Die Behindertenarbeit hat sich nach dem 2. Weltkrieg stark weiterentwickelt und ist bis heute einem starken Veränderungsprozess unterworfen. Um hierüber einen Überblick zu gewinnen und die Idee eines Erfahrungsfeldes der Sinne als Integrationsprojekt zu verstehen, wird im Folgenden die Entwicklung der pädagogischen Konzepte vom Normalisierungsprinzip, über die Selbstbestimmungsidee, bis hin zum Integrations- und Inklusionsgedanken geschildert und eine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Deinstitutionalisierungsdebatte stattfinden.
Doch was genau ist Behinderung eigentlich? Behinderung ist ein synonymer Begriff für Anomalie, also für einen regelwidrigen Zustand. Was dies genau bedeutet, wird je nach wissenschaftlichem Standpunkt unterschiedlich beantwortet.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet die folgenden Aspekte von Behinderung:
Behinderung als medizinisches Problem (Impairment): physische oder psychische Mängel oder Abnormitäten des Körpers.
Behinderung als psychisches Problem (Disability): erschwerte Alltagssituation durch Funktionsbeeinträchtigung des Körpers.
Behinderung als soziales Problem (Handicap): Nachteile, Stigmatisierung und Beeinträchtigungen für den Menschen.[56]
Nach dem 2. Weltkrieg begründete Bank-Mikkelsen, der Direktor der dänischen Sozialverwaltung, das Normalisierungsprinzip mit dem Ziel das Leben von Menschen mit Behinderung, die isoliert und teils unter unmenschlichen Bedingungen in Heimen untergebracht waren, normaler zu gestalten. 1959 wurde das Prinzip der Normalisierung in die dänische Gesetzgebung über die Betreuung von geistig behinderten Menschen aufgenommen und fand seit dem seine Verbreitung und systematische Ausarbeitung in der westlichen Welt.[57]
Das Normalisierungsprinzip sichert Menschen mit einer Behinderung die gleichen Rechte und Pflichten zu wie jedem anderen Menschen einer Gesellschaft, es verspricht ihnen trotz ihrer Behinderung Akzeptanz und Anerkennung als Bürger einer Gesellschaft und beinhaltet ein Recht auf angemessene medizinische, pädagogische usw. Unterstützung und Förderung. Mit Normalisierung ist jedoch nicht die Anpassung an die gesellschaftliche Mehrheit gemeint, sondern die Bereitstellung ‚normaler’ Lebensbedingungen, wie sie jedem anderen Bürger einer Gesellschaft auch zur Verfügung stehen.[58] Nicht der behinderte Mensch, sondern dessen Umgebung und soziales Umfeld soll dahingehend ‚normalisiert’ werden, dass ein menschenwürdiges Leben für jeden möglich wird. So wird im Sinne des Normalisierungsprinzips das Normale nicht als feste Norm, sondern als individueller Standard verstanden:[59] „Es sei „normal, anders zu sein“, weil jeder Mensch einzigartig ist“[60]. Oder wie der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte: „In Wirklichkeit ist Behinderung die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt wird“[61].
Der Schwede Bengt Nirje differenzierte 1969 das Normalisierungsprinzip auf acht Lebensbereiche:
Normaler Tagesablauf: Nahrungsaufnahme, Wach- und Schlafrhythmus
Normaler Wochenablauf: getrennte Wohn-, Arbeits- bzw. Schul- und Freizeitbereiche
Normaler Jahresablauf: Feiertage, Urlaube und Freizeiten
Normaler Lebenszyklus: altersentsprechende Umweltgestaltung
Normaler Respekt: Recht auf Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit
Normale zweigeschlechtliche Beziehungen: angemessener zwischengeschlechtlicher Kontakt
Normaler Lebensstandard: angemessener wirtschaftlicher Standard
Normale Umweltbedingungen: angemesser Standard für Einrichtungen.[62]
Mit dem Normalisierungsprinzip, insbesondere auf das Bestreben der Bundesvereinigung Lebenshilfe hin, verbesserte sich die Lebenssituation behinderter Menschen in der Bundesrepublik in den 60er- und 70er-Jahren vehement. Ein Sicherungssystem aus Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, Frühberatungs- und Frühförderungsstellen wurde aufgebaut. Einrichtungen, wie Sonderkindergärten, Tagesförderstätten und Schulen für geistig behinderte Menschen, mussten erst neu geschaffen werden. Für Erwachsene mit einer Behinderung brachte insbesondere die Gründung von ‚Werkstätten für behinderte Menschen’ (WfbM) eine große Verbesserung ihrer Lebensqualität mit sich.[63]
