protesten und harten Kämpfen.' Micah White. Micah White, Mitbegründer von Occupy Wall Street, schreibt schonungslos selbstkritisch über seine Zeit in der aktiven Protestszene und zieht eine Bilanz der internationalen Protestgeschichte. Dabei stellt er fest: Protest allein kann Regierungen weder zum Zuhören noch zum Handeln zwingen. Wir brauchen eine neue Form der Rebellion. Wie das funktionieren kann, beschreibt Micah White rasant und eindrucksvoll in seinem Buch. Er liefert konkrete Strategien und Taktiken für eine erfolgreiche, weltweite Revolution. Seine Anleitung ist ein leidenschaftlicher Appell an alle Aktivisten der Zukunft. 'Micah White ist ein Stratege, eine neue Art Revolutionär.' Andy Merryfield. 'Viele Bücher sagen uns, warum wir protestieren sollen, dieses Buch sagt uns, wie.' J.B. MacKinnon.

Micah White hat die Bewegung Occupy Wall Street mitgegründet. Er blickt auf über zwanzig Jahre innovativen Aktivismus zurück. Seine Essays und Interviews werden weltweit veröffentlicht. The New Yorker nannte ihn einen der einflussreichsten jungen Denker der heutigen Zeit. Micah White lebt mit Frau und Tochter in einer Kleinstadt an der Küste von Oregon

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Leseprobe

»In jeder Kriegsführung spielt das Unberechenbare eine große Rolle, der Zufall, und die Beherrschung dieses dunklen Elements der Ungewissheit durch Entschlossenheit ist eine der wesentlichsten Eigenschaften des Feldherrn.«

Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst, Bd. 4, Neuzeit, 1920

Die Entstehung von Occupy


Mehrere Jahre vor Occupy Wall Street wurden bei zunehmenden Protesten überall in der Welt mehr Demokratie, mehr wirtschaftliche Gleichheit und politische Repräsentation gefordert. Der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems und das darauffolgende Ansteigen der Lebensmittelpreise aufgrund von Missernten, zum Teil verursacht durch den Klimawandel, ließen die Zahl der Proteste gegen erkennbare Missstände und mit konkreten Forderungen heftig in die Höhe schnellen. Sie wuchs von 59 im Jahre 2006 auf 80 im Jahre 2008 und auf 153 im Jahre 2011 an. In diesem Jahr wurde Occupy geboren.4 Auch der Umfang des Geschehens nahm dramatisch zu. Es kam zu den mächtigsten Protestaktionen in der Geschichte der Menschheit: Von 2006 bis 2013 fanden 37 Demonstrationen mit über einer Million Teilnehmer statt. 2010 protestierten allein in Frankreich 3,5 Millionen Menschen gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. In Portugal gingen beim ersten Generalstreik seit 22 Jahren 3 Millionen gegen die Sparpolitik der Regierung auf die Straße. Zu gewaltigen Protestaktionen kam es in Brasilien. Und überwältigende 100 Millionen Arbeiter traten am 20. Februar 2013 in Indien für niedrigere Preise, mehr Arbeitsplätze, höhere Investitionen im staatlichen Sektor und bessere Arbeiterrechte in den Streik.

Der Zyklus der Revolten, die schließlich zu Occupy Wall Street führten, begann am 17. Dezember 2010 in Tunesien, wo der 26-jährige Straßenhändler Mohamed Bouazizi sich selbst anzündete, um gegen das demütigende Vorgehen eines Polizisten zu protestieren, der seinen Obstwagen beschlagnahmt hatte. Danach war Bouazizi zum Sitz des Gouverneurs gegangen, um von ihm die Herausgabe seiner Ware zu verlangen. Als der es ablehnte, mit ihm zu sprechen, übergoss sich der junge Mann auf der Straße mit Benzin und setzte sich in Brand. Dabei rief er: »Wie, meinen Sie, soll ich meinen Lebensunterhalt verdienen?« Der politische Selbstmord entfachte den aufgestauten Zorn des tunesischen Volkes. Dieses litt unter einem Regime, das laut eines Berichts des US State Department »die Justiz einsetzt, um durch Einschüchterung, Strafverfahren, willkürliche Festnahmen, Aufenthaltsbeschränkungen und Verkehrskontrollen jede Kritik im Keim zu ersticken«.5 Bouazizis Tod hatte sofort überall im Land große Demonstrationen zur Folge, die das autokratische Regime von Ben Ali zu Fall brachten. Das löste den Arabischen Frühling aus, der auf Algerien, Ägypten, Jemen, Bahrein, Libyen und fast alle arabischen Staaten übergriff.

