2. Von Tübingen zurück nach Berlin, 1923–1927
Zwei Tübinger Semester
Im Frühjahr 1923 begann Dietrich Bonhoeffer sein Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen. Er ging damit an die Universität, an der auch sein Vater studiert hatte, und trat in dessen nichtschlagende Studentenverbindung «Igel» ein. An dieser reizten ihn vor allem die gemeinsamen Gespräche und Unternehmungen, Anfragen an die politische Ausrichtung hatte er wohl nicht. Er verließ den «Igel» allerdings, als dieser 1933 den Arierparagraphen einführte und «nichtarische» Mitglieder ausschloss. In die Tübinger Zeit fiel auch eine zweiwöchige Wehrübung, an der er nach Rücksprache mit den Eltern teilnahm, weil er meinte, «daß es je eher, je besser ist, daß man die Sache hinter sich bringt, um für kritische Lagen ein gesichertes Gefühl zu haben, mithelfen zu können» (DBW 9, 67).
Bonhoeffer hörte in Tübingen bei den bedeutenden Theologen Adolf Schlatter und Karl Heim, besuchte jedoch mit größerem Interesse Veranstaltungen bei dem Philosophen Karl Groos. Die von diesem behandelten Fragen der Erkenntnistheorie sollten ihn für mehrere Jahre nicht mehr loslassen. Doch so richtig begeisterte ihn Tübingen nicht, weshalb er sich schon nach zwei Semestern zur Rückkehr nach Berlin entschloss.
Eine Reise nach Italien
Zuvor jedoch begab er sich mit seinem Bruder Klaus auf eine zweimonatige Reise in den Süden, die für ihn richtungweisende Eindrücke bereithalten sollte. Im Frühjahr 1924 fuhren die beiden zuerst für zweieinhalb Wochen nach Rom. Die Stadt mit ihren antiken und christlichen Denkmälern, gleichzeitig pulsierende moderne Weltstadt, beeindruckte sie tief. Nach einer Messe in Trinità dei Monti, der damals einem Frauenorden zugehörigen Kirche am oberen Ende der Spanischen Treppe, schrieb Dietrich Bonhoeffer in sein Tagebuch, er habe in der Vesper der Novizinnen «Gottesdienst im wahren Sinne» erlebt, «einen unerhört unberührten Eindruck tiefster Frömmigkeit». Die Tagebucheintragung schließt:
Der Tag war herrlich gewesen, der erste Tag, an dem mir etwas Wirkliches vom Katholizismus aufging, nichts von Romantik usw., sondern ich fange, glaube ich, an, den Begriff «Kirche» zu verstehen. (DBW 9, 89)
Diese Bemerkung ist für einen Theologiestudenten überraschend. Sie offenbart, dass für Bonhoeffer zu Beginn seiner theologischen Existenz das reale gemeinsame Leben der Glaubenden als Kirche noch bedeutungslos war. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass in seiner eigenen Familie christlicher Glaube fast völlig ohne Bezug zur institutionellen Kirche gelebt wurde. Erst in Rom wurde Bonhoeffer deutlich – angesichts der Anschaulichkeit der Kirche, zu der Menschen aus aller Welt gehören –, dass für das Christsein die sichtbare Kirche und gemeinsame Gottesdienste wesentlich sind. Die Möglichkeit, in der Kirche die Beichte ablegen zu können und Sündenvergebung zugesprochen zu bekommen, faszinierte ihn. Denn in der Beichte wird konkret erfahrbar, dass der Glaubende nicht allein ist, sondern in einer Gemeinschaft von Glaubenden steht:
Nachmittag Maria Maggiore, großer Beichttag, alle Beichtstühle besetzt und von Betenden umdrängt. Man sieht hier so erfreulich viel ernste Gesichter, bei denen alles, was man gegen den Katholizismus sagt, nicht zutrifft. … Die Beichte muß nicht zur «Skrupulosität» führen … Sie ist … für religiös Weiterblickende die Vergegenständlichung der Idee der Kirche, die sich in Beichte und Absolution vollzieht. (DBW 9, 89 f.)
Der römische Eindruck von der Wirklichkeit der Kirche muss tief gewesen sein. Er führte dazu, dass Bonhoeffer sich sowohl in seiner Dissertationsschrift als auch in seiner Habilitationsschrift mit der Frage beschäftigte, welche Rolle aus evangelischer Sicht die Kirche für den Glauben spielt.
Abb. 2: Dietrich Bonhoeffer als Student in Tübingen, um 1923.
Nach einem Abstecher nach Sizilien und ins nordafrikanische Tripolis fuhren die Brüder über Neapel noch einmal in die italienische Hauptstadt – und dann zurück nach Berlin.
