1. Einleitung:
Nach dem Neoliberalismus
Manche Bücher müssen mehr als einmal geschrieben werden. Als ich vor Jahren begann, mich mit dem digitalen Kapitalismus als bedeutendem Konzept zum Verständnis unserer Gegenwart zu beschäftigen, war mir schnell klar, dass dessen Kern in Prozessen der Konzentration ökonomischer Macht zu suchen sein würde. Wer in etwa mein Alter hat und um das Jahr 2010 begann, sich intensiver mit der Entwicklung des kommerziellen Internets zu befassen, für den erschienen Debatten der neunziger und frühen nuller Jahre, in denen über die Dezentralität und Herrschaftsfreiheit des Internets diskutiert worden war, wie aus der Welt gefallen. Man brauchte nur sein Smartphone in die Hand zu nehmen, um zu merken, dass das Internet nicht nur durch und durch kommerzialisiert war, sondern auch von einer sehr kleinen Zahl sehr großer Unternehmen dominiert wurde.
Etwa zu dem Zeitpunkt, als ich über den digitalen Kapitalismus zu schreiben begann, veröffentlichte der amerikanische Wirtschafts- und Technikhistoriker Dan Schiller sein zweites großes Buch zu diesem Thema (2014). Schiller hatte den Begriff des digitalen Kapitalismus im Jahr 2000 als Erster ins Feld geführt, um Entwicklungen innerhalb der globalen politischen Ökonomie auf den Begriff zu bringen. Für ihn bildet die Diffusion digitaler Technologien in allen Teilen der Wirtschaft einen Metatrend, der ab den sechziger Jahren mit der Restrukturierung des Kapitalismus nach dessen fordistischer Expansionsphase zusammenfällt. Der digitale Kapitalismus, so Schiller, sei in Bezug auf die Größenordnung der Diagnose und deren empirische Relevanz vergleichbar mit dem industriellen Kapitalismus, dessen Expansionsphase vom späten 19. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre gereicht habe (2014: 8). Danach seien die Basistechnologien aller bedeutenden Innovationen digitaler Natur gewesen. Nicht mehr die mechanischen Muskeln der industriellen Produktion, sondern die digitalen Netze der Informations- und Kommunikationstechnologien seien ins Zentrum kapitalistischer Reorganisation gerückt.
In seinem ersten Buch aus dem Jahr 2000 befasste sich Schiller vor allem mit der globalen Expansion des Informations- und Kommunikationstechnologie-Sektors. Sein Ziel war es nachzuweisen, dass dieser ab den sechziger Jahren das entscheidende Vehikel für die Verteidigung und den Ausbau US-amerikanischer Hegemonie gewesen ist. Durch das Setzen technischer Standards, die Errichtung der entscheidenden Infrastrukturen und die folgende Expansion der US-amerikanischen Kulturindustrie hätten die USA ihre während des Kalten Kriegs systematisch bedrohte Vormachtstellung innerhalb ihrer geopolitischen Einflusssphäre gesichert. Die Leitunternehmen dieser langen Epoche waren zunächst Telekommunikationsunternehmen wie AT&T, die Filmindustrie und in den neunziger Jahren dann das Duo aus Microsoft und Intel (»Wintel«, das Kofferwort steht für mit Windows betriebene Personal Computer mit Intel-Prozessoren).
Die argumentative Grundfigur Schillers lautet, dass diese Unternehmen in zweifacher Hinsicht die weltweite Hegemonie der USA gestützt hätten: Erstens belegten ihre Erfolge, dass amerikanische Unternehmen die entscheidenden Wachstumsmärkte des Postfordismus dominierten, was – ohne dass Schiller dies für näher begründungsbedürftig hält – der geopolitischen Vormachtstellung der USA zugearbeitet habe. Zweitens – hier ist Schiller ganz Sohn seines Vaters, des legendären Medienkritikers Herbert Schiller, der in den Medien das zentrale Instrument der Legitimierung des militärisch-industriellen Komplexes seiner Zeit sah (Schiller 1989; 1996) – hätten Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) die Welt mit amerikanischen Medienproduktionen überschwemmt, damit die US-Lebensweise globalisiert und im Bereich der Kulturindustrie deren Hegemonie festgeschrieben.
