Da Armut in seinem Wesen mehrdeutig und komplexer Struktur ist, kann sie auch nicht durchgehend und universell mit gleichen Mitteln gemessen werden. Die Qualität der Armutsmessung hängt – genau wie die Qualität der Armutsdefinition – von der Auswahl differenzierter und möglichst der Definition entsprechend adäquater Mittel zur Messung ab. Eine umfassende Armutsmessung bedarf zudem auch vielschichtiger Meßmethoden.
Gängige wissenschaftliche Methoden zur Erhebung von Armutszahlen sind Querschnitts- und Stichtagserhebungen (vgl. Buhr 1995, S.73). Auch die Zahlen der amtlichen deutschen Sozialhilfestatistik haben ihre Hauptgrundlage in Querschnittmessungen. Solche Messungen berücksichtigen kaum oder gar nicht die Dauer der Armut, sondern beschränken sich auf die Messung der Armuts-Höhe und der Anzahl der Armen. „Das bedeutet, dass auf dieser Datengrundlage gar keine Aussagen über das Ende bzw. die Gesamtsdauer des Sozialhilfebezugs gemacht werden können und die Dauer vermutlich immer unterschätzt wird. Oft wird nur der letzte Bezugszeitraum beobachtet und vorangehende Armutsepisoden kommen nicht in Betracht. Außerdem werden solche Untersuchungen nur stichprobenartig für eine ausgewählte Personengruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt angewendet und ausgewertet (vgl. Buhr 1995, S.65f.). Durch diese stichpunktartige Erhebung kommt es allerdings dazu, dass Langzeitarme (die ja länger und öfter erhoben werden können) überrepräsentiert sind und der Langzeitbezug damit überschätzt wird (vgl. Buhr 1995 S.66). „Eine Querschnittsuntersuchung ist also nicht repräsentativ für die Erfahrung derer, die mit Sozialhilfe oder Armut in Berührung kommen.“ (Buhr 1995, S.67) Es wäre falsch, von den Merkmalen aktueller Sozialhilfebezieher auf andere Gruppen von Hilfeempfängern zu verallgemeinern (vgl. Buhr 1995, S.67). Allerdings eignen sich solche Querschnitt- oder Stichprobenuntersuchungen dazu, „... die aktuelle, fiskalische und administrative Belastung aufzuzeigen.“ (Buhr 1995, S.67)
Eine weitere Methode zur Erhebung wissenschaftlicher Daten sind Längsschnittanalysen, die in Deutschland erst seit Ende der 90iger Jahre für die Armuts- und Sozialhilfeuntersuchungen benutzt werden (vgl. Buhr 1995, S 68) und bei denen unter anderem die Fluktuationen der Armutsbevölkerung sichtbar werden. Hier kommt es zu einer Untersuchung derselben Personen über einen längeren Zeitraum (vgl. Buhr 1995, S.66). Im Vordergrund stehen die Betroffenheit von Armut innerhalb eines bestimmten Zeitraums oder „...die Analyse der Mobilität zwischen verschiedenen Einkommenspositionen, nicht aber die Dauer einzelner Armutsepisoden.“ (Buhr 1995, S.69) Die Untersuchungen zeigen im allgemeinen mehr als vermutet Personen, die mindestens einmal von Armut betroffen sind, immer in Abhängigkeit der dafür angesetzten Armutsgrenze. Langzeitarmut stellt sich in Längsschnittanalysen allerdings eher unterrepräsentiert dar (vgl. Buhr 1995, S.69). Es existieren auch Armutsstudien, die überwiegend biographisch ausgerichtet sind. Solche Studien sind „...begrenzte Fallstudien zu besonderen Problemgruppen, wie Obdachlose und Nichtsesshafte.“ (Buhr 1995, S.72) Andere Armutstypen, als die für die Studie spezifische, werden dabei nicht betrachtet. Dabei geht es primär um die Frage nach der Entstehung und der Verfestigung von Armut im Laufe des Lebens und die Gruppenspezifität von Armut (vgl. Buhr 1995, S.72).
Wo Armut anfängt und an welcher Stelle die Grenze zwischen arm und reich zu setzen ist, kann mittels der Armutsgrenze gekennzeichnet werden. In der Bundesrepublik ist die Armutsgrenze gleichbedeutend mit der Sozialhilfegrenze, die das Mindestmaß des, zum Lebensunterhalt nötigen Einkommens darstellt (vgl. Krämer 2000, S.27). Damit wird Armut als absolut definiert. Die Armutsgrenze wird oftmals an der 50%-Grenze gesetzt. Das bedeutet, dass derjenige arm ist, dessen durchschnittliches Nettoeinkommen unter 50% des vergleichbaren durchschnittlichen Einkommens des entsprechenden Landes liegt. Es existieren des weiteren Grenzwerte von 40% und 60%, unter denen sich bei der Auswertung der erhobenen Daten entschieden werden muss. Durch die Verwendung dieser Ober- und Untergrenzen (relative Einkommensgrenzen) können Strukturen der Ungleichheit im unteren Einkommensbereich verdeutlicht und armutnahe Gruppen in die Betrachtung einbezogen werden. „Unter den zahllosen möglichen relativen Armutsgrenzen muss durch Festsetzung der relevanten Prozentsätze des Durchschnittseinkommens eine Auswahl getroffen werden.“ (Hauser u.a. in Krämer 2000, S.32) Der mittlere Wert gilt sozusagen als Kompromisslösung, um die Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit zu erhöhen und bietet politische Erklärungsmöglichkeiten, denn „...so bleibt die Existenzberechtigung unserer professionellen Armutsfeuerwehr in allen Ewigkeiten festgeschrieben (man kann immer Vergleichsgruppen bestimmen, so dass die eigene Klientel weniger als die Hälfte des Durchschnitts der Vergleichsgruppe bekommt)...“ (Krämer 2000, S.33).