Das theologische Berlin
An der theologischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrten die Großen der damaligen Zeit. Der berühmte Kirchengeschichtler Adolf von Harnack war zwar seit 1921 emeritiert, bot aber noch Seminare für einen kleinen Kreis von Studierenden an, zu dem auch Bonhoeffer eingeladen wurde. Man las Texte aus den ersten christlichen Jahrhunderten. Bonhoeffer war beeindruckt von diesem Altmeister der so genannten Liberalen Theologie. Die Liberale Theologie war seit gut hundert Jahren die vorherrschende Richtung protestantischer Theologie. Sie kritisierte die traditionellen kirchlichen Dogmen und betonte die individuelle Religiosität des Einzelnen. Inhaltlich stand Bonhoeffer Harnacks Grundansatz durchaus skeptisch gegenüber, wurde er doch zeitgleich mit dem Entwurf des großen Kritikers der Liberalen Theologie, Karl Barth, bekannt. Anlässlich der Verteidigung seiner Promotionsthesen vor der Theologischen Fakultät machte Bonhoeffer jedoch deutlich, wie viel er Harnack verdankte: «Zu eng mit meiner ganzen Person verbunden ist das, was ich in Ihrem Seminar gelernt und verstanden habe, als daß ich es je vergessen könnte.» (DBW 9, 477)
Zahlreiche Veranstaltungen besuchte Bonhoeffer beim Lutherforscher Karl Holl und schrieb bei ihm mehrere Seminararbeiten über den Reformator. Neben Karl Barth ist Luther derjenige Theologe, der Bonhoeffer in seinem eigenen Denken am meisten beeinflusst hat. Seine Kritik an Barth hängt oft genau damit zusammen. Die Promotion verfasste Bonhoeffer dann aber bei dem Dogmenhistoriker und Systematischen Theologen Reinhold Seeberg, weil er bei ihm seinem Interesse nachgehen konnte, «halb historisch halb systematisch» (DBW 9, 156) über die Kirche zu schreiben.
Die Gemeinschaft der Heiligen
Als Gegenstand seiner Doktorarbeit wählte Bonhoeffer die Kirche. Schon mit 21 Jahren schloss er seine Studie Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche ab; 1930 erschien sie im Druck. Bonhoeffer beschäftigte sich in ihr mit der Sozialität, das heißt der grundsätzlich sozialen Ausrichtung, des Menschen und des christlichen Glaubens. Der Mensch zeichnet sich nach Bonhoeffers Überzeugung nicht primär dadurch aus, dass er ein autonomes Vernunftwesen im Sinne der Aufklärung ist. Er ist vielmehr ein Wesen, das nur in der Begegnung mit einem Anderen, dort, wo er auf seine Verantwortung gegenüber einem Anderen aufmerksam wird, wirklich Mensch ist. Anders gesagt: Wer er ist, erkennt der Mensch erst, wenn ihm ein Anderer gegenübertritt, wenn ihm ein konkretes Du begegnet, das ihn in seiner Hilfe und Zuwendung beansprucht. In diesem Augenblick wird der Mensch zur Person.
Ist der Mensch damit im Kern als soziales Wesen bestimmt, dann muss auch zum Christsein soziale Existenz unverzichtbar hinzugehören. Bonhoeffer ist überzeugt, dass man nicht für sich selbst Christ sein kann, sondern immer nur in der Gemeinschaft der Glaubenden, in der communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen. Mehr noch: Nur im Glauben realisiert der Mensch seine soziale Grundanlage umfassend, denn im Glauben vollzieht sich eine völlige Neuorientierung der menschlichen Existenz. Während der Mensch in der Sünde in einer rein fordernden Beziehung zu anderen Menschen steht und sich nur um sich selbst dreht, ist er im Glauben von dieser Selbstbezogenheit frei und offen für den Anderen. Dies ist kein theologisches Ideal, sondern ereignet sich nach Bonhoeffer ganz konkret, eben dort, wo Menschen miteinander Kirche sind, das heißt Gottesdienst feiern, füreinander da sind, für Andere beten und sich gegenseitig Sünden vergeben. Dort realisiert sich, dass alle Christen durch ihren Glauben an Christus immer schon in einer Gemeinschaft stehen.
Bonhoeffer beschreibt in seiner Arbeit die Gemeinschaftsstruktur der Kirche – das war zur damaligen Zeit neu – mit soziologischen Methoden. Er verwendet die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Soziologie, um das Zusammensein von Menschen in der Kirche zu beschreiben. Und doch ist er davon überzeugt, dass die Wirklichkeit der Kirche sich nicht in soziologischen, das heißt empirisch wahrnehmbaren Kategorien erschöpft. Die Kirche ist als geschichtliche Gemeinschaft mit soziologischen Mitteln beschreibbar, aber sie ist «gottgesetzt zugleich» (DBW 1, 79)....