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E-Book

Marx und wir

Warum wir eine neue Gesellschaftsidee brauchen

AutorGregor Gysi
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783841215000
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Was hat uns Karl Marx heute zu sagen? Ist der Kapitalismus noch zu retten? Oder brauchen wir eine neue Gesellschaftsidee? Gregor Gysi untersucht kritisch, unterhaltsam und pointiert die Bedeutung des Marx'schen Denkens und seiner Rezeption, die von akademischer Erbauungsliteratur bis zum Popart-Design reicht. Seine These: Die Menschheit braucht eine neue Utopie. 'Karl Marx war einer der größten Historiker und Ökonomen nicht nur unseres Landes, sondern der Geschichte.' Gregor Gysi. Als linker Politiker hat man ein Verhältnis zu Marx, und angesichts der Niederlage historischen Ausmaßes, die die Linke im 20. Jh. erfahren hat, kann dieses Verhältnis nicht völlig ungebrochen sein. Gregor Gysi hat aber auch ein sehr persönliches Verhältnis zu Marx: Das hat mit seinem Leben und Arbeiten in der DDR zu tun sowie damit, dass er die SED 'übernommen' und an vorderster Stelle an deren Umformung zu einer modernen Linkspartei mitgewirkt hat. Ein Prozess, in dem Auseinandersetzungen über den Marxismus eine große Rolle spielten. Gysi schildert die Bedeutung, die Marx für seine Biographie, aber auch für linkes Denken und linke Politik und die gesamte Gesellschaft hat. Überdies untersucht er die brennenden Fragen der Gegenwart und in welcher Weise Marx` Denken für ihre Lösung hilfreich sein kann.

Gregor Gysi, geboren 1948, Rechtsanwalt und Politiker. Sohn des DDR-Kulturministers Klaus Gysi und Neffe der Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing. 1967 Eintritt in die SED. Vertrat als Rechtsanwalt u. a. Robert Havemann, Rudolf Bahro und andere Regimekritiker. 1989–1993 Parteivorsitzender der PDS. 1990–2002 und 2005–2016 MdB und Fraktionsvorsitzender der PDS und der Partei Die Linke. Seit Dezember 2016 ist er Präsident der Europäischen Linken. Zahlreiche Publikationen. Bei Aufbau erschienen zuletzt: „Was bleiben wird. Ein Gespräch über Herkunft und Zukunft“ (zusammen mit Friedrich Schorlemmer) sowie die Autobiographie „Ein Leben ist zu wenig“.  

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Leseprobe

Menschen passen in kein Modell


Eine Wandzeitung mit langem Bart – Die Klassiker in den Trümmern der DDR – »Das Kapital« im Einkaufswagen – Autorität allzu leichtgenommen: Zitate statt wirklicher Argumente – Der Irrtum von Norbert Blüm – Scheinbar aussichtslose Ziele sind oft der beste Antrieb

Das Marx-Engels-Denkmal auf dem Berliner Marx-Engels-Forum. Warum sitzt Marx?

Einer bundesdeutschen Zeitschrift beantwortete ich einen Fragebogen, der auch wissen wollte, wie ich einem Blinden mein Äußeres beschriebe. Ich gab an: »Groß, kräftig, dichte blonde Locken.« Worauf die Redaktion einige Leserbriefe erhielt, von denen einer auch veröffentlicht wurde: »Von einem Linken hätten wir natürlich erwartet, dass sich seine Phantasie in dieser Frage an Karl Marx orientiert: dichter langer Bart und wallendes dunkler Haar.« Stimmt. Ist mir aber damals nicht eingefallen.

Allerdings kann ich sagen, dass ich mit der Frisur von Marx (und Engels) durchaus sehr reale politische Erfahrungen machte, und das sehr früh. In den sechziger Jahren in der DDR begannen junge Leute lange Haare zu tragen. Es war die Zeit der unaufhaltsam einsetzenden »Beatlemania«, deren Ausdrucksformen über die Grenze drangen. Der älteren Generation missfiel dies, dem Staat noch mehr, und wie immer verfiel man in der Administrative in den fundamentalen, ja geradezu lächerlichen Irrglauben, der Jugend Kleidung, Aussehen, Musik oder Geschmack vorschreiben zu können. In der DDR ging das so weit, dass die Volkspolizei oder Vorgesetzte in den Betrieben junge Leute zwangen, zum Frisör zu gehen. Mitunter griff man schon vorher zum erzieherischen Strafinstrument: zur Schere. Die Zeitung »Neues Deutschland« veröffentlichte agitatorische, gleichsam abmahnende Fotos, wie sogenannte Gammler gewaltsam barbiert wurden.