In seinem zweiten Buch zum digitalen Kapitalismus argumentiert Schiller dann noch wesentlich breiter: Nun möchte er zeigen, dass andere Diagnosen zur politischen Ökonomie des Postfordismus in seinem Begriff aufgehoben werden können. Lean Production, Globalisierung oder der Aufstieg des Finanzmarktes – alles basiere auf digitalen Technologien, weshalb der Kapitalismus auch jenseits der IKT-Branchen immer digitaler geworden sei (2014: 6). Es ist die Diffusion bestimmter Technologien in alle Arbeits- und Lebensbereiche, die den Kapitalismus in diesem Bild digital macht.
Tautologische Metapher oder analytische Kategorie?
Für Leser von Schiller wird dabei allerdings immer schwieriger zu erkennen, was eigentlich den Kern dieser vermeintlich neuen Form des Kapitalismus ausmacht: Welchen analytischen Wert für eine Theorie der politischen Ökonomie und Gesellschaft hat beispielsweise der Umstand, dass heutzutage Chips in Autos stecken, ebenso wie in den Maschinen, die die Autos bauen, dass am Finanzmarkt Algorithmen große Bedeutung haben, ebenso wie in Computerspielen, dass immer mehr Menschen an Computern arbeiten und Waschmaschinen sich neuerdings mit dem Internet verbinden können? Als Historiker ist für Schiller diese Frage vielleicht nicht entscheidend. Er folgt einfach den Linien, die ihn aus dem Telekommunikationsbereich im Lauf der Zeit in beinahe alle Teilbereiche von Wirtschaft und Gesellschaft geführt haben. Analytisch manövriert sich Schiller mit dieser Prozessorientierung nicht nur in eine »nominalistische Sackgasse«, wodurch die Verbindung der von ihm beschriebenen Ereignisse zu einer strukturellen Veränderung des Kapitalismus unklar bleibt (Pace 2018: 256). Der analytische Gehalt von Schillers Konzept erscheint am Ende auch tautologisch: Das Digitale am digitalen Kapitalismus ist die digitale Technologie.[1]
Als Soziologe war dies für mich unbefriedigend. An einer Theorie der Gesellschaft interessiert, stellt die Verbreitung digitaler Technologien in den meisten Arbeits- und Lebensbereichen für mich keinen relevanten Faktor dar, solange damit keine Hypothese darüber verbunden ist, welche Logik der Ordnung von Wirtschaft und welche Effekte für Gesellschaft damit impliziert sind. Mich interessiert kein metaphorischer Begriff des digitalen Kapitalismus, wie er seit Beginn meiner Arbeit zum Thema auch in Deutschland immer populärer geworden ist. »Computer sind überall«,[2] ist keine analytische Aussage, die zur Bestimmung einer spezifischen Form des Wirtschaftens führt – auch wenn es natürlich stimmt.
Schillers Diagnose einer historischen Entwicklung, in deren Verlauf eine zunächst recht konzentrierte Keimzelle aus technologisch ambitionierten Unternehmen im Telekommunikationsbereich systematisch wächst und expandiert, während später die digitalen Technologien zur basalen Infrastruktur hoch entwickelter Volkswirtschaften werden, ist schwer zu widersprechen. Sie zu widerlegen, ist auch gar nicht mein Ziel. Eher scheint es mir so, dass wir uns seit einigen Jahren in einer Entwicklungsphase befinden, in der nach der Diffusion digitaler Technologien in alle Lebensbereiche eine neue Konzentration ökonomischer Macht zu beobachten ist. Das Gravitationszentrum dieser Veränderungen ist dabei nicht so diffus, wie man meinen könnte, wenn man sich vor allem darauf kapriziert, dass Computer heute eben allgegenwärtig sind. Es liegt im kommerziellen Internet, dessen Leitunternehmen zu den entscheidenden Schnittstellen für immer mehr ökonomische Prozesse geworden sind und ohne das die omnipräsenten Computer nur einfache Rechenmaschinen wären. Will man diese Konzentrationsbewegung in ihrer Entstehung, Reproduktion und in ihren Effekten soziologisch verstehen, muss man fragen, was ihren eigentlichen Kern ausmacht. Stellt man die Frage in dieser Form, opfert man die deskriptive Breite und Präzision der Geschichtswissenschaft der analytischen Schärfe einer theoretisch ambitionierten Soziologie. Man ist dann auf der Suche nach einem analytischen Begriff des digitalen Kapitalismus.
In diesem Sinn versuche ich hier einerseits, Schillers Buch ein drittes Mal zu schreiben, da empirische Veränderungen im Gegenstandsbereich dies nötig machen und da auch ich an einer umfassenden Diagnose zur Digitalisierung der Ökonomie interessiert bin. Andererseits schreibe ich...