34Redpilling für Anfänger: Undercover bei den Identitären
»Hallo Jenni!« Ein großgewachsener Typ mit rechteckiger Brille und kurzen, zurückgegelten Haaren erwartet mich im traditionellen Café Prückel in der Wiener Innenstadt. Für einen Rechtsextremen sieht er fast zu normal aus: Er trägt keine sichtbaren Tattoos, noch nicht mal einen ›fashy Undercut‹, diesen Haarschnitt, der zum Markenzeichen der Neuen Rechten wurde.
»Oh, hallo! Bist du Edwin?« Eine rhetorische Frage, denn ich kenne den Obmann der Identitären Bewegung Salzburg aus seinen diversen Auftritten in den Medien. Schließlich ist er ein prominenter Kopf der europäischen Identitären. Ein unbeholfener Händedruck, ein verstohlener Blick auf die Nachbartische, dann setze ich mich zu Edwin Hintsteiner.
Meine blonde Perücke passt zu meinem Profilbild auf Twitter, wo ich extra für die Kontaktanbahnung einen Account eröffnet habe. Jennifer Mayer, rufe ich mir ins Gedächtnis, du bist Jennifer Mayer, Philosophiestudentin aus Österreich, zurzeit im Auslandssemester in London. Eine falsche Identität anzunehmen oder sich eine Romanfigur auszudenken – fast dasselbe: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft muss man kennen, sonst kauft einem niemand die Geschichte ab.
Es ist der Tag der Nationalratswahlen in Österreich, die meisten Menschen um uns herum nippen an ihrem Kaffee und diskutieren mit ihren Nachbarn über das zu erwartende Wahlergebnis. Niemand scheint uns zu bemerken, nur eine 35elegant gekleidete ältere Dame blickt kurz von ihrem Standard auf, einer linksliberalen Tageszeitung. Ich bezweifle, dass sie einen von uns erkennt.
Damals wusste ich noch nicht, dass Hintsteiner nur wenig später insbesondere bei älteren Menschen in Österreich fast berühmt werden sollte: Einige Monate nach unserem Treffen schockierte er am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust im Januar 2018 mit einem Tweet, der in den Medien heftige Reaktionen auslöste: »Wenn man länger lebt, als man nützlich ist und vor lauter Feminismus nie Stricken lernte. Meine Oma schämt sich für euch.« Der Tweet war ein Angriff auf die parteiunabhängige Bewegung ›Omas gegen Rechts‹ und deren Protest gegen den Akademikerball, ein von der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs organisiertes, alljährlich stattfindendes Fest, das sich zu einer beliebten Zusammenkunft rechtsextremer Einflussnehmer aus ganz Europa entwickelt hat. Natürlich ist es unanständig, eine Vereinigung von Großmüttern auf diese Art und Weise anzugehen. Aber nicht nur das machte den Tweet so kontrovers. Viele brachten Hintsteiners Formulierung mit dem ›lebensunwerten Leben‹ in Verbindung, einem Ausdruck, den Hitler in einem Erlass vom 9. Oktober 1939 benutzt hatte. Darin befahl er die systematische Ermordung derjenigen, die für zu schwach, behindert oder minderwertig befunden wurden, um weiter am Leben sein zu dürfen. Zusätzlich zu den sechs Millionen Juden, 200 000 Roma und 70 000 Homosexuellen, die sie ermordeten, brachten die Nazis im Rahmen ihrer Euthanasie-Programme 275 000 behinderte und ältere Menschen um. Der Pensionistenverband Österreichs fiel ein in den Chor derjenigen, die den Tweet scharf 36verurteilten, und kritisierte Hintsteiner für seine »abscheuliche Wortwahl«.
»Dann erzähl doch mal was über dich. Wie kommt's, dass du dich für die Identitäre Bewegung interessierst? Bist du schon mal politisch aktiv gewesen?« Smalltalk ist wohl nicht Hintsteiners Ding.
»Nein, nicht wirklich, nur mal was Ehrenamtliches für die FPÖ, Flyer verteilen und so«, sage ich und hole mein Telefon aus der Tasche, als müsste ich nach einer Nachricht schauen. »Aber du weißt ja, dass ich in Kontakt bin mit Martin.« Als ich erfuhr, dass die Identitären einen britischen Ableger gründen wollen, schickte ich meine Bewerbung an das Team in Großbritannien. Daraufhin meldete sich Martin Sellner, der österreichische Kopf der Bewegung, umgehend bei mir und schlug ein Treffen in Wien vor.