Neben dieser 50%-Regel und anderen politischen Armutsbestimmungen sind noch drei weitere Ansätze zur Festlegung der Armutsgrenze zu nennen (vgl. Krämer 2000, S.33ff.).
Der indirekte politische Ansatz über „Engelkurven“ (nach Engel 1895)
Engelkurven messen Ausgaben für Nahrungsmittel als Funktion des Haushaltseinkommens. Je mehr Einkommen existiert, umso mehr davon wird für Nahrung aufgewendet. Dieser Teil des Einkommens ist der Indikator für Wohlfahrt. Wenn der Nahrungsmittelquotient einen bestimmten festgesetzten politischen Wert übersteigt, so ist der Haushalt arm.
Der indirekte politische Ansatz über soziale Wohlfahrtsfunktionen
„Leyden Poverty Line“
Wohlfahrt ist das Ausmaß der Bedürfnisbefriedigung. Die Armutsbestimmung über Wohlfahrtsfunktionen bedeutet also die Messung am Nutzen des Einkommens für die Bedürfnisbefriedigung. Je nach Haushaltstyp wird die sogenannte „Leyden Poverty Line“ bestimmt. Die Haushaltvorstände werden nach dem subjektiven Nutzen des Einkommens gefragt – so zum Beispiel: „Welches Netto-Haushaltseinkommen halten sie, unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Umstände, für sehr niedrig? Niedrig? Nicht ganz ausreichend? Ausreichend? Gut? Sehr gut?“ (Krämer 2000, S.36). Die daraus entstehende Kurve aus Nutzen und Einkommenshöhe ist die Leyden-Poverty-Line. Wenn sie unterschritten ist, dann ist auch der Nutzen des Einkommens unterschritten. Diese Kurve hat nicht nur subjektiven Charakter, sondern trägt auch politischen Entscheidungen Rechnung, nämlich,“... welches Nutzniveau nicht unterschritten werden sollte.“ (Krämer 2000, S.36)
Die subjektive Armutsgrenze von Goedhart u.a. (1977)
Diese Grenze beruht auf der familien- und personenspezifischen subjektiven Einschätzung des Minimaleinkommens, das für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist. Dabei werden Familien der gleichen Art betrachtet, die sich nur hinsichtlich ihres Einkommens unterscheiden. Je nach Familie wird mit wachsendem Einkommen auch ein höheres subjektiv empfundenes Minimaleinkommen angeben. Aus diesen Angaben entsteht eine Kurve aus tatsächlichem Einkommen und subjektiven Minimaleinkommen. „Unterhalb dieser Grenze haben Familien subjektiv den Eindruck eines Mangels, oberhalb dieser Grenze haben Familien subjektiv den Eindruck eines Überflusses.“ (Krämer 2000, S.34)
Die genannten Beispiele beschreiben Möglichkeiten zur Bestimmung der Armutsgrenze.
Außer der Chance, zu bestimmen, ob jemand arm ist oder nicht, besteht die Notwendigkeit, über Armutsquoten Schlussfolgerungen über den Anteil bzw. die Zahl der, von „Armut betroffenen Personen oder Haushalte.“ (Hauser/Cremer-Schäfer/Nouvertné 1986, S.85) zu ermöglichen. Sie machen aber keine Aussage über das Ausmaß der Armut bei den davon Betroffenen. Dieses Ausmaß lässt sich nur über die Armutslücke (auch: poverty gap, income gap oder income deficit) und den Armutsgrad (auch: degree of poverty) kennzeichnen. „Die Armutslücke eines Haushaltes (...) gibt an, welcher Betrag aufgewendet werden müsste, um diesen Haushalt auf seine spezifische Armutsgrenze anzuheben. (...) Zur Beantwortung der Frage, welcher von zwei Haushalten der ärmere sei, dient der jeweilige Armutsgrad. Er gibt an, um wie viel das tatsächliche Haushaltseinkommen unterhalb der spezifischen Armutsgrenze liegt.“ (Hauser/Cremer-Schäfer/Nouvertné 1986, S.85) Die Werte können zwischen 0% und 100% liegen. Ein höherer Armutsgrad bedeutet größere Armut (vgl. Hauser/Cremer-Schäfer/Nouvertné 1986, S.85).
Bedürftige können allgemein als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft bezeichnet werden und müssen ihr Einkommen und Vermögen voll füreinander einsetzen. Grundsätzlich zählen dazu alle, die der gesteigerten Unterhaltspflicht unterliegen und in einem Haushalt zusammenleben (vgl. § 11 Abs. 1 BSHG). Das heißt: „Ehegatten untereinander, wenn sie beide sozialhilfebedürftig sind und nicht getrennt leben, sowie Eltern oder Alleinerziehende, wenn sie mit ihren minderjährigen Kindern...