1 Die Dekonstruktion von Geschäftsprozessen und die Disruption von Geschäftsmodellen – der neue Dreiklang
Pierre-Michael Meier
Die ganze Welt spricht von Digitalisierung und digitaler Transformation. Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde noch von EDV (Elektronische Datenverarbeitung) und noch nicht mal von Health-IT (Information Technology) gesprochen.
Eine einfache Unterscheidung ist sicherlich, dass
• IT in der Gesundheitswirtschaft alles an Hard- und Software im Bereich Informations-, Kommunikations-, Leit- und Medizintechnik ist und mittels IT nutzenstiftende Lösungen für Probleme in analogen oder teilweise elektronisch organisierten Prozessen (Medienbrüche) erarbeitet werden können,
• digitale Transformation etablierte und funktionale Geschäftsprozesse, ob analog oder elektronisch, dekonstruiert, um neue Geschäftsmodelle zu etablieren, wobei von Disruption gesprochen wird, wenn sich die Geschäftsmodelle dadurch auszeichnen, dass diese den etablierten Wettbewerb zeitnah auslöschen. Ist der Erfolg des Geschäftsmodells weniger fundamental, wird von Transformation oder gar Evolution gesprochen, wobei das sogenannte Kerngeschäft darin besteht, mit Daten und Informationen Geld zu verdienen und somit »Information Management«. In der Branche Gesundheitswirtschaft sprechen wir zwangsläufig vom strategischen Health Information Management (HIM).
Abb. 1.1: Wo stehen Sie als Institution, nicht natürliche Person? Reden Sie noch von IT, oder schon von strategischem Health Information Management (HIM)?
Die Wortwahl nutzenstiftend ist eine positive Kommunikation. Als Bürger dieses Landes kann man zur der Wahrnehmung gelangen, dass IT oder umgangssprachlich die Digitalisierung durchweg positiv betrachtet wird, wenn man sich vor Augen führt, dass laut Statistik-Portal »statista« Ende des Jahres 2017 unvorstellbare 76 Millionen Deutsche über ein Smartphone verfügten.
Sieht man sich jedoch die Wortwahl »Digital Transformation – transforming health care in disruptive times« an, so ist die Vermutung richtig, dass hier eine Risikokommunikation gewählt wurde, d. h.: Was wird die Folge dieser Digitalisierung sein, wenn die Akteure die Veränderungen nicht antizipieren oder sogar mitgestalten.
Erfahrungen in der digitalen Disruption machen wir täglich als »Konsument«. In der Gesundheitswirtschaft erlebten Mitglieder der ENTSCHEIDERFABRIK das 2017 sehr eindringlich auf der Entscheider-Reise USA zum Leadership Summit der American Hospital Association in San Diego. Die Frage, die überall gestellt wird, ist die, wie der Patient und sein Smartphone bzw. der Bürger mit seiner individuellen Gesundheitsakte oder persönlichen Konsumenten-Patientenakte im Zusammenwirken mit den institutionellen Patientenakten der Leistungserbringer die Prozesse und Strukturen verändern wird und zwar, ohne Rücksicht auf die Normen und Regeln der jeweiligen nationalen Gesundheitssystemgestaltung, d. h. bei uns der Selbstverwaltung. In San Diego erhielten die Mitreisenden Antworten und sie konnten sich davon überzeugen, wie Klinikgruppen bzw. ganze Health-Care-Systeme bestehend aus ambulanten und stationären Leistungserbringern und Kostenträgern mit bis zu 94 Anbietern von individuellen Gesundheitsakten in sämtlichen pre-akutstationären, akutstationären und post-akutstationären Prozessschritten interagierten und die Patienten je nach Bedürfnis oder Indikation mit unterschiedlichsten mobilen Smartphone-Apps auf eben diese individuellen Gesundheitsakten zugriffen und Daten mit den institutionellen Patientenakten z. B. der Kliniken mehrmals im Behandlungsprozess austauschten.
Führen wir uns nun vor Augen, dass Ende 2017 weit mehr als 67 Millionen Smartphones in Deutschland genutzt werden, so ist offensichtlich, dass das Individuum mit seinem Device immer und mit den aktuellsten Updates und Upgrades zu jeder Zeit ready für die digitale Patientenakte ist, zumal Anbieter schon heute den Austausch mit den institutionellen Patientenakten nach ihrem Industriestandard propagieren. Jedoch müssen sich die Leistungserbringer erst noch in größerer Anzahl auf den Weg in das Zeitalter des Health Information Management (HIM) machen und somit auch operativ ihre ganz IT-Landschaft hin zu einer Plattformstrategie mit Archiv- und Interoperabilitätsplattform, der Trennung von Befundung und Archivierung, der Anbindung von nutzenstiftenden Mehrwertapplikationen etc. umbauen müssen
Die Interaktion von individuellen Gesundheitsakten mit institutionellen Patientenakten ist eine Dekonstruktion von bisher etablierten und auch bereits gedachten Geschäftsprozessen. Es werden also neue Geschäftsprozesse in der Medizin konstruiert, »medizinische Services«.
