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Differenzierte Sinneserfahrungen und erweiterte Integrationsmöglichkeiten für geistig Behinderte. Ein neues sozialpädagogisches Konzept?

Das Erfahrungsfeld der Sinne EINS + ALLES des Christopherus-Heims e.V.

AutorThomas Szczepanek
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl103 Seiten
ISBN9783638876742
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,7, Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart (Sozialwesen), Veranstaltung: Arbeitsfeldseminar, 42 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Das breite Spektrum an integrativen und sinnlichen Möglichkeiten des Erfahrungsfeldes EINS + ALLES für die Bewohner des Christopherus-Heims soll im Rahmen dieser Arbeit untersucht und die Frage geklärt werden, ob das Projekt ein neues sozialpädagogisches Konzept für die Behindertenhilfe darstellen könnte. Hierzu soll zunächst auf die Idee der Sinneserfahrungsfelder eingegangen und die Bedeutung der Sinne und sinnlicher Erfahrungen für die menschliche Entwicklung nach Kükelhaus und Steiner geklärt werden. Das folgende Kapitel gibt einen Einblick in die Entwicklung der Behindertenhilfe von der Exklusion hin zur Inklusion von Menschen mit einer Behinderung in die Gesellschaft. Hierauf folgt eine Beschreibung der Umsetzung des Erfahrungsfeldes der Sinne EINS + ALLES im Christopherus-Heim und der Idee der 'inversen Integration', welche durch das Projekt verwirklicht werden soll. Anhand von Interviews mit Fachleuten der Behindertenhilfe und teilnehmender Beobachtung zum Thema Sinneswahrnehmung behinderter Menschen sollen zuletzt die Möglichkeiten des Erfahrungsfelds in Bezug auf soziale Integration und Sinnesförderung dargestellt werden.

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Leseprobe

3. Menschen mit einer Behinderung: Von der Deinstitutionalisierung zur Inklusion


 

Die Behindertenarbeit hat sich nach dem 2. Weltkrieg stark weiterentwickelt und ist bis heute einem starken Veränderungsprozess unterworfen. Um hierüber einen Überblick zu gewinnen und die Idee eines Erfahrungsfeldes der Sinne als Integrationsprojekt zu verstehen, wird im Folgenden die Entwicklung der pädagogischen Konzepte vom Normalisierungsprinzip, über die Selbstbestimmungsidee, bis hin zum Integrations- und Inklusionsgedanken geschildert und eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Deinstitutionalisierungsdebatte stattfinden.

 

Doch was genau ist Behinderung eigentlich? Behinderung ist ein synonymer Begriff für Anomalie, also für einen regelwidrigen Zustand. Was dies genau bedeutet, wird je nach wissenschaftlichem Standpunkt unterschiedlich beantwortet.

 

Die Weltgesundheits­organisation (WHO) unterscheidet die folgenden Aspekte von Behinderung:

 

  Behinderung als medizinisches Problem (Impairment): physische oder psychische Mängel oder Abnormitäten des Körpers.

 

  Behinderung als psychisches Problem (Disability): erschwerte Alltagssituation durch Funktionsbeeinträchtigung des Körpers.

 

  Behinderung als soziales Problem (Handicap): Nachteile, Stigmatisierung und Beeinträchtigungen für den Menschen.[56]

 

3.1 Das Normalisierungsprinzip


 

Nach dem 2. Weltkrieg begründete Bank-Mikkelsen, der Direktor der dänischen Sozial­verwaltung, das Normalisierungsprinzip mit dem Ziel das Leben von Menschen mit Behinderung, die isoliert und teils unter unmenschlichen Bedingungen in Heimen unter­gebracht waren, normaler zu gestalten. 1959 wurde das Prinzip der Normalisierung in die dänische Gesetzgebung über die Betreuung von geistig behinderten Menschen aufge­nommen und fand seit dem seine Verbreitung und systematische Ausarbeitung in der westlichen Welt.[57]

 

Das Normalisierungsprinzip sichert Menschen mit einer Behinderung die gleichen Rechte und Pflichten zu wie jedem anderen Menschen einer Gesellschaft, es verspricht ihnen trotz ihrer Behinderung Akzeptanz und Anerkennung als Bürger einer Gesellschaft und bein­haltet ein Recht auf angemessene medizinische, pädagogische usw. Unterstützung und Förderung. Mit Normalisierung ist jedoch nicht die Anpassung an die gesellschaftliche Mehrheit gemeint, sondern die Bereitstellung ‚normaler’ Lebensbedingungen, wie sie jedem anderen Bürger einer Gesellschaft auch zur Verfügung stehen.[58] Nicht der behin­derte Mensch, sondern dessen Umgebung und soziales Umfeld soll dahingehend ‚normali­siert’ werden, dass ein menschenwürdiges Leben für jeden möglich wird. So wird im Sinne des Normalisierungsprinzips das Normale nicht als feste Norm, sondern als individueller Standard verstanden:[59] „Es sei „normal, anders zu sein“, weil jeder Mensch einzigartig ist“[60]. Oder wie der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte: „In Wirk­lich­keit ist Behinderung die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt wird“[61].