Ich besuchte damals die Erweiterte Oberschule »Heinrich Hertz« in Berlin-Adlershof. Zwei Mädchen meiner Klasse gestalteten eine Wandzeitung. Darauf waren zwei sehr attraktive Bilder zu sehen, eines von Karl Marx und das andere von Friedrich Engels. Beide trugen die bekannten langen Haare. Meine Mitschülerinnen fragten in ihrem Textbeitrag, wie die beiden wohl von der Volkspolizei der DDR behandelt würden. Wenn man um die damaligen Verhältnisse im Staat weiß, kann man sich sehr gut vorstellen, wie aufgebracht und nervös der Direktor in unsere Klasse kam. Er fragte barsch nach dem Funktionär, der in der FDJ-Leitung der Klasse verantwortlich für »politisch-ideologische Fragen« sei. Typisch für das Prinzip der Kader-Hierarchie: Man erkundigt sich nicht nach den unmittelbar Verantwortlichen, also nach den beiden Mitschülerinnen, sondern nach den »Übergeordneten«.

Die Sache geschah im Monat März. Die Wahl der FDJ-Leitung hatte im September des Vorjahres stattgefunden. Ich selber war an jenem Wahltag krank und hatte also an der betreffenden Versammlung nicht teilgenommen. Also ging mich jetzt dieses Erkundigen und Nachfragen nichts an. Aber plötzlich beugte sich die FDJ-Sekretärin zu mir vor und flüsterte, man habe mich »damals«, in meiner Abwesenheit, zum Verantwortlichen für politisch-ideologische Fragen bestimmt.

Nunmehr, wie gesagt, stand der Kalender auf März. Bis dahin hatte die FDJ-Leitung nicht ein einziges Mal getagt, so dass ich von der »Ehre« dieser Wahl nichts erfuhr. Nun meldete ich mich selbstverständlich, ich wollte die seltsame Situation nicht denunzieren. Der Direktor bat mich, mit in sein Zimmer zu kommen. Er forderte mich auf, für Ordnung zu sorgen, was bedeutete: Die Wandzeitung sollte unverzüglich abgehängt werden.

Ich hörte mir das an und gab zu bedenken, dass diese Idee nicht besonders klug sei. Das Erstaunen des Pädagogen kann man sich vorstellen. Auf erneute Nachfrage erklärte ich, eine abrupte Entfernung der Wandzeitung würde aus einer doch recht harmlosen Angelegenheit ein auffälliges, Widerspruch auslösendes Politikum machen. Klüger wäre, nicht zu reagieren, die Sache also so beiläufig wie möglich zu behandeln. So hielte sich alle Aufregung gewiss in Grenzen – und am Ende der Woche würde ich dafür sorgen, dass das corpus delicti von der Wand genommen wird. Der Direktor dachte kurz nach und ließ sich auf meinen Vorschlag ein.

In jener Zeit also begegneten mir Karl Marx und Friedrich Engels, wenn auch vorwiegend wegen ihrer Haartracht. Bald darauf trug ich selber auch längere Haare. Ich weiß: sich das vorzustellen, fordert Leuten, die mich erst sehr viel später kennenlernten, eine gewisse Phantasie ab. Mir selber inzwischen auch. Und mit einem ironischen Lächeln zitiere ich Marx: »Das Leiden gehört zum Selbstgenuss des Menschen.«

*

Karl Marx war in der DDR außerordentlich präsent, seine Werke wurden zitiert, sein Leben und seine Persönlichkeit waren Gegenstand von Büchern und Filmen. Dabei ist es einerseits bemerkenswert, welche Werke von ihm hervorgehoben, welche Seiten seines Lebens stärker und welche schwächer dargestellt wurden. Um es deutlich zu sagen: Es fand eine gewisse Verklärung statt. Das wäre kulturell nicht so schlimm gewesen, wenn Zitate von Karl Marx (auch von Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin) in den Geisteswissenschaften der DDR nicht dazu benutzt worden wären, Beweisführungen zu ersetzen. Ein Zitat von einem dieser drei genügte als Beleg. Das nahm den Betreibern der Geisteswissenschaften, um es milde auszudrücken, etwas den Schneid: Man verlernt schnell, seine Thesen plausibel zu untermauern.