Abb. 1.2: Interaktion von individuellen Gesundheitskaten und institutionellen Patientenakten, d. h. medizinische Daten, prozessuale Daten etc. zu jeder Zeit und an jedem Ort: Der Patient wird zum Information Broker: New Health Information Exchange
Abb. 1.3: Was ist möglich: Überblick Apple Care Kit, © aycan Digitalsysteme GmbH
Abb. 1.4: Apple Care Kit: Elemente des User Interface, © aycan Digitalsysteme GmbH
Die Frage, die sich in diesem Werk wie selbstverständlich stellen muss, ist:
• Werden wir auch eine Disruption bei den medizinischen Services haben – was ist mit Big Data, Clinical Data Decision Support Systems etc.?
• Wer wird der Treiber der Interaktion zwischen institutionellen Patientenakten und individuellen Gesundheitsakten sein?
• Wer wird der Treiber disruptiver medizinischer Services in Deutschland sein?
Treiber der Kommunikation zwischen institutionellen Patientenakten und individuellen Gesundheitsakten sind bei über 67 Millionen Smartphones in Deutschland – die Altersgruppe, die noch zweistellige Zuwachsraten verzeichnet, ist älter als 65 Jahre – mit Sicherheit die Patienten, aber auch der »Anwalt« der Patienten, d. h. die Krankenkassen.
Warum die Krankenkassen als Anbieter von individuellen Gesundheitsakten auftreten, lässt sich in einer nutzenstiftenden Kommunikation und in einer Risikokommunikation ausdrücken.
Nutzenstiftende Kommunikation:
• Transparenz in einer Akte bzgl. aller Informationen – administrativ und medizinisch
• Datenaustausch zwischen ambulantem und stationären Sektor »durch« den Patienten als Information Broker
• Patient wird Herr der Daten – selbstbestimmter Information Broker
Risikokommunikation:
• Die Kassen haben Angst, ins Hintertreffen zu geraten bzw. dass der Patient seine Daten bei Apple/Google ablegt und nicht mehr bei iIhnen.
• Die Kassen möchten wie Apple und Google noch mehr Daten von den Patienten.
Abb. 1.5: Die »Mobile – externe Betreuung« des Individuums, © aycan Digitalsysteme GmbH
Abb. 1.6: Die »Arbeit«, vor der jeder Leistungserbringer steht, um mit den individuellen Gesundheitsakten kommunizieren zu können
Abb. 1.7: Auf dem Weg zur Plattformstrategie mit Archiv- und Interoperabilitätsplattform
Abb. 1.8: Klinisches Informationsmanagement: Unterstützung für Entscheidungen, Prozesse, Semantik und Soft- und Hardware-Infrastruktur
Fakt ist, dass die Krankenkassen die bisherige Art des Health Information Exchange (HIE) in Deutschland fundamental auf den Kopf stellen und die AOK und die TK mit ca. 30 Millionen Versicherten vorangehen! Sicher ist aber auch, dass im Sinne der betriebswirtschaftlichen Markteinführungsstrategie die Krankenkassen, die »Fast Follower« hinter den »First Movern« Apple und Google sind und dass es bereits heute weitere Aktenanbieter aus dem Bereich der Kliniken (z. B. Helios), der privaten Krankenkassen und der IT-Industrie (z. B. CompuGroup Medical) gibt. Wir erwarten weitere Aktenanbieter aus dem Bereich der Gebietskörperschaften (z. B. Städte und Kreise) und anderer Branchen (z. B. Banken und Autohersteller).
Die These ist, dass die Krankenkassen versuchen werden, den Bereich der »medizinischen oder auch medizinischen Daten-Services« zu dominieren.
Abb. 1.9: Das Projekt der AOK: Das Gesundheitsnetzwerk bzw. die individuelle Gesundheitsakte, © AOK-Bundesverband
Abb. 1.10: Wer wird erfolgreicher Aktenanbieter?
Die sich aufdrängende Frage ist: Bei welchem Aktenanbieter würden Sie Ihre Daten...