Aber Sellner kann heute nicht; er präsentiert sein neues Buch Identitär! Geschichte eines Aufbruchs auf der Frankfurter Buchmesse. Auf der Messe sind mehr als 7000 Aussteller aus über 100 Ländern, aber es ist sein Verlag, der kleine Rechtsaußen-Verlag Antaios, der die ganze mediale Aufmerksamkeit bekommt. Also treffe ich mich statt mit Sellner mit Hintsteiner und erfahre erst später, dass es, während wir in Wien Kaffee trinken, auf der Buchmesse Rangeleien gibt zwischen Identitären und Protestierenden, was zu Festnahmen und Gerüchten über »Sieg Heil!«-Rufe führt.
Ich bestelle einen Cappuccino mit Sojamilch und bereue meine Wahl sofort. Hintsteiner wirft mir einen überraschten Blick zu, ist aber nur halb so erstaunt wie der Kellner. »Es tut mir leid, mein Fräulein, wir sind ein altes Wiener Kaffeehaus. Wir haben keine Sojamilch.« Hintsteiner lacht.
37»Wie lange, sagst du, wohnst du jetzt schon in London?« Meinem verlegenen Lächeln schenkt er keine weitere Beachtung. »Weißt du, es ist nämlich interessant, finde ich«, fährt er fort und zwirbelt seinen Löffel zwischen den Fingern. »Es kommen immer mehr Leute zu uns, die eigentlich gar nicht so interessiert sind an der Politik.« Auf seinem Gesicht flackert Stolz auf. »Wir sind mittlerweile die erste Anlaufstelle für junge Leute, die gehen nicht mehr zur FPÖ, wenn sie was verändern wollen, die kommen direkt zu uns.« Hintsteiner selbst hat sich den Identitären angeschlossen, nachdem er beim Ring Freiheitlicher Jugend, der Vorfeldorganisation der FPÖ, aktiv war.
»Ein paar Dinge solltest du wissen über uns: Wir sind nicht wie die alten Nazis, wir sind Ethnopluralisten.«
Am Tisch gegenüber sitzt ein schwules Pärchen. Das Gespräch der beiden bricht abrupt ab. Voller Scham, mit einem der Anführer einer offen homophoben Bewegung gesehen zu werden, senke ich die Stimme und wiederhole: »Ethnopluralisten …«
»Genau.« Edwin bemüht sich nicht, leise zu sprechen. »Für uns heißt Identität sowohl Kultur als auch Volkszugehörigkeit. Wenn man verhindern will, dass die europäische Zivilisation ethnisch und kulturell ersetzt wird, gibt es nur einen einzigen Weg: Die Einwanderer draußen halten«, erklärt er. Gemäß dem eigenen Leitbild ist es Ziel der Identitären Bewegung, homogene Gesellschaften zu schaffen, also Gesellschaften, in denen sich unterschiedliche Rassen und Kulturen nicht vermischen. Der erste Schritt für die Identitären wäre die Schließung jeglicher Grenzen. Das aber wäre für sie nicht genug. Da sie Migrantinnen und Migranten als Bedrohung 38wahrnehmen – auch die, die längst da sind –, wollen sie Einwanderer in einem zweiten Schritt in ihre jeweiligen Heimatländer zurückschicken. Das betrifft selbst die, die in zweiter und dritter Generation im Land leben und die Staatsbürgerschaft haben.
Die Identitäre Bewegung entstand aus dem Bloc Identitaire, einer 2002 von Sympathisanten des Antizionismus und des Nationalbolschewismus in Nizza gegründeten französisch-nationalistischen Gruppierung. Zehn Jahre später bildete sich innerhalb dieser Gruppierung der junge Flügel Génération Identitaire und dehnte sich sehr schnell auf Österreich, Deutschland, Italien und andere europäische Länder aus. Heute ist ›Generation Identity‹ das europäische Pendant zur US-amerikanischen Alt-Right-Bewegung und fungiert als Mittler zwischen europäischen und amerikanischen Rechten. Martin Sellner, der früher selbst ein Neonazi war, ist in Europa und den USA zur bekanntesten Figur der Identitären geworden. In einem Versuch, sich als Marke neu aufzustellen, distanzierte Sellner sich von seinem früheren Mentor Gottfried Küssel, einem notorischen Holocaustleugner. Heute spricht Sellner von seinem Wunsch, Europas kulturelle und ethnische Identität bewahren zu wollen, wobei er aber nicht »Rassentrennung« oder »Apartheid« sagt, sondern Begriffe wie »Ethnopluralismus« verwendet. Er trägt auch keine Springerstiefel und Hakenkreuz-Tattoos, sondern Ray Ban und T-Shirt. ...