Einleitung
Welche Rolle sollten die digitalen Medien in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen spielen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns auch mit grundlegenderen Fragen befassen: Auf welche Zukunft möchten wir sie vorbereiten? Können digitale Medien hierfür produktiv genutzt werden? In welchen Entwicklungsphasen, in welchem Ausmaß, in welcher Weise und für welche Lernziele? Oder steht der Einsatz digitaler Medien dem Erreichen der gewünschten Entwicklungsziele entgegen, abhängig von Entwicklungsphasen, Umfang und Art des Einsatzes? Und auch: Wie können wir angesichts der Macht von Medien-Großkonzernen sicherstellen, dass diese grundlegenden Fragen überhaupt noch gestellt werden, wenn es um politische Entscheidungen zur »Bildung in der digitalen Welt« geht?
Im vorliegenden Band sind 13 Beiträge vereint. Sie gehen zum Teil auf Vorträge der Fachtagung »futur iii 2018 – Bildschirmmedien und Kinder« zurück (Lankau, Grassl, Büsching, Teuchert-Noodt, Zieher, Breyer-Mayländer, Hoffmann, Hensinger, Leipner). Die Tagung wurde von der Hochschule Offenburg in Kooperation mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.) und dem Bündnis für humane Bildung ausgerichtet. Darüber hinaus haben wir Autoren um Beiträge angefragt, die die Kontroverse um die Rolle digitaler Medien für das Lernen und gesunde Aufwachsen im digitalen Zeitalter um wichtige Aspekte bereichern (Zimmer, Hübner, Reckert, Stalter).
Beide Herausgeber kennen nur zu gut die Rolle des »Alibi-Kritikers«. Zugespitzt formuliert: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Podium zum Thema »digitale Bildung« zwischen einer Game Designerin, einem Didaktik-Professor, der die Potenziale von Gamification untersucht, einem Netzbetreiber und einem großen Hardware-Hersteller. Sie allein sollen über die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen ein kurzes Statement abgeben. Keine gute Voraussetzung für einen ernsthaften fachlichen Diskurs. Nun legen wir hier einen Band vor, in dem eindeutig die kritischen Stimmen überwiegen. Kein Grund, es anders zu machen, meinen wir. Denn auf dieses eine Buch kommen mehr als hundert andere, in denen die kritischen Stimmen entweder gar nicht oder eben nur als Alibi-Kritiker vorkommen. Unser Ziel war es, auf der Tagung und in diesem Band sowohl den selten gehörten Kritikern ein Sprachrohr zu geben als auch Positionen einzubeziehen, die sich an der KMK-Strategie »Bildung in der digitalen Welt« orientieren. Vielen Dank an alle Autoren, insbesondere an diejenigen, die sich hier in der sicherlich ungewohnten Rolle als Vertreter einer Mindermeinung wiederfinden und sich dabei hoffentlich nicht als »Alibi-Befürworter« wahrnehmen. Eine Zukunft, in der digitale Medien dort – und nur dort – eingesetzt werden, wo sie dem Wohlergehen, der Emanzipation durch Bildung und der Mitmenschlichkeit dienen, wird nur möglich sein, wenn eine »Diskurserweiterung« gelingt, wenn Pädagogen, Pädiater, Polizisten, Programmierer und Psychologen,1 wenn also Menschen unterschiedlichster Professionen miteinander reden über das, was Bildschirme mit Kindern machen – und Kinder mit Bildschirmen.
Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die Beiträge des Bandes, die auch unabhängig voneinander und von der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden können. Zwischen den Aufsätzen eingestreut finden Sie kurze Erfahrungsberichte, die von der Initiative »Eltern für eine gute Schule« (www.eltern-fuer-eine-gute-Schule.de) gesammelt wurden. Die Initiative, so ihre Selbstbeschreibung, »besteht aus Eltern und interessierten Bürgern, denen die Entwicklung der Kinder am Herzen liegt und die unzufrieden mit dem derzeitigen Zustand der Schule sind.« Sie erbaten von Eltern, Lehrern und Jugendlichen Erfahrungsberichte rund um das Thema digitale Medien und stellten dabei unter anderem die Frage: »Wie haltet ihr es mit dem Handy, ohne dass es zu sehr euren Alltag bestimmt?«
Die ersten vier Beiträge behandeln das Thema aus einer übergeordneten Perspektive. Einen theoretischen Einstieg ins Thema geben Jasmin Zimmer, Paula Bleckmann und Brigitte Pemberger, indem sie zunächst die Vorteile der Technikfolgenabschätzung für die Bewertung und Steuerung von komplexen Zukunftsszenarien beschreiben. Entscheidungen über Technologien sollten demnach auf Grundlage von Erkenntnissen zur langfristigen Chancen-Risiken-Balance getroffen werden. Das wird nach Ansicht der Autorinnen bei der sogenannten »digitalen Bildung« bisher nur sehr unzulänglich verwirklicht.