Bouazizis Selbstverbrennung inspirierte Aktivisten in Algerien und Mauretanien, die ihren Widerstand auf die gleiche dramatische Weise zum Ausdruck brachten. Am 18. Januar 2011 erreichte der Arabische Frühling Kairo, wo sich ein Ägypter vor dem Parlamentsgebäude in Brand steckte. Fünf weitere derartige Versuche folgten. Eine Woche später versammelten sich auf dem Tahrir-(Befreiungs-)Platz vor dem Mogamma, dem riesigen Gebäudekomplex der Zentralverwaltung des Landes, Zehntausende Ägypter zu einem »Tag des Zorns« gegen Polizeigewalt und 30 Jahre Unterdrückung durch das Regime von Hosni Mubarak. Ich habe in den Jahren vor dieser Erhebung mehrere Monate lang in der Nähe des Tahrir-Platzes gewohnt. Ich erinnerte mich daran, wie brutal die Polizei damals agierte. Als ich nun die Bilder von den Protestierenden sah, die die Straßen füllten, war mir sofort klar, dass es sich hier um eine revolutionäre Situation von historischem Ausmaß handelte. Auf dem Tahrir-Platz wurde ein Pro-Demokratie-Lager errichtet. Die Welt sah zu, wie einfache Leute öffentlich den Rücktritt Mubaraks forderten und sich dabei gegen Beschuss und vom Regime vorgeschickte Schläger verteidigten. Als Mubarak am 11. Februar 2011 schließlich sein Amt aufgab, rollte eine weitere Protestwelle durch die Welt. Von dem Erfolg ermutigt, sahen die Menschen, dass dramatische Veränderungen möglich waren.

Am 15. Mai 2011 kam es in 58 Städten Spaniens zu Protesten gegen den Sparkurs der Regierung. In Madrid versammelten sich 50 000 Menschen. Sie forderten direkte Demokratie und Mitbestimmung. Vom Tahrir-Aufstand angeregt, führten Aktivisten der 15.-Mai-(15M)Bewegung die Methode der acampadas (Zeltlager) ein, wobei sie auf öffentlichen Plätzen konsensbasierte Generalversammlungen einberiefen. Dort gaben die Menschen ihrer Forderung nach direkter Demokratie mit einer neuen Form autonomer Selbstorganisation Ausdruck. In Gruppendiskussionen und offenen Vollversammlungen mit wechselndem Konsens wurden komplexe Fragen geklärt.

Die neuen, in Tunesien, Ägypten und Spanien erfundenen Formen kollektiven Protests wurden in Occupy Wall Street zusammengefasst und auf dem gesamten Erdball reproduziert. Es war das junge, hochgebildete und bestens vernetzte Kognitariat, das sie von Stadt zu Stadt weitergab. Ein globales Netzwerk der Jugend wurde geknüpft. Soziale Netze verbreiteten online den Aufruf, offline zu handeln. Auf öffentlichen Plätzen zu kampieren war offiziell verpönt, wenn nicht gar verboten. Durch die weltweite Verbreitung dieses neuen gesellschaftlichen Verhaltens erhielten wir die Gelegenheit, unser Abweichen von althergebrachten Aktionsformen zu demonstrieren.

Als wir erlebten, wie in anderen Ländern Diktatoren gestürzt und quicklebendige demokratische Versammlungen ins Leben gerufen wurden, drängte es viele Aktivisten, die Revolution in die USA und nach Kanada zu importieren. Kalle Lasn und mir gelang das. Unser Wunsch, dass 20 000 Menschen nach Lower Manhattan strömen sollten, wurde wie durch ein Wunder wahr. Unser Mem #OCCUPYWALLSTREET erwies sich als hoch ansteckend und schlug, von der Wall Street kommend, in Bankenvierteln auf der ganzen Welt ein.