 

Der Schwede Bengt Nirje differenzierte 1969 das Normalisierungsprinzip auf acht Lebens­bereiche:

 

  Normaler Tagesablauf: Nahrungsaufnahme, Wach- und Schlafrhythmus

 

  Normaler Wochenablauf: getrennte Wohn-, Arbeits- bzw. Schul- und Freizeitbereiche

 

  Normaler Jahresablauf: Feiertage, Urlaube und Freizeiten

 

  Normaler Lebenszyklus: altersentsprechende Umweltgestaltung

 

  Normaler Respekt: Recht auf Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit

 

  Normale zweigeschlechtliche Beziehungen: angemessener zwischengeschlechtlicher Kontakt

 

  Normaler Lebensstandard: angemessener wirtschaftlicher Standard

 

  Normale Umweltbedingungen: angemesser Standard für Einrichtungen.[62]

 

Mit dem Normalisierungsprinzip, insbesondere auf das Bestreben der Bundesvereinigung Lebenshilfe hin, verbesserte sich die Lebenssituation behinderter Menschen in der Bundes­republik in den 60er- und 70er-Jahren vehement. Ein Sicherungssystem aus Vorsorge­untersuchungen für Kinder, Frühberatungs- und Frühförderungsstellen wurde aufgebaut. Einrichtungen, wie Sonderkindergärten, Tagesförderstätten und Schulen für geistig behin­derte Menschen, mussten erst neu geschaffen werden. Für Erwachsene mit einer Behin­derung brachte insbesondere die Gründung von ‚Werkstätten für behinderte Menschen’ (WfbM) eine große Verbesserung ihrer Lebensqualität mit sich.[63]

 

In der praktischen Umsetzung des Normalisierungsprinzips ergeben sich viele zum Teil bis heute ungelöste Probleme, die wohl dazu führen, dass in Deutschland Deinstitutionali­sierung noch nicht sehr weit realisiert wurde. So endet das Selbstbestimmungsrecht an dem Punkt, an dem eine Gefährdung für den zu Betreuenden entsteht und Mitarbeiter straf­rechtliche Konsequenzen befürchten müssen. Man spricht dem behinderten Menschen das Recht auf Selbstgefährdung oder Verwahrlosung ab. Außerdem führt die Förderplanung, die ja eigentlich der Förderung von Selbstständigkeit dienen soll, häufig durch ein endloses fremdbestimmtes Trainingsprogramm und damit zur Abhängigkeit des Menschen mit einer geistigen Behinderung.[64]

 

Auch die Orientierung an der Normalisierung, also der Bereitstellung ‚normaler’ Lebens­bedingungen, an Kriterien der Mittelschichtgesellschaft, bringt die Problematik mit sich, dass die individuellen Bedürfnisse eines Menschen mit Behinderung vernachlässigt werden. Das Ziel genauso oder in den gleichen Lebensverhältnissen zu leben, wie nicht­behinderte Menschen, ist häufig unerreichbar. Es droht die Gefahr, dass „Normali­sierung zur Normierung“[65] verkommt und Individualisierung zur Vereinsamung führt, indem der Mensch aus seinem sozialen Gefüge genommen wird und seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft verliert. Gerade hier kann die Integration in eine Heim­gemeinschaft dem Menschen eine größeres Maß an Lebensqualität bieten, als dies bei der Autonomie der Fall wäre.[66]

 

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage, was eigentlich normal ist? Wenn man die Pluralisierung der Lebensformen und die zunehmende Individualisierung in der modernen Gesellschaft betrachtet, kann man „wahrnehmen, wie wenig „normal“ das „Normale“ ist und wie sehr es dem Wechsel unterliegt“[67]. Ist es wirklich richtig, auch den behinderten Menschen dem enormen Leistungsdruck, dem hektischen Lebensstil oder der Individualisierung unserer modernen Gesellschaft auszusetzen, wenn diese auch schon für sogenannte nichtbehinderte Menschen äußerst schädlich sind, wie das große Risiko von Herzinfarkten oder Schlaganfällen belegt[68], welche durch das moderne, sogenannte ‚normale’ Leben ausgelöst werden? Normalität ist somit stark vom jeweiligen Zeitgeist, von dem, was „in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als üblich“[69] gilt, abhängig.[70]

 

Trotz dieser Problematiken hat das Prinzip der Normalisierung eine große Bedeutung für die Entwicklung der Behindertenhilfe und ist bis heute eines der wichtigen Maxime in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung.

 

3.2 Selbstbestimmung, Autonomie und Empowerment


 

Eigentlich sollte Selbstbestimmung in einer rechtsstaatlichen demokratischen Gesellschaft wie der unseren eine Selbstverständlichkeit sein, die jedem Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. Jedoch in der Realität haben Menschen mit einer geistigen Behinderung weit weniger Möglichkeiten über sich und ihr Leben zu entscheiden als andere Menschen. Die Sichtweise, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung, also mit einer verringer­ten kognitiven Leistungsfähigkeit, keine vernunftmäßigen Entscheidungen treffen können, ist weit verbreitet und führt häufig zu einer Entmachtung des behinderten Menschen und einer Verantwortungsübernahme durch andere, wie etwa im Betreuungs­recht (§§ 1896-1908 BGB).[71]

 

Allgemein versteht man unter Selbstbestimmung oder Autonomie Entscheidungsfreiheit, individuelle Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit von äußeren Zwängen, die freie Wahl zwischen Alternativen, das Leben so zu gestalten, wie man das möchte. Der Begriff der Freiheit hat in der westlichen Kultur eine lange Geschichte. In der Philosophie meint Freiheit passiv die Unabhängigkeit von Fremdbestimmung und aktiv die Eigen­verantwor­tung, wie es Kant in seinem kategorischen Imperativ formulierte: „Handle jederzeit nach derjenigen Maxim, deren Allgemeinheit als Gesetz du zugleich...

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