In der praktischen Umsetzung des Normalisierungsprinzips ergeben sich viele zum Teil bis heute ungelöste Probleme, die wohl dazu führen, dass in Deutschland Deinstitutionalisierung noch nicht sehr weit realisiert wurde. So endet das Selbstbestimmungsrecht an dem Punkt, an dem eine Gefährdung für den zu Betreuenden entsteht und Mitarbeiter strafrechtliche Konsequenzen befürchten müssen. Man spricht dem behinderten Menschen das Recht auf Selbstgefährdung oder Verwahrlosung ab. Außerdem führt die Förderplanung, die ja eigentlich der Förderung von Selbstständigkeit dienen soll, häufig durch ein endloses fremdbestimmtes Trainingsprogramm und damit zur Abhängigkeit des Menschen mit einer geistigen Behinderung.[64]
Auch die Orientierung an der Normalisierung, also der Bereitstellung ‚normaler’ Lebensbedingungen, an Kriterien der Mittelschichtgesellschaft, bringt die Problematik mit sich, dass die individuellen Bedürfnisse eines Menschen mit Behinderung vernachlässigt werden. Das Ziel genauso oder in den gleichen Lebensverhältnissen zu leben, wie nichtbehinderte Menschen, ist häufig unerreichbar. Es droht die Gefahr, dass „Normalisierung zur Normierung“[65] verkommt und Individualisierung zur Vereinsamung führt, indem der Mensch aus seinem sozialen Gefüge genommen wird und seine Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft verliert. Gerade hier kann die Integration in eine Heimgemeinschaft dem Menschen eine größeres Maß an Lebensqualität bieten, als dies bei der Autonomie der Fall wäre.[66]
In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage, was eigentlich normal ist? Wenn man die Pluralisierung der Lebensformen und die zunehmende Individualisierung in der modernen Gesellschaft betrachtet, kann man „wahrnehmen, wie wenig „normal“ das „Normale“ ist und wie sehr es dem Wechsel unterliegt“[67]. Ist es wirklich richtig, auch den behinderten Menschen dem enormen Leistungsdruck, dem hektischen Lebensstil oder der Individualisierung unserer modernen Gesellschaft auszusetzen, wenn diese auch schon für sogenannte nichtbehinderte Menschen äußerst schädlich sind, wie das große Risiko von Herzinfarkten oder Schlaganfällen belegt[68], welche durch das moderne, sogenannte ‚normale’ Leben ausgelöst werden? Normalität ist somit stark vom jeweiligen Zeitgeist, von dem, was „in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als üblich“[69] gilt, abhängig.[70]
Trotz dieser Problematiken hat das Prinzip der Normalisierung eine große Bedeutung für die Entwicklung der Behindertenhilfe und ist bis heute eines der wichtigen Maxime in der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Eigentlich sollte Selbstbestimmung in einer rechtsstaatlichen demokratischen Gesellschaft wie der unseren eine Selbstverständlichkeit sein, die jedem Menschen gleichermaßen zur Verfügung steht. Jedoch in der Realität haben Menschen mit einer geistigen Behinderung weit weniger Möglichkeiten über sich und ihr Leben zu entscheiden als andere Menschen. Die Sichtweise, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung, also mit einer verringerten kognitiven Leistungsfähigkeit, keine vernunftmäßigen Entscheidungen treffen können, ist weit verbreitet und führt häufig zu einer Entmachtung des behinderten Menschen und einer Verantwortungsübernahme durch andere, wie etwa im Betreuungsrecht (§§ 1896-1908 BGB).[71]
Allgemein versteht man unter Selbstbestimmung oder Autonomie Entscheidungsfreiheit, individuelle Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit von äußeren Zwängen, die freie Wahl zwischen Alternativen, das Leben so zu gestalten, wie man das möchte. Der Begriff der Freiheit hat in der westlichen Kultur eine lange Geschichte. In der Philosophie meint Freiheit passiv die Unabhängigkeit von Fremdbestimmung und aktiv die Eigenverantwortung, wie es Kant in seinem kategorischen Imperativ formulierte: „Handle jederzeit nach derjenigen Maxim, deren Allgemeinheit als Gesetz du zugleich...