Kalle ist der Gründer von Adbusters, des kanadischen anti-kulturellen Magazins für Konsumkritik und der gleichnamigen Webseite für internationalen Aktivismus. Ich – seit jungen Jahren politisch aktiv – arbeitete bereits fünf Jahre lang als Redakteur für dieses Magazin. Als rebellischer 14-Jähriger hatte ich es zum ersten Mal gelesen, und mit Kalle zu arbeiten war für mich fortan der lang ersehnte Traumjob. In dem Jahr, in dem Occupy entstand, wirkten wir besonders eng zusammen. Die Redaktion von Adbusters saß in Vancouver in British Columbia, und ich lebte damals im kalifornischen Berkeley. Unsere Zusammenarbeit lief über E-Mail und Telefon.

In dem Jahr, bevor Kalle und mir die Idee zu Occupy Wall Street kam, hatten wir versucht, eine globale Aktionswoche gegen den Konsumwahn ins Leben zu rufen, die wir Karnevalistische Rebellion nannten. Wir widmeten Nr. 92 von Adbusters einer Reihe von Protestaktionen, als deren Auftakt am 22. November 2010 eine neue Kampagne mit dem Titel #NOSTARBUCKS geplant war. Der Boykott der Kaffeehauskette sollte über den bereits praktizierten konsumkritischen Buy Nothing Day, der jeweils am Black Friday nach Thanksgiving begangen wurde, in den USA, in Kanada, Großbritannien und anderenorts bis ins Weihnachtsgeschäft hinein fortgesetzt werden. Dass wir die Sache als Karnevalsspaß anlegten, war unser Versuch, den Geist des ursprünglichen Protests der Antiglobalisierungsbewegung, den »Karneval gegen das Kapital«, der am 18. Juni 1999 in London stattgefunden hatte, für uns zu nutzen. Bei der Karnevalistischen Rebellion probierten wir auch zum ersten Mal aus, mit Hilfe von Twitter-Hashtags eine Offline-Aktion zu starten. Kalle, die anderen bei Adbusters und ich boten all unsere Energie, unsere Überzeugung und Kreativität auf, um die Aktionswoche voranzutreiben. Wir glaubten tatsächlich, dass eine revolutionäre Situation in Reichweite sei. Doch wir waren im Irrtum. Die Karnevalistische Rebellion geriet zum Flop und der Protest verpuffte in ein paar kläglichen Aktionen, die kaum Widerhall fanden. Selbst der Buy Nothing Day fiel in diesem Jahr mittelmäßig aus. Das Scheitern war demütigend. Doch wir ließen uns nicht entmutigen. Ich kam zu der Überzeugung, dass für die Idee von einer über Hashtag verbreiteten, ansteckenden Aktion die Zeit einfach noch nicht reif war. Wir hatten Schiffbruch erlitten, weil wir zu früh waren. Ich erinnere mich an das Gefühl, dass Kalle und ich schon in der Zukunft des Aktivismus lebten. Wir waren sicher, wenn wir es wieder probierten, würden wir Anhänger finden. Also zogen wir Lehren aus der Karnevalistischen Rebellion und versuchten es 2011 noch einmal. Inspiriert vom Arabischen Frühling und den nachfolgenden Erhebungen, griffen wir zu einer erprobten Taktik, der Besetzung öffentlicher Räume, und übertrugen sie auf ein neues Feld, die Bankenviertel dieser Welt.

Außer dem Tahrir-Platz und den acampadas nutzten wir für die bei Occupy Wall Street angewandte Taktik auch Erfahrungen der Besetzung der Universitäten von London, New York, Berkeley und Dutzenden anderer Städte durch die Studenten im Jahre 2009. Gespannt hatte ich verfolgt, wie sich dort die Dinge entfalteten – in Berkeley persönlich und in anderen Fällen aus größerer Entfernung. In Adbusters feierte ich die Besetzungen als ein potentielles Zeichen dafür, dass eine revolutionäre Situation heraufzog. Während der Welle dieser Aktionen besetzten die Studenten Unterrichtsräume und Hörsäle für politische Protestaktionen. In Großbritannien wurde anfangs das...

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