Demgegenüber stellt Michael Zieher, Leiter des Referats für Medienpädagogik, Digitale Bildung im Baden-Württembergischen Kultusministerium die Pläne zur Umsetzung der landesweiten Digitalisierungsstrategie »digital@bw« vor. Ausgehend von einer positiven Bilanz thematisiert er die didaktisch methodische Verankerung im Unterricht, die Qualifizierung der Lehrkräfte und den Aufbau der technischen Voraussetzungen. Dabei stellt er Bezüge zu übergeordneten Strategiepapieren wie der KMK-Strategie »Bildung in der digitalen Welt« her.
Es folgt ein Beitrag von Edwin Hübner, der grundsätzliche Überlegungen zu einer Pädagogik vom Kinde statt vom Computer aus enthält. Bezüge zu politischen Strategiepapieren oder zum aktuellen Diskurs, wie er z. B. in der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) geführt wird, lässt er außen vor. Einen hohen Stellenwert hat für Hübner die Erziehung zur Freiheit. Die Entscheidung über den Medieneinsatz müsse immer auch berücksichtigen, welche anderen (realen) Möglichkeitsräume hiermit möglicherweise verschlossen werden. Vertieft wird dies am Beispiel des Verlusts der Schreibkultur.
Ralf Lankau thematisiert den historischen Kontext und zugrunde liegende wirtschaftliche Interessen des Digitalisierungshypes. So wird die Grundsatzfrage, was Schule vermitteln soll, seit etwa 200 Jahren kontrovers diskutiert: Bildung oder Ausbildung? Historisch belegt sind außerdem wiederholte Versuche, Unterricht und Lernprozesse kybernetisch zu steuern. Aus humanitärer Sicht lautet die zentrale Frage: Kann man Lernprozesse wie Produktionsprozesse steuern und quantifizieren? Bildung 4.0 in Analogie zu Industrie 4.0?
Weitere drei Kapitel werfen einen interdisziplinären Blick auf Auswirkungen der zunehmenden Bildschirmdominanz in der heutigen Kindheit. Dabei geht es nur am Rande um das Setting Schule. Im Zentrum stehen die Mediennutzung in der außerschulischen Lebenswelt (Familie, Freizeit) und ihre Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung im körperlichen, psychosozialen und kognitiven Bereich. Uwe Büsching schildert als Vorstand des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) Ergebnisse der BLIKK-Studie. Bei dieser Querschnittstudie wurden in 79 pädiatrischen Praxen Eltern mithilfe von Fragebögen zum Sozialstatus, zum psychosozialen Verhalten der Kinder und zur Nutzung digitaler Bildschirmmedien in Familien befragt. Die Ergebnisse zeigen eindeutige Befunde über die Korrelate früher und dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung, aus denen sich klare Handlungsempfehlungen an die Eltern ableiten lassen.
Die emeritierte Neurobiologie-Professorin Gertraud Teuchert-Noodt schildert Lernprozesse und die Entwicklung des kindlichen Gehirns. In ihrem Beitrag wird deutlich, wie das Gehirn Impulse verarbeitet, was lernförderlich oder lernverhindernd ist. Daraus leitet sie klare Empfehlungen für Lernumgebungen entsprechend des Lebensalters ab.2
Einen anderen Weg geht Till Reckert, der in seinem praxisnahen Beitrag anschauliche Sätze formuliert, die ein Kinderarzt Eltern in den U-Untersuchungen nahebringen könnte. Mit direktem Bezug zum Lebensalter und zu Erfahrungen der Kinder werden typische Situationen beschrieben und altersgerecht aufgelöst.
Nach dem Allgemeinen folgt das Besondere: Drei Beiträge gehen auf spezifische Digital-Risiken in abgrenzbaren Bereichen ein. Sonja Hoffmann referiert aus der alltäglichen Präventionsarbeit der Polizei. Dazu gehören rechtliche Fragen zu Nutzungs- oder Urheberrechten, aber auch die Frage, wie man sich bei strafbaren Handlungen (Cybermobbing, Grooming, Stalking u. a.) verhält. Denn es gibt kein Kinder- oder Jugendnetz, sondern nur ein großes, allgemeines Web mit allen Spielarten des Positiven wie Negativen. Kinder und Jugendliche brauchen – als besonders einfach zu beeinflussende Zielgruppe – neben...