ANGELA GENGER
Nur ein Textfragment?
Vorbemerkung zur deutschen Edition von Józef Zelkowicz’
»In yene koshmarne teg« – »In diesen albtraumhaften Tagen«
1940 errichteten die nationalsozialistischen Besatzer in der polnischen Stadt Łódź ein Großgetto. Verwaltungsmäßig wurde die Industriestadt dem Warthegau zugeschlagen. In dem Getto wurden im Herbst 1941 auch Juden aus dem sog. Altreich: aus Berlin, Emden, Düsseldorf, Köln und aus Luxemburg, Wien und Prag »eingesiedelt«, wie es in der Gettosprache hieß. In den Jahren 2002 bis 2009 arbeitete ein Team der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf an einer Studie zur ersten Großdeportation aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf1 in dieses Getto. Ziel der Studie war, das Schicksal der Deportierten im Getto von Łódź so weit wie möglich zu rekonstruieren. Dazu wurden fast 100 Archive und möglichst alle bis 2009 auf Deutsch oder Englisch veröffentlichte Literatur genutzt; darunter auch das von Michal Unger edierte Werk: Józef Zelkowicz, In Those Terrible Days. Writings from the Lodz Ghetto, Jerusalem 2002.
Kaum ein Getto ist inzwischen so gut erforscht wie das Litzmannstadts, wie die Stadt ab April 1940 genannt wurde. Neben wissenschaftlichen Arbeiten wurden große Quellenbestände ediert. Ebenso liegen in verschiedenen Sprachen Tagebücher, Erzählungen und Erinnerungen vor. Eine der publizierten Quellen ist auch der erwähnte Band mit Texten von Józef Zelkowicz. Diese Texte werden in deutschen Publikationen in der Regel aus dem Englischen übersetzt zitiert. Die Sprache des Autors Zelkowicz ist Jiddisch, das dem Deutschen näher ist als jede andere Sprache. Das gab den Anstoß, eine Übersetzung aus dem Jiddischen ins Deutsche in Auftrag zu geben. Susan Hiep legte 2008 für die Düsseldorfer Studie eine Übertragung in erster Fassung vor.
Die nah am jiddischen Klang und Idiom bleibende Übertragung erschloss den Text völlig neu, und es bot sich an, diese Übertragung zu publizieren, um ihn so einer weiteren, auch wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es geht also nicht um eine neue Studie, sondern um eine uns notwendig erscheinende Ergänzung bisher vorliegender Literatur. Sie handelt von einer sehr kurzen, für die Geschichte des Gettos allerdings zentralen Zeitspanne: den ersten Septembertagen des Jahres 1942.
In den frühen Morgenstunden des 1. September 1942 umstellten jüdische Ordnungsdienstmänner die Straßen rund um die Krankenhäuser des Gettos, und deutsche Ordnungspolizei und Gestapobeamte unter Leitung von Kommissar Günther Fuchs begannen mit der Räumung. Die Kranken wurden aus den Betten gezerrt und auf Lastwagen gestoßen oder geworfen. Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden ergriffen, manche sofort erschossen, einigen gelang dennoch die Flucht. Am nächsten Tag ging die »Aktion« weiter. 1.253 Kranke wurden an diesen beiden Tagen erfasst und mit LKWs weggebracht. Keiner wusste wohin.
Am 4. September 1942 wurde bekannt, dass alle Kinder, die jünger als 10 Jahre alt, alle Erwachsenen, die älter als 65 Jahre alt waren, und alle »Arbeitsunfähigen« »ausgesiedelt« werden sollten. Was »Aussiedlung« hieß, war zu diesem Zeitpunkt im Getto den meisten klar: Es bedeutete den Tod. Am folgenden Tag, dem 5. September 1942, wurde mit der Bekanntmachung Nr. 391 eine »Allgemeine Gehsperre« über das Getto verhängt, beginnend um 17 Uhr. Zur Dauer hieß es: »bis auf Widerruf«. Alle Fabriken und Arbeitsressorts blieben geschlossen, die Arbeiter und Arbeiterinnen hatten sich in ihre Wohnungen zu begeben. Damit entfielen die zusätzlichen Suppen in den Werkstätten zu den kargen wöchentlichen Rationen. Auch Lebensmittel hatte man nur bis zur »Sperre« einkaufen können. Die Hausverwalter mussten die Hausbücher, die Bewohner ihre Arbeitskarten bereithalten.
Die Bewohner jedes Hauses mussten sich, aufgefordert durch die Abgabe eines Schusses, im Hof oder vor dem Haus aufstellen. Eine Kommission aus Gestapo, Schutzpolizei, jüdischem Ordnungsdienst und anderen »Freiwilligen«, einem Arzt und einer Krankenschwester selektierte allen Berichten zufolge nach Augenschein. Die »Freigesprochenen« wurden auf die eine Seite, die anderen zu den bereitstehenden Lastwagen geschickt. In einigen Straßen durften die Bewohner wieder in ihre Wohnungen zurückkehren. Aber es passierte auch, dass deutsche Polizei und jüdischer Ordnungsdienst zurückkehrten und Wohnung für Wohnung noch einmal inspizierten. Bis dahin Gerettete konnten nun zu den »Auszusiedelnden« geschickt werden. Fluchtversuche oder jede Art von Widerständigkeit endeten in der Regel mit Erschießung. Wie viele Menschen in den Tagen der Sperre erschossen wurden, wie viele mangels ärztlicher Versorgung oder an Hunger starben, ist nicht geklärt. Insgesamt starben in dieser Zeit 572 Männer, Frauen und Kinder, 15.685 wurden für die »Aussiedlung« selektiert.