Andererseits muss man sagen, dass diejenigen in der DDR, die sich ernsthaft mit dem Werk von Karl Marx beschäftigten, durchaus mit Widerständen zu ringen hatten. Denn es sollte in der Forschung stets ein Ergebnis präsentiert werden, das die DDR bestätigte. Das freilich gaben die Werke von Karl Marx nicht so ohne weiteres her. Zu den herausragenden, kritischen Marx-Kennern gehörten der Philosoph und Logiker Georg Klaus, der Philosophiehistoriker Helmut Seidel, der Historiker Ernst Engelberg, der Ökonom Jürgen Kuczynski. Die Liste ist bei weitem nicht vollständig.

*

Nachdem ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland geworden war, begegnete mir dort ein gänzlich anderes Bild von Karl Marx. Verantwortliche Politiker gingen grundsätzlich davon aus, dass Marx im Wesentlichen unrecht hatte. Sie wussten, dass er nicht dumm war, aber auch Intelligenz schließt ja bekanntlich Irrtümer nicht aus. Das Verhältnis zu Marx war in der Bundesrepublik schon deshalb gestört, weil man ihn in der DDR und in anderen staatssozialistischen Ländern so außerordentlich hervorgehoben hatte. Interessant ist, dass es diese Vorurteile, diese abschätzige Distanz auch in der westdeutschen Wissenschaft gab, wo man ja grundsätzlich eine andere, gründliche, souverän unideologische Betrachtungsweise erwartet.

Natürlich gab es herausragende Wissenschaftler, die sich sehr ernsthaft und weiterführend mit den Werken von Marx auseinandersetzten. Dazu zähle ich zum Beispiel Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Wolfgang Fritz Haug. Doch das änderte an der grundlegenden Skepsis in Politik, Wissenschaft und Kultur wenig. Einzig zu bestimmten Jahrestagen oder im Rahmen der außerparlamentarischen Opposition spielten die Werke von Marx und Engels, der sogenannten Klassiker, auch in der alten Bundesrepublik eine größere Rolle. Das hatte auch Auswirkung auf die Wissenschaft, vor allem in den siebziger Jahren.

Nach Herstellung der deutschen Einheit schien es zunächst völlig müßig, den Versuch zu unternehmen, in der gesamten Bundesrepublik ein differenziertes Bild von Marx zu zeichnen. Die Bürger der untergegangenen DDR waren zu einem großen Teil mit ihm fertig. Irgendwie gingen sie davon aus, dass die DDR sein Werk war – das nun in Trümmern lag.

Trotzdem saß der Wunsch in mir tief, einen Beitrag für eine andere politische Kultur zu leisten – und dazu gehört auch ein anderer Umgang mit und eine andere Sicht auf Karl Marx. Und scheinbar aussichtslose Ziele können mich gelegentlich faszinieren.

*

Während meines Jurastudiums war ich verpflichtet, viele Werke von Marx, Engels und Lenin zu lesen. Dabei stellte ich fest, dass ich Engels besonders gern las. Für mich strahlte er nicht nur Intelligenz, sondern vor allem Wärme aus. Er hatte einen durchaus pädagogischen Stil, der aber auf ebenso seltsame wie seltene Weise etwas Einnehmendes hatte. Engels verfügte über einen einfacheren Stil als Marx, war also auch leichter zu lesen, aber selber nicht sehr tief ins Wissenschaftliche eingedrungen.

Beim »Kapital« las ich Band 1 und räume freimütig ein, dass mich das ziemlich anstrengte. Im Vorwort zur ersten Auflage hatte Karl Marx behauptet, er habe im Unterschied zur »Kritik der politischen Ökonomie« seine Aussagen popularisiert. So? Darüber hätte ich gern mit ihm gestritten.

Gern wird zwischen dem Früh- und dem Spätwerk von Marx unterschieden. Das geschieht wohl bei jedem Geistesschaffenden, bei jedem bedeutenden Denker. Leben ist keine Einbahnstraße, kein glatter Pfad. Wenn man die Werke von Marx aus jeweils unterschiedlichen Zeiten liest, gewinnt man also unterschiedliche Erkenntnisse, ergeben sich Unterschiede im aufgegriffenen Themenfeld, widerspricht sich einiges. Seine Quellen waren die großen Philosophen, die bedeutenden Wirtschaftswissenschaftler und die utopischen Kommunisten. Er versucht, den Idealismus zu überwinden; er erklärt, dass es die materiellen Dinge und Verhältnisse sind, die letztlich über unser Denken und Fühlen entscheiden; er untersucht die Logik...

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