Es gibt eine Reihe von Beschreibungen dieser Septembertage. Aber keine Quelle ist so ausführlich wie Zelkowicz’ Darstellung der Tage bis zur Sperre und danach. Ihre gleichzeitige literarische Qualität kommt in der hier vorliegenden Fassung voll zum Tragen. Diese Wirkung sollte nicht durch viele Anmerkungen und einordnende Hinweise gestört werden. Deswegen beschränken sich Herausgeber und Übersetzerin auf drei kleinere erläuternde Artikel und einige erklärende Endnoten im Anschluss an Zelkowicz’ Text.
Die historische Einordnung in die Geschichte des Gettos von seiner Entstehung bis zu seiner Auflösung nimmt Andrea Löw vor. Sie bezieht wiederholt verschiedene Texte von Zelkowicz für die Erschließung der Atmosphäre ein, damit schon auf den Kern dieser Publikation eingehend: der überlieferten Literatur eines Mitleidenden.
Zelkowicz war nicht der Einzige, der im und über das Getto schrieb. Er gehörte selbst zu den Mitverfassern der Chronik des Gettos und anderer schriftlicher Überlieferungen. Auf die aus dem »Archiv des Ältesten der Juden« hervorgegangenen Quellen geht Sascha Feuchert ein.
Während der Vorbereitung dieser Publikation tauchte die Frage auf, welche Fassung der Übersetzung eigentlich zugrunde lag. Michal Unger druckte in ihrem Buch eine handschriftliche Seite aus dem »Tagebuch« genannten Manuskript aus dem Jüdischen Historischen Institut in Warschau ab. So wird auch das Typoskript, das der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte in Kopie vom YIVO-Institut in New York zur Verfügung gestellt wurde, bezeichnet. Vieles spricht aber dafür, dass es sich um einen bearbeiteten Text handelt, den der Autor noch selbst in eine ihm sinnvoll erscheinende Form gebracht und abgeschrieben hat, dass er diese Arbeit aber nicht beenden konnte. Oder die Fortsetzung ging verloren. Zur Arbeit an der Abgleichung von Manuskript und Typoskript und zur Arbeit an der Übertragung gibt die Übersetzerin Susan Hiep einige Hinweise.
Überliefert von diesem Text »In yene koshmarne teg« sind fünf Kapitel, die chronologisch die Tage vom 1. bis 6. September umfassen und mit detaillierten Zwischenüberschriften versehen wurden. So beginnt Zelkowicz Kapitel 1: »Dienstag, 1. September 1942: Die Krankenhäuser werden geräumt« und gibt die Gerüchteküche des Gettos wieder unter der Überschrift »Was man sich erzählt«.
Bereits unter »Mittwoch, 2. September 1942« stellt der Autor unter der Überschrift »Nicht nur aus den Krankenhäusern …« fest, dass es auch die Kinder trifft, ebenso die im Zentralgefängnis Einsitzenden sowie neu »Eingesiedelte« aus den Provinzen.
Und am »Donnerstag, 3. September 1942« stimmen die Überschriften »Schreckliche Panik«, »Man hat sich geeinigt«, »Man gewöhnt sich an alles« und »Gevalt! Was kommt als Nächstes?!« auf das, was kommt, ein. Unter »Freitag, 4. September 1942« heißt es dann: »Die Deportation der Kinder und Alten – eine Tatsache«. In der Nacht zuvor wurde, so berichtet schon die nächste Überschrift: »Die Akte des Einwohnerverzeichnisses … versiegelt«. Warum? »… damit keine Geburtsdaten gefälscht werden konnten. Das Kind soll nicht älter und der Alte nicht jünger gemacht werden.« Aber es gibt Ausnahmen: »Schutz für die Familien der Feuerwehrleute, Polizei und Arbeits-Ressort-Leitung«. Im Abschnitt »Wir werden Genaueres erfahren« werden die Reden von Dawid Warszawski und Stanisław Jakobson zusammengefasst, und die des Judenältesten Mordechai Rumkowski überschreibt der Autor mit: »Der Präsident weint.« »Was wird mit den Kindern geschehen?« Keiner der Redner hat dazu etwas gesagt. Hoffnung gibt die Tatsache, dass zwanzigtausend Juden aus umliegenden Orten ins Getto kommen sollen – vielleicht werden die »Ausgesiedelten« in deren Heimatorte gebracht?
In Kapitel 2 steht eine Art Miniatur, eine kleine Biografie am Anfang: »Der Fall Rosa Steiner«. Dann beginnt der Samstag, 5. September 1942 mit der dramatischen Feststellung: »Im Getto gibt es nichts mehr zu essen.« Die verzweifelte Suche nach Essbarem wird weiter ausgeführt in dem Abschnitt »Die Kartoffeljagd«.
Noch vor Beginn der »Sperre« heißt es dann: »Es hat begonnen.« Die ersten Altersheime werden »geleert«, in der Rybna laden sie schon Kinder, Kranke und Alte in die Wagen. Das geschieht nicht ohne Gegenwehr. Aber: »Sie greifen zu.« In dem Text von Zelkowicz abgedruckt wird die erwähnte Bekanntmachung Nr. 391 zur »Ausgangssperre«. Dass die Arbeit in dieser Zeit ruht, gibt im Getto Anlass zur